Trotzkis Erbe (Teil 3)

Hanns Graaf

3. Trotzkis Faschismusanalyse

Der Faschismus als besondere Herrschaftsform der Bourgeoisie war im 20. Jahrhundert ein neues  Phänomen. Obwohl natürlich auch schon davor Formen des offenen Terrorismus gegen Unterdrückte, Linke und die Arbeiterbewegung vorkamen, gab es den Faschismus als besondere Bewegung und Regierungsform so noch nicht. Vor dem Marxismus stand somit die Aufgabe, diese neue Erscheinung zu analysieren – zumal der Faschismus mit seinen brutalen Methoden eine besondere Bedrohung darstellte.

Es gab diverse Versuche, den Faschismus und seine Besonderheiten zu verstehen und politische Antworten zu formulieren, um ihn zu bekämpfen. Trotzkis Faschismusanalyse unterscheidet sich von anderen v.a. dadurch, dass er die konkreten Umstände der Entstehung und die Besonderheiten der faschistischen Bewegungen berücksichtigt, dabei aber von einer marxistischen Sicht auf die Gesellschaft ausgeht und den Faschismus in den Kontext des Klassenkampfes und der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase stellt. Die Frage des Faschismus stellt sich für Trotzki nicht nur als Alternative zwischen Demokratie und Diktatur, sondern auch und v.a. als Alternative von Kapitalismus und proletarischer Revolution.

Besondere Beachtung schenkte Trotzki dem deutschen Faschismus. Er verfasste sehr viele Artikel dazu und unterzog darin die Politik der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD einer konsequenten Kritik. Doch nicht nur das: er – und die kleine Zahl der TrotzkistInnen in Deutschland – machten immer wieder Vorschläge zur Schaffung einer antifaschistischen Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen – sie wurden von KPD und SPD brüsk abgelehnt oder ignoriert. Liest man heute Trotzkis Analysen und Vorschläge, so kann nur der ärgste Reaktionär oder Dogmatiker leugnen, dass Trotzkis Sicht nicht nur von bestechender Konkretheit und Genauigkeit ist, sondern die Annahme seiner Vorschläge damals durchaus die Möglichkeit geboten hätte, die Machtergreifung der Nazis und deren Folgen zu verhindern. Insofern ermöglicht Trotzkis Faschismusanalyse auch wichtige Lehren für den Kampf gegen den Faschismus in der Gegenwart.

Soziale Krise

Trotzki leitet den Aufstieg des Nationalsozialismus aus der besonderen Situation des deutschen Kapitalismus nach 1918 ab: „Das rasche Wachstum des deutschen Kapitalismus vor dem Kriege bedeutete bei weitem nicht die einfache Aufreibung der Mittelklassen; während er einzelne Schichten des Kleinbürgertums zugrunde richtete, schuf er wieder neue: Handwerker und Krämer um die großen Betriebe herum, Techniker und Angestellte in den Betrieben. Aber während sie sich zahlenmäßig hielten – das alte und das neue Kleinbürgertum umfasst nicht viel weniger als die Hälfte des deutschen Volkes -, büßten die Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein: sie lebten am Rande der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker.“ (dieses und die folgenden Zitate aus: Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, 1933)

Und weiter: „Die Kriegsniederlage verbaute dem deutschen Imperialismus den Weg. Die äußere Dynamik verwandelte sich in die innere, der Krieg ging in die Revolution über. Die Sozialdemokratie, die den Hohenzollern geholfen hatte, den Krieg bis zum tragischen Ende zu führen, verbot dem Proletariat, nun seinerseits die Revolution bis zum Ende zu führen. Vierzehn Jahre vergingen unter beständigen Entschuldigungen der Weimarer Demokratie für ihr eigenes Dasein. Die Kommunistische Partei rief die Arbeiter zu einer neuen Revolution, erwies sich aber als unfähig, sie zu führen. Die deutschen Arbeiter gingen durch die Siege und Zusammenbrüche des Krieges, der Revolution, des Parlamentarismus und des Pseudobolschewismus. Während die alten bürgerlichen Parteien sich restlos verausgabten, war zugleich die Bewegungskraft der Arbeiter gebrochen. (…) Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.

Hier zeigt sich schon eine Eigenart von Trotzkis Verständnis, das sich deutlich von der Analyse etwa von Dimitroff, einem Führer der stalinisierten Komintern, abhebt. Für Trotzki wurzelt der Faschismus in den ruinierten und frustrierten Mittelschichten und im Kleinbürgertum, während er für Dimitroff eine „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ist. Dimitroff negiert den kleinbürgerlichen  Bewegungscharakter des Faschismus und dessen demagogischen „revoluzzerischen Anti-Kapitalismus“, der ihn hinsichtlich seiner sozialen Basis und seiner Methoden von anderen bürgerlichen Parteien unterscheidet. Ohne diesen Pseudo-Sozialismus wäre es den Nazis kaum möglich gewesen, die kleinbürgerlichen und kleinere Teile der proletarischen Massen zu gewinnen.

Trotzki schrieb dazu: Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, dass ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Haß gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, daß die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten – daher ihr »Sozialismus«. An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.

Faschistische Ideologie

Trotzki weist auch auf verschiedene Besonderheiten der Ideologie v.a. des deutschen Faschismus hin, so etwa auf dessen quasi-religiöse und mystische Elemente wie den Germanenkult oder den Antisemitismus. Zu letzterem schreibt Trotzki: „Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert. Das niedrige »ökonomische Denken« ablehnend, steigt der Nationalsozialismus ein Stockwerk tiefer, gegen den wirtschaftlichen Materialismus beruft er sich auf den zoologischen.“

Oder: „Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit Schädellehre. Wie herabgekommener Adel Trost findet in der alten Abkunft seines Bluts, so besäuft sich das Kleinbürgertum am Märchen von den besonderen Vorzügen seiner Rasse. Es verdient Beachtung, dass die Führer des Nationalsozialismus nicht germanische Deutsche sind, sondern Zugewanderte: aus Österreich, wie Hitler selbst, aus den ehemaligen baltischen Provinzen des Zarenreichs, wie Rosenberg, aus den Kolonialländern, wie der augenblickliche Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung, Heß, und der neue Minister Darré. Es bedurfte der Schule barbarischer nationaler Balgerei in den kulturellen Randgebieten, um den Führern die Gedanken einzuflößen, die später ein Echo im Herzen der barbarischsten Klassen Deutschlands fanden.“

Auch die Idee der rassisch definierten „Volksgemeinschaft“, welche vom Klassenkampf ablenken soll, entlarvt den Faschismus als Bewegung und Ideologie der Mitte, die sich vom Großkapital wie von der proletarischen Revolution bedroht sieht. Daher schwankt die Mitte der Gesellschaft zwischen den beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat, schließt sich letztlich aber der Klasse an, der sie eher zutraut, sich durchzusetzen. Das war letztlich das Kapital und nicht die Arbeiterbewegung, weil diese nicht nur in KPD und SPD gespalten war, sondern auch unfähig war,  ein gemeinsames Kampfbündnis gegen die Nazis zu schmieden. Dazu kam, wie Wilhelm Reich betonte, dass KPD und SPD nicht verstanden, dass der Faschismus v.a. Ausdruck tief verwurzelter reaktionärer Denkweisen und Bedürfnisse der Massen war, die u.a. aus den patriarchalen Strukturen folgten. Der antifaschistische Kampf hätte auch an dieser Front geführt werden müssen, was aber entweder nