Die SAV und die Genossenschaftsfrage (Teil 2 von 2)
Hanns Graaf
Die Kritik Luxemburgs an Bernstein
Autor Claus Ludwig bezieht sich positiv auf die Kritik Rosa Luxemburgs an Bernstein in ihrem Werk „Sozialreform oder Revolution“. Er zitiert: „Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung.“
Wie meist in der radikalen Linken üblich, wird auch von Ludwig kein Versuch unternommen, sich Luxemburgs Anti-Bernstein-Argumentation kritisch zu nähern oder sich gar mit Bernsteins Text genauer zu befassen (oder ihn überhaupt zu lesen?).
Dabei liegt Luxemburg schon daneben, wenn sie meint, dass in der kapitalistischen Wirtschaft der Austausch die Produktion beherrsche. Zwar ist unstrittig, dass der Austausch bzw. die Konkurrenz auf die Produktion einwirken, schließlich produziert jeder Kapitalist nicht einfach Gebrauchsgüter, sondern Waren, deren Wert sich erst im Austausch (Verkauf) als Gewinn realisieren kann. Doch wie jede Produktion wird auch die kapitalistische letztlich von den Bedürfnissen (wie immer diese gesellschaftlich geprägt sind) bestimmt. Was in den Austausch tritt, die Ware, ist aber zunächst primär durch die Produktion bestimmt: sowohl hinsichtlich des Wertes, als auch hinsichtlich des Gebrauchswerts. Der Austausch resp. die Bedürfnisse (an Gebrauchswerten) würden dann tatsächlich die Produktion bestimmen, wenn es eine demokratische gesellschaftliche Planung durch ProduzentInnen (v.a. die Arbeiterklasse) und KonsumentInnen gäbe – im Kommunismus.
Eine entscheidende Triebkraft des Kapitalismus ist die permanente technische Verbesserung der Produktion und der Produkte. Diese ergibt sich – vermittelt über die Konkurrenz – aus den Bedürfnissen der Konsumtion wie denen des Produktionsprozesses. Marx betont mehrfach explizit, dass im Kapitalismus die Produktion (von Profit) über die Konsumtion und also die Produzenten (die Produktionsmitteleigner) über die KonsumentInnen herrschen. Deshalb ginge es nach Marx im Kommunismus eben gerade darum, diese Relation wieder umzukehren, so dass die frei entfalteten Bedürfnisse zum Agens der Gesellschaft werden.
Mit ihrer These von der Dominanz des Austauschs will Luxemburg zeigen, dass der Umstand, dass die genossenschaftlichen Inseln sich im Meer des Kapitalismus befinden, dazu führe, dass der Austausch resp. die Konkurrenz die Genossenschaften ruinieren müsse: “Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.“
Würde diese Einschätzung Luxemburgs stimmen, müsste sich diese Tendenz von permanent zunehmender Arbeitslosigkeit durch die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals (c steigt, v fällt) dahingehend auswirken, dass auch die „normale“ kapitalistische Ökonomie davon geprägt wäre. D.h. nicht nur die genossenschaftlichen Unternehmen würden pleite gehen, sondern auch die privaten. Das ist jedoch als Trend in über 150 Jahren nach Erscheinen von Marx´ Kapital nicht erkennbar. Weder ist von einer – im historischen Sinn – Zunahme der Arbeitslosigkeit noch von einer zunehmenden absoluten Verelendung etwas zu sehen.
Sicher hat Luxemburg insofern recht, als viele genossenschaftliche Unternehmen sich tatsächlich zu „kapitalistischen Unternehmung rückentwickeln“ oder scheitern. Doch niemand hat je behauptet, dass Genossenschaften dieser Gefahr entgehen könnten. Zudem übersieht Luxemburg jegliche Faktoren, welche genossenschaftliche Unternehmen gegenüber privaten ökonomisch bevorteilen. Marx hingegen hat solche Vorteile durchaus eingeräumt, ohne daraus jedoch vorschnell grundsätzliche Folgerungen abzuleiten. So schreibt er: „Aus den öffentlichen Rechnungsablagen der Kooperativfabriken in England sieht man, dass – nach Abzug des Lohns des Dirigenten, der einen Teil des ausgelegten variablen Kapitals bildet, ganz wie der Lohn der übrigen Arbeiter – der Profit größer war als der Durchschnittsprofit, obgleich sie stellenweise einen viel höheren Zins zahlten als die Privatfabrikanten. Die Ursache des höheren Profits war in allen diesen Fällen größere Ökonomie in Anwendung des konstanten Kapitals.“ (Marx, Kapital III, MEW 25, 401f)
Wie fast alle marxistischen KommentatorInnen nach ihr unterlässt es auch Luxemburg, sich genauer mit der Genossenschaftsfrage zu befassen und sich ernsthaft mit der Position Bernsteins in dieser Frage auseinander zu setzen – so richtig die grundsätzlichen Kritiken Kautskys und Luxemburgs an seinem durchaus reformistischen Gesamtkonzept sind. Ohne Frage haben sie dabei aber auch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Bernstein zu den Genossenschaften
Das, was Eduard Bernstein in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ 1899 bezüglich der Bedeutung der Genossenschaften geschrieben hat, ist vielen MarxistInnen tatsächlich unbekannt, weil sie offenbar glauben, eine Kritik zu lesen, würde die Kenntnis des Kritisierten erübrigen. Schauen wir uns deshalb an, was Bernsteins Positionen und Argumente waren.
Im Abschnitt „Die Leistungsfähigkeit der Wirthschaftsgenossenschaften“ stellt Bernstein zunächst fest: „Die Frage der Leistungsfähigkeit der Genossenschaften ist in der marxistischen Literatur bisher nur sehr flüchtig behandelt worden. Sieht man von der Literatur der sechziger Jahre und einigen Aufsätzen Kautskys ab, so wird man außer sehr allgemeinen, zumeist negativen Aeußerungen wenig über das Genossenschaftswesen darin finden.“
Bernstein führt verschiedene Gründe dafür an, darunter diesen: „Zunächst ist die marxistische Praxis vorwiegend politisch, auf die Eroberung der politischen Macht gerichtet, und legt daneben fast nur noch der gewerkschaftlichen Bewegung, als einer direkten Form des Klassenkampfes der Arbeiter, prinzipielle Bedeutung bei.“
Bezüglich der Position von Marx zu den Genossenschaften stellt Bernstein u.a. fest: „Für den Umstand, daß es bei Marx an einer tiefergreifenden Kritik der Genossenschaft fehlt, sind zwei Umstände verantwortlich. Erstens waren, als er schrieb, nicht hinreichend Erfahrungen mit den verschiedenen Formen der Genossenschaften gemacht, daß sich auf Grund dieser ein Urtheil hätte formuliren lassen. Lediglich die, einer noch früheren Periode angehörenden Austauschbazars hatten sich als völlig verfehlt erwiesen. Zweitens aber stand Marx den Genossenschaften überhaupt nicht mit derjenigen theoretischen Unbefangenheit gegenüber, die seinem theoretischen Scharfblick erlaubt hätte, weiter zu blicken als der Durchschnittssozialist, der sich mit solchen Merkmalen wie Arbeiter- und Kleinmeistergenossenschaften begnügte. Hier stand seiner großen Kraft der Analyse die schon ausgebildete Doktrin oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Formel der Expropriation im Wege. Die Genossenschaft war ihm nur in derjenigen Form sympathisch, wo sie den direktesten Gegensatz gegen das kapitalistische Unternehmen darstellte. Daher die Empfehlung an die Arbeiter, sich auf Produktivgenossenschaften zu verlegen, weil diese das bestehende ökonomische System ´in seinen Grundfesten angreifen´.“
Weiter geht Bernstein auf die Erfahrungen mit den Genossenschaften und deren theoretische Verarbeitung durch sozialistische AutorInnen ein, die wir hier aber nicht näher betrachten wollen. Erwähnenswert ist aber zumindest, dass Bernstein auf die grundsätzlichen Arbeiten zum Genossenschaftswesen von Beatrice Webb und Franz Oppenheimer verweist. Sie konnten im Unterschied zu Marx weit mehr empirische Fakten berücksichtigen und sich daher viel detaillierter zur Problematik äußern. Mit vollem Recht konstatiert Bernstein daher, dass der Marxismus sich intensiver mit der Genossenschaftsfrage befassen müsse. Diese Aufgabe ist bis heute nicht ernsthaft in Angriff genommen, geschweige denn bewältigt worden.
Bernstein wagt jedoch ein Fazit: „Um aber auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, der uns zu dieser Abschweifung auf das Gebiet der Theorie der Genossenschaften geführt hat, so hat sich soviel gezeigt, daß die Voraussetzung, die moderne Fabrik erzeuge durch sich selbst eine größere Disposition für die genossenschaftliche Arbeit, als ganz irrig zu betrachten ist. Man greife, welche Geschichte des Genossenschaftswesens man will, heraus, und man wird überall finden, daß sich die selbstregierende genossenschaftliche Fabrik als unlösbares Problem herausgestellt hat“.
Interessant ist hier nun, dass für Bernstein die Ursache des Dilemmas von Produktivgenossenschaften nicht etwa nur oder v.a. eine rein ökonomische ist, sondern eher eine des Bewusstseins: „Für außergewöhnliche Zwecke mag es angehen, daß Menschen ihre unmittelbaren Leiter selbst ernennen und das Recht der Absetzung haben. Aber für die Aufgaben, welche die Leitung eines Fabrikunternehmens mit sich bringt, wo Tag für Tag und Stunde für Stunde prosaische Bestimmungen zu treffen sind und immer Gelegenheit zu Reibereien gegeben ist, da geht es einfach nicht, daß der Leiter der Angestellte der Geleiteten, in seiner Stellung von ihrer Gunst und ihrer üblen Laune abhängig sein soll. Noch immer hat sich das auf die Dauer als unhaltbar erwiesen und zur Veränderung der Formen der genossenschaftlichen Fabrik geführt. Kurz, wenn die technologische Entwicklung der Fabrik auch die Körper für die kollektivistische Produktion geliefert hat, so hat sie die Seelen keineswegs in gleichem Maße dem genossenschaftlichen Betrieb näher geführt. Der Drang zur Uebernahme der Unternehmungen in genossenschaftlichen Betrieb mit entsprechender Verantwortung und Risiko steht im umgekehrten Verhältniß zu ihrer Größe.“
Bernstein geht jedoch mit keinem Wort darauf ein, wie dieses Bewusstseins-Dilemma gelöst werden könnte. In seinen Ausführungen spiegelt sich allerdings die gerade in der deutschen Sozialdemokratie besonders ausgeprägte Unterschätzung der Frage der Selbstorganisation des Proletariats wider.
Kapitalmangel: unüberwindbare Hürde?
Claus Ludwig stellt – wie viele MarxistInnen – die These auf, dass es dem Proletariat an Kapital mangele, einen relevanten genossenschaftlichen Sektor aufzubauen. Auch Bernstein nimmt diese Frage auf. Er schreibt: „Die britischen Genossenschaften haben heute schon die hundert Millionen Thaler und mehr (…) als Vermögen im Besitz, die Lassalle als Staatskredit für die Durchführung seines Assoziationsplans als genügend erachtete. Im Verhältniß zum britischen Nationalvermögen ist das immer noch ein kleiner Bruchtheil (…), erst der vierhundertste Theil des Nationalkapitals. Aber es erschöpft bei Weitem nicht die Kapitalmacht der britischen Arbeiter. Und dann ist es in stetem Wachsthum. In den zehn Jahren von 1887 bis 1897 hat es sich nahezu verdoppelt, es ist stärker gewachsen wie die Mitgliederzahl. Diese stieg von 851.211 auf 1.468.955, das Vermögen von 11,5 Millionen auf 20,4 Millionen Pfund Sterling. Noch rascher nimmt neuerdings die Produktion der Genossenschaften zu. Ihr Werth belief sich im Jahre 1894 erst auf insgesammt 99 Millionen Mark und 1897 schon auf fast das Doppelte, nämlich 187 Millionen Mark. Davon kamen nahezu zwei Drittel auf Eigenproduktion von Einkaufsgenossenschaften, während sich das dritte Drittel auf allerhand Genossenschaften vertheilte, von denen ein großer Bruchtheil nur modifizirte Einkaufsgenossenschaften oder Produzenten für solche waren bezw. sind. Die Eigenproduktion der Konsum- bezw. Einkaufsgenossenschaften hat sich in den drei Jahren mehr als verdoppelt, sie stieg von 52 auf 122 Millionen im Werthe.“
Bernstein folgert, nachdem er etliche statistische Belege angeführt hat, „daß die Konsumgenossenschaft sich schon jetzt als eine ökonomische Kraft von Bedeutung erwiesen hat“.
Interessanterweise stehen diese Einschätzung und deren empirische Untermauerung im Kontrast zur Einschätzung von Marx, der eher auf Produktions- als auf Konsumgenossenschaften setzte.
Die These von der mangelnden Kapitalkraft des Proletariats müsste heute umso mehr hinterfragt werden, als die finanziellen Möglichkeiten der Arbeiterklasse (zumindest in den hoch entwickelten Ländern) weit größer sind als im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Insofern stellt sich also heute die Frage des Kapitalmangels weit weniger als früher. Das stellt auch Bernstein fest: „die finanziellen Mittel allein lösen das Problem der genossenschaftlichen Arbeit noch nicht. Sie braucht, von anderen Voraussetzungen abgesehen, ihre eigenen Organisationen und ihre eigenen Leiter, und beides improvisiert sich nicht. Beide müssen ausgesucht und erprobt werden“.
Diese, schwer von der Hand zu weisende Erkenntnis führt uns erneut zum Problem der Beziehung zwischen den Genossenschaften und der Arbeiterbewegung. Ob aus einzelnen genossenschaftlichen Projekten ein größeres System von Genossenschaften und Selbstverwaltungsstrukturen wird, hängt nämlich wesentlich davon ab, ob die Arbeiterbewegung und letztlich die gesamte Klasse sich dieser Frage annimmt bzw. mit welcher allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz – einer bürgerlichen oder einer revolutionär-kommunistischen – sie diese Aufgabe angeht. Auch Bernstein sieht den Erfolg des Genossenschaftswesens in gewissem Sinn anhängig vom Grad des Engagements der Sozialdemokratie. Nur sieht Bernstein diese Verbindung leider tendenziell im Widerspruch zur Revolution: „und darum ist es mehr wie zweifelhaft, ob ein Zeitpunkt, wo alle Gemüther erhitzt, alle Leidenschaften gespannt sind, wie in einer Revolution, der Lösung dieses Problems, das sich schon in gewöhnlichen Zeiten für so schwer erweist, irgendwie förderlich sein kann.“
Hinsichtlich der Strukturen des Genossenschaftswesens zieht Bernstein aus den historischen Erfahrungen folgenden Schluss: „Lebensfähig haben sich die Produktionsgenossenschaften bisher aber nur da erwiesen, wo sie in Konsumvereinen einen Rückhalt hatten oder sich selbst in ihrer Organisation dieser Form näherten. Dies giebt einen Fingerzeig, in welcher Richtung wir die am meisten Erfolg versprechende Weiterausbildung der Arbeitergenossenschaft für die nächste Zukunft zu suchen haben.“
Zusammenfassend können wir sagen, dass Luxemburg in ihrer Kritik an Bernstein bezüglich der Genossenschaften betont, dass diese bestenfalls eine Nebenrolle spielen oder sich sogar als Sackgasse erweisen und vom Ziel der Revolution ablenken. Bernstein hingegen betont die wichtige – wenn auch nicht alleinige – Rolle der Genossenschaften für den Sozialismus und die Emanzipation des Proletariats. Allerdings spricht das für ihn gegen eine (hauptsächliche) Orientierung auf die Revolution und für einen langsamen Übergang durch Reformen.
Beide Positionen erweisen sich im historischen Rückblick als einseitig. Ohne Frage spricht für Luxemburg die Tatsache, dass nur wenige Jahre nach dem Streit zwischen ihr und Bernstein der Ausbruch des 1. Weltkriegs und die Revolutionen in Russland und in Deutschland sowie die Jahre zugespitzter Klassenkämpfe in Deutschland u.a. Ländern (Spanien, Frankreich, China …) in den 1920ern und 30ern. Für Bernsteins Auffassung kann u.a. ins Feld geführt werden, dass die Russische Revolution u.a. durch die völlige Ignoranz der Bolschewiki gegenüber den Genossenschaften zum Stalinismus entartete.
Insofern kommt der Aufforderung Eduard Bernsteins, dass sich der Marxismus der Genossenschaftsfrage endlich ernsthaft widmen solle, besondere Bedeutung bei.
Die Position Thalheimers
Nach der positiven Bezugnahme auf Luxemburgs Position zu den Genossenschaften geht Claus Ludwig auch auf August Thalheimers Ansichten dazu ein. Dieser wird wie folgt zitiert: Die Arbeitergenossenschaften „können, auch rein qualitativ betrachtet, die grundlegenden Gesetze des Kapitalismus nicht durchbrechen, sie benutzen sie vielmehr, um in eng beschränkten Grenzen sie zugunsten der Arbeiterklasse wirken zu lassen. Die Konsumgenossenschaft (…), was tut sie anderes, als die Gesetze des Handelsprofits zugunsten eines Teiles der Arbeiterklasse spielen zu lassen? Die Gesetze des Handelsprofits aber, die die Voraussetzung für die Wirksamkeit der Konsumvereine sind, sind kapitalistisch bestimmt. Die Konsumgenossenschaften können diese Gesetze nicht aufheben, und sie können sich ihrer Wirksamkeit nicht entziehen.“ (Über die sogenannte Wirtschafts-Demokratie, 1928)
Doch diese Argumente Thalheimers, der an sich kein Gegner von Genossenschaften und zumindest den Konsumgenossenschaften gegenüber positiv eingestellt war, besagen lediglich, dass die Genossenschaften kein Instrument sind, um die kapitalistische Produktionsweise insgesamt (vor der Revolution) überwinden zu können. Daneben ist zu bemängeln, dass der Verweis Ludwigs auf Thalheimer wieder nur die ökonomische Ebene im Blick hat und die politische und soziale ausblendet.
Der Handelsbereich
Am Beispiel des Handels glaubt Ludwig zeigen zu können, dass die Genossenschaften unter den heutigen Bedingungen der starken Konzentration und Zentralisation des Kapitals keine Chance hätten und nur Relikte aus früheren Zeiten wären. Er schreibt: „Die Konsumgenossenschaften (…) konnten so lange gut funktionieren, so lange der Einzelhandel noch Einzelhandel war, d.h., kleinteilig und zersplittert, solange sie mit Kleinkapitalisten konkurrierten. Mit der Entstehung großer, kapitalkräftiger Warenhausketten wurde das Ende der Blütezeit der Konsumgenossenschaften eingeleitet. Der Aufstieg der Lebensmitteldiscounter wie ALDI und Lidl hat diese Entwicklung vertieft.“
Mit der Formulierung „wurde eingeleitet“ suggeriert Ludwig einen quasi automatischen, alternativlosen Prozess. Er übersieht, dass der Hauptgrund für den Niedergang der Konsumgenossenschaften eben kein ökonomischer war, sondern das Versagen der (reformistischen) Arbeiterbewegung, die kleinen Genossenschaftslädchen zu einem Großunternehmen zu verbinden. Das wäre mit den Gewerkschaften und der SPD und ihren Abermillionen Mitgliedern und WählerInnen im Rücken sogar noch wesentlich leichter gewesen als für Unternehmen wie Aldi oder Lidl, die ja viele Jahre brauchten, um den Sprung vom Laden zum Konzern zu schaffen. Allein: Die reformistisch verfasste Arbeiterbewegung wollte das nicht. Sogar dort, wo sie es getan hat, z.B. in Gestalt des gewerkschaftseigenen Immobilienunternehmens Neue Heimat (dem größten seiner Art in Europa), wurde die Sache ruiniert – ohne dass es dafür einen ökonomischen Grund gegeben hätte.
Um seine These von der ökonomische Unvermeidlichkeit des Untergangs der Genossenschaften im Handel zu stützen, führt Ludwig an: „Das Kapital der Genossenschaften jeder Art basiert theoretisch auf der verfügbaren Gesamtsumme der Löhne. Da die Löhne im Vergleich zum angehäuften Kapital der Kapitalisten jedoch sinken, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Genossenschaften wachsen und sich auf dem Markt behaupten können.“
Das ist falsch! Das Kapital der Genossenschaften beruht nicht (nur) auf der Summe der Löhne (der KundInnen), sondern auch – und wesentlich – auf den Erträgen (Umsätzen bzw. Gewinnen) des Unternehmens. Darin unterscheiden sie sich auch nicht grundsätzlich von Privatunternehmen. Ein Unterschied – den selbst Ludwig an anderer Stelle einräumt – besteht lediglich darin, dass bei einer Genossenschaft weniger vom Mehrprodukt als (persönlicher) Profit für den Eigentümer oder die Shareholder abgezwackt wird, so dass die Genossenschaft einen, wenn auch kleinen Vorteil am Markt hat. Eine weitere wesentliche Rolle spielt auch noch, dass ein nicht unerheblicher Teil der Profite von ALDI und Co. dafür eingesetzt wird, um in andere Länder zu expandieren. Das kann sich ein genossenschaftliches Unternehmen sparen, wenn es mit Genossenschaften in anderen Ländern kooperiert. Gerade da waren die „Bemühungen“ Seitens der Genossenschaften und der Reformisten gleich Null. Es ist in der Tat absurd zu sehen, dass „MarxistInnen“ wie ReformistInnen zu recht betont haben, dass das Kapital sich tendenziell immer mehr konzentriert, zentralisiert und internationalisiert, sie selbst aber für „ihre“ Genossenschaften diese Erkenntnis vergessen.
Auch Ludwigs Satz, dass „die Löhne im Vergleich zum angehäuften Kapital der Kapitalisten (…) sinken“, geht als Argument fehl. Das riesige Kapital der Handelskonzerne ist v.a. Ergebnis ihrer Expansion, d.h. ihres größeren Marktanteils. Ludwig sagt damit eigentlich nur, dass die Expansion Grundlage ihrer Expansion ist – ein Zirkelschluss! Natürlich wäre auch das verfügbare Kapital eines genossenschaftlichen Handelsunternehmens viel größer, wenn es expandiert hätte. Doch das Argument der Größe des Kapitals hält auch einer empirischen Überprüfung nicht stand. Schließlich haben viele (oder sogar die meisten?) bekannten deutschen Handelskonzerne als kleine Tante-Emma-Läden begonnen, die nicht auf größere externe Kapitalmengen zugreifen konnten. Auch heute noch, da der Einzelhandel extrem monopolisiert ist, gelingt es noch, dass kleine Firmen groß werden. Als Beispiele sei hier die Drogeriekette DM angeführt, oder die vielen Öko-Läden, die sich einen Marktanteil sichern konnten. Selbst die zahlreichen Späti-Läden in den Großstädten zeigen, dass sich neue Unternehmen im von Konzernen beherrschten Handel etablieren können – was nicht heißt, dass die Spätis ein Vorbild für Genossenschaften sein müssen.
Die Wohnungsgenossenschaften
Breiten Raum in Ludwigs Artikel nimmt der Bereich von Genossenschaften im Bereich Wohnen ein. Er stellt richtig fest: „Angesichts des Quasi-Zusammenbruchs des sozialen Wohnungsbaus und des zunehmenden Mangels an bezahlbaren Wohnungen in vielen Städten und Regionen des Landes stellt sich die Frage, ob Wohnungsgenossenschaften als Bremse gegen diese Entwicklung wirken und sogar der Motor für die Bereitstellung günstiger Wohnungen sein können.
Im Unterschied zu Produktionsgenossenschaften spielen Wohnungsgenossenschaften eine größere Rolle in der Gesellschaft und sind ein stabilerer Faktor. Diese Unterschiede basieren auf den Besonderheiten der Profit-Erzeugung im Immobiliensektor, die im wesentlichen auf dem Besitz an Grund und Boden beruht. Haben sich die ursprünglichen Investitionen – Grundstückskauf, Bau – amortisiert, ist der Zwang, konkurrenzfähig zu sein, recht gering.
Im Ergebnis unterliegen die Wohnungsgenossenschaften anders als Produktionsbetriebe nicht einem permanenten Konkurrenzdruck und müssen nicht beständig die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft intensivieren. (…) Heute gibt es über 2.000 Wohnungsgenossenschaften mit rund zwei Millionen Wohnungen, bei einem Gesamtbestand von 40,5 Mio. Wohnungen. In Berlin alleine gibt es 188.000 Genossenschaftswohnungen, elf Prozent aller Wohnungen.
Insofern helfen Wohnungsgenossenschaften, wenn auch nicht jede Einzelne, in der heutigen Bundesrepublik, den Mietanstieg etwas zu bremsen, indem sie ein relativ großes Kontingent an zumindest nicht überdurchschnittlich teuren Wohnungen anbieten. Dass diese bremsende Wirkung auf die Gesamtzahl der Wohnungen bezogen nicht allzu groß ist, zeigt ein Blick auf die täglichen Pressemeldungen über steigende Mieten.“
Ludwig stellt nun aber nicht die Frage, wie der genossenschaftliche Sektor im Wohnungsbereich ausgeweitet werden kann; rein ökonomisch sollte das ja angesichts von Wohnungsknappheit in den Großstädten und steigenden Mietpreisen kein Problem sein. Doch das Gegenteil ist der Fall: ihr Einfluss nimmt ab. Er konstatiert diesen Negativtrend nur und benennt einige Gründe dafür, u.a. führt er, die Junge Welt zitierend, an: „Doch mittlerweile agieren die meisten Wohnungsbaugenossenschaften als „normale“ Akteure auf dem Wohnungsmarkt und streben marktübliche Renditen an. Wohnen wird auch in Genossenschaften immer teurer (…) Längst orientierten sich die meisten Genossenschaften an ortsüblichen Vergleichsmieten statt an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder. Enorme Preissprünge bei Neuvermietungen seien ebenso an der Tagesordnung, wie Luxusmodernisierungen, Neubauten im oberen Preissegment und die Verdrängung von einkommensschwachen Mietern, die bei Zahlungsverzug aus den Genossenschaften ausgeschlossen werden können und auf diese Weise ihr Wohnrecht verlören.“
Diese Schilderung verweist darauf, dass die Wohnungsgenossenschaften oft nur dem Namen nach wirkliche Genossenschaften sind, in denen die Mitglieder resp. MieterInnen kontrollieren und entscheiden. Noch ärger sieht es diesbezüglich bei den kommunalen Wohnunternehmen aus. Ludwig hätte hier genauer überlegen können, was Linke vorschlagen und wofür Linke kämpfen sollten, um den Charakter und den Einfluss der Wohnungsgenossenschaften zu verbessern. Doch Fehlanzeige! Stattdessen wird wieder das abgedroschene Argument vom fehlenden Kapital ins Feld geführt: „Die Genossenschaften müssten demnach aus eigener Kraft, in ihrer ursprünglichen Rolle als Selbsthilfe-Organisationen, aktiv werden. Eigene Kraft heißt aber vor allem eigenes Kapital. Dies würde allerdings vor dem Hintergrund von stark steigenden Grundstückspreisen stattfinden.“
Nun steht dem zum einen entgegen, dass die Immobilienpreise durchaus nicht überall gleich stark steigen und zum anderen, dass die steigenden Preise ein Problem für alle Akteure am Markt sind. Ludwig stellt selbst fest, dass auch die „Heuschrecken“ genannten Immobilien-Investoren „oftmals nicht wirklich genug Kapital (haben), um die großen Wohnungsbestände zu kaufen. Sie leihen sich das Geld und sind in der Lage, die Kreditkosten zu finanzieren, weil sie die Mieten nach oben treiben, die Häuser vernachlässigen und relativ schnell wieder verkaufen.“
Sicher geht es nicht darum, dass Genossenschaften genauso agieren wie die privaten Immobilien-Haie, doch selbst wenn sie nur etwas „sozialer“ handeln würden, hätte das einen positiven Effekt und es würde trotzdem ein – wenn auch kleinerer – Gewinn erwirtschaftet werden.
Beispiel Tempelhofer Feld
Allein der Bau von mehr Wohnungen und damit die Minderung der Wohnungsnot, die ja tw. darin besteht, dass Wohnungen, v.a. billige, fehlen, würde sich positiv auf die Mietpreise auswirken. Wenn die Linke – zumindest ein Teil von ihr – jedoch so handelt, wie im Fall des Tempelhofer Feldes in Berlin, dann braucht sich niemand zu wundern, dass nichts voran geht.
Worum ging es dort? Nach der Schließung des Flughafens Tempelhof in Berlin entstand die Möglichkeit, eine große und lukrative Innenstadtfläche zu bebauen. Eine Bürgerinitiative wollte dort Wohnungsbau, eine andere war strikt dagegen – die letztere setzte sich durch. Hier hätte eine breite Kampagne von der Linken dafür angeschoben werden müssen, dass die kommunale Fläche dem genossenschaftlich organisierten sozialen Wohnungsbau kostenlos oder billig zur Verfügung gestellt wird. Was ist aber nun das konkrete Ergebnis? Keine Wohnungen, kein Zusatzgeld für die Kommune und eine Brachfläche in bester Lage.
Das Beispiel zeigt besonders krass, wie wichtig es ist, den politischen und Klassenkampf mit dem Genossenschaftsgedanken zu verbinden. Dafür hätte es auch eines Kampfes gegen die Reformisten v.a. von der regierenden SPD im Berliner Senat bedurft, die mehr mit dem Bau- und Immobilienfilz und den gut dotierten Posten in den kommunalen Wohnungsgesellschaften verbandelt sind, als mit irgendwelchen Genossenschaftsideen und den Interessen der MieterInnen.
Perspektiven von Wohnungsgenossenschaften
Ludwig schreibt: „Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren nur wenig neue Genossenschaften gegründet wurden. Bei den neuen Genossenschaften handelt sich meistens auch nicht um große, klassische Genossenschaften, die neue Siedlungen hochziehen können oder wollen, sondern um begrenzte Gemeinschaften, die einzelne Häuser gemeinsam renovieren und beziehen wollen, Menschen, die, statt ein Häuschen im Vorort zu beziehen oder weiter hohe Mieten zu bezahlen, lieber neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt ausprobieren wollen. Das mag oft spannend oder erfüllend sein, hat aber wenig mit Wohnungsbaupolitik zu tun.“
Die Begrenzung ergibt sich doch aber v.a. daraus, dass die Linke und die Arbeiterbewegung, darunter v.a. die Gewerkschaften, überhaupt nichts dafür tun, den genossenschaftlichen Sektor auf- oder auszubauen. Dass es hingegen kleinen Gruppen von MieterInnen durchaus gelingt, ihr „alternatives Wohnprojekt“ neben und gegen den kapitalistisch organisierten Wohnungsmarkt zu realisieren, zeigt doch anschaulich, dass das Engagement eben nicht am fehlenden Kapital scheitern muss. Nicht zuletzt verweist die Tatsache, dass es viele solcher Projekte schon seit den 1960/70er Jahren gibt, die gut funktionieren, darauf, was möglich ist, wenn der Wille dafür da ist. Es ist bezeichnend, dass Ludwig auf diese Erfahrungen überhaupt nicht eingeht, sondern immer nur gebetsmühlenartig wiederholt, dass alles am fehlenden Kapital scheitern würde.
Diese grundsätzliche Skepsis gegenüber Wohnungsgenossenschaften und selbstverwalteten Wohnprojekten korrespondiert bei Ludwig zudem mit völlig reformistischen und von Illusionen in den Staat geprägten Vorstellungen: „Es sind umfassende Investitionen nötig, um neue Häuser zu bauen, Bestände zu sanieren und Büros in Wohnungen umzuwandeln. Diese Investitionen könnten nur von großen Konzernen geleistet werden – die offensichtlich kein Interesse daran haben, oder müssen durch den Staat – Bund, Länder, Kommunen – vorgenommen werden. Es muss eine Neuauflage des öffentlichen sozialen Mietwohnungsbaus in Form von Gemeinde- und Stadtbauten geben, bei denen die Kommune sowohl als Bauherrin als auch als Vermieterin auftritt.“
Obwohl die Praxis überall zeigt, dass die Kommunen kaum die Absicht oder die Mittel haben, auch nur irgendeine Alternative zum privaten Wohnungssektor zu etablieren oder zu verteidigen – was Ludwig in seinem Beitrag ja auch selbst konstatiert -, spricht er sich dafür aus, dass der Staat bzw. die Kommunen die Sache in die Hand nehmen sollen. Dabei ist bei ihm noch nicht einmal davon die Rede, dass die MieterInnen oder gar die Arbeiterbewegung wenigstens eine ausgeweitete Kontrollfunktion wahrnehmen sollen. Außerdem glaubt er offenbar, dass der „Soziale Wohnungsbau“ früherer Jahre eine „soziale Tat“ war. Tatsächlich war er v.a. (oder mindestens auch) eine besondere Form von Förderung der privaten Bauwirtschaft.
Auch wenn Ludwig hier bezüglich der Eigentumsfrage und der Kontrolle keine alternativen Forderungen aufstellt – was für MarxistInnen selbstverständlich sein sollte -, betont er immerhin, dass „der Kampf für den Bau günstiger Wohnungen durch die öffentliche Hand nicht einfach“ ist. Eine Verbesserung der Wohnungssituation „wird nur durchsetzbar sein, wenn größere Mieterbewegungen entstehen und der Druck auf Gemeindeverwaltungen und Bundesländer zunimmt. (…) Die beste Waffe gegen den Verkauf an einen privaten Investor ist die Mobilisierung der MieterInnen. Wenn diese in Bewegung geraten, sich zusammenschließen, gemeinsam alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen und zudem Druck auf die Kommune und die offizielle Politik ausüben, wenn möglich sogar mit Maßnahmen wie Mieterhöhungsboykott drohen, wird es für private Investoren schwieriger, ihre gewünschte Rendite zu erzielen.“
Dem können wir zustimmen. Doch Ludwig hat hier wieder nur die politische Ebene im Sinn, alternative und genossenschaftliche Strukturen (!) proletarischer Selbstorganisation gibt es für ihn nicht bzw. sie werden als unrealisierbar dargestellt. So überrascht dann auch seine Schlussfolgerung nicht: „Die Gründung eigener Genossenschaften wird daher kein zentrales Werkzeug der linken Wohnungspolitik oder des Kampfes gegen Privatisierung werden. Unter dem Strich zählt die Mobilisierung und Organisierung der MieterInnen. Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, sind aus linker Sicht zu priorisieren.“
Anstatt genossenschaftliche Projekte und die Mobilisierung der MieterInnen und der Arbeiterbewegung miteinander zu verbinden, überlässt er die Strukturen des Wohnbereichs komplett den Privaten oder dem Staat. Das allein verurteilt die MieterInnen per se dazu, den Entwicklungen immer nur wie der Hamster im Rad hinterher zu rennen, ohne wirklich voran zu kommen – eine passive, nur auf das „Politische“ begrenzte Strategie.
Ludwigs Fazit …
Die allgemeine Schlussfolgerung des Autors zum Genossenschaftswesen lautet: „Genossenschaften werden nicht der Hebel sein, die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft voranzutreiben. Die Vorstellung, dass sich schon im Kapitalismus sozialistische Wirtschaftsformen entwickeln können, hat sich als Utopie erwiesen. Die sozialistische Transformation im Bereich der Ökonomie lässt sich nur erreichen, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, die großen Konzerne und Banken, die „Kommandohöhen der Wirtschaft“, unter ihre Kontrolle zu bringen, zu enteignen und demokratisch geplant zu koordinieren. Dies lässt sich nicht Schritt für Schritt auf dem Boden des Kapitalismus vorbereiten, sondern kann nur das Ergebnis einer revolutionären Zuspitzung der sozialen Widersprüche, einer Massenmobilisierung der lohnabhängigen Bevölkerung sein.“
Die Methodik, die Ludwigs gesamten Artikel auszeichnet, schlägt auch hier durch. 1. wird erneut der Popanz der Überwindung des Kapitalismus durch Genossenschaften aufgebaut; 2. wird so getan, als ob Genossenschaften dem Ziel, „die großen Konzerne und Banken, die „Kommandohöhen der Wirtschaft“, unter ihre Kontrolle zu bringen, zu enteignen und demokratisch geplant zu koordinieren“ entgegenstehen würde; 3. wird somit ein absurder Widerspruch zwischen dem Kampf für die Etablierung eines genossenschaftlichen Sektors und dem Ziel der Revolution konstruiert.
Allerdings räumt Ludwig ein: „Trotzdem können genossenschaftliche Formen eine Rolle beim Übergang zu einer sozialistischen Ökonomie spielen.“ Doch allein diese vorsichtige Position – „können“ – wirft doch z.B. die Frage auf, wie die anti-genossenschaftliche Politik der Bolschewiki beurteilt werden muss, nicht zuletzt, weil selbst Lenin in seinen letzten Schriften dazu ein andere Position eingenommen hat als zuvor. Ludwig geht auch darauf nicht ein.
Gewissermaßen im Widerspruch zu seiner Grundposition, dass Genossenschaften keine größere Rolle spielen könnten (und sollten) konstatiert Ludwig am Ende aber fast überraschend: „Formen „solidarischer Ökonomie“ sind in vielen Ländern Lateinamerikas verbreitet und entwickeln sich gerade verstärkt in Griechenland, in der Landwirtschaft, im Gesundheitswesen und auch in einigen Produktionsbetrieben. Diese Ansätze sind sehr wichtig, es ergibt sich aus ihnen allerdings nicht die offensive Infragestellung des Kapitalismus, sondern sie sind Ergebnis der Defensive der Arbeiterbewegung, der zunehmend unerträglichen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Bevölkerung, oftmals der Tatsache, dass Kapitalisten in Betrieben die Produktion beenden und die Fabriken verfallen lassen. Andererseits gibt es keinen unüberwindlichen Graben zwischen defensiven und offensiven Kampfmethoden. Insofern können solche Zusammenschlüsse eine gute Rolle dabei spielen, die Lebensfähigkeit und Würde der Arbeiterklasse zu erhalten und damit bessere Ausgangsbedingungen für zukünftige Kämpfe zu schaffen.“
Anstatt von Würde zu sprechen, hätte Ludwig besser den Begriff des Bewusstseins benutzt, dass sich nämlich beim Kampf für und in Genossenschaften verändert. Auf die spannende – und entscheidende – Frage des Verhältnisses von Genossenschaften und Klassenkampf, auf das Verhältnis von Reformen und Revolution geht Ludwig leider nicht ein.
… und unser Fazit
Im Unterschied zu Ludwig meinen wir, dass Genossenschaften eine sehr wichtige und eigenständige Rolle im Klassenkampf spielen können und müssen. Ihre Bedeutung liegt dabei auch, aber nur in geringem Maße darin, dass sie eine ökonomische Alternative zum privaten bzw. staatlich-bürokratischen Sektor darstellen. Das können sie in umfangreicherer Weise erst im Rahmen einer nicht-kapitalistischen Wirtschaft, wo sie sogar den Kern der Ökonomie ausmachen werden und die Basis einer demokratischen geplanten Gebrauchswertwirtschaft bilden. Bolschewismus und Stalinismus haben den historischen Negativ-Beweis dafür geliefert, dass eine Wirtschaft (und die gesamte Gesellschaft) ohne Genossenschaften und Selbstverwaltungsstrukturen in eine bürokratische Diktatur, in den Staatskapitalismus abgleitet.
Doch schon im Kapitalismus sind Selbstverwaltungsstrukturen – trotz aller Beschränkungen – wichtige Experimentierzentren und Embryonen des Sozialismus. Ihre Tendenz zum Ausschluss von Privateigentum und Bürokratie stellen sie objektiv in einen Gegensatz zur bürgerlichen Ordnung. Dieser Gegensatz muss aber bewusst gemacht und mit dem allgemeinen Klassenkampf des Proletariats verbunden werden. Genossenschaften und Revolution müssen eine Symbiose eingehen. Dazu kommt, dass die einzelnen Genossenschaftsinitiativen zu großen Strukturen vereint werden müssen, damit sie am Markt und im Klassenkampf besser bestehen können.
An all diesen Aufgaben ist die Arbeiterbewegung bisher gescheitert, weil sie aufgrund reformistischer u.a. falscher Konzeptionen sich diese Aufgaben nie ernsthaft gestellt hat.
Eine besondere Rolle auch für die Bewusstseinsbildung des Proletariats spielen Selbstverwaltungsstrukturen, weil sie soziale Strukturen sind, wo sich anti-kapitalistische Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten herausbilden, die sich in „politischen“ Strukturen (Partei, Gewerkschaften, Räten usw.) weniger entwickeln können.
Die objektiven Möglichkeiten des Proletariats, ein Genossenschaftssystem aufzubauen, sind heute größer als früher, was die Zahl und die materiellen und finanziellen Möglichkeiten des Proletariats anbelangt. Die Möglichkeiten, genossenschaftliche Strukturen zu schaffen, sind fast unbegrenzt: im produktiven Sektor, im Handel, im Bildungsbereich, in der Kultur, beim Wohnen usw. Trotz vieler Beispiele für gescheiterte oder degenerierte Genossenschaften – v.a. aufgrund des Fehlens einer konsistenten Genossenschaftspolitik der Arbeiterbewegung – gibt es auch zahlreiche Beispiel dafür, dass Genossenschaften lange und gut funktioniert haben. Ein – meist vergessenes – Beispiel, was selbst von der schwachen radikalen Linken erreicht werden kann, ist die Kinderladen-Bewegung in der BRD und Westberlin ab den 1970ern.
Die Unterschätzung oder Ablehnung der Genossenschaftsbewegung durch den „Marxismus“ ist eine schwere Hypothek im Klassenkampf. Diese Haltung kann sich auch keinesfalls auf Marx stützen. Vielmehr müssen die „MarxistInnen“ endlich daran gehen, eine Theorie und Praxis des Genossenschaftswesens zu entwickeln, anstatt sich hinter dem für ihre Zwecke „modifizierten“ Ideentorso von Marx zu verstecken, müssen sie über ihn hinaus gehen!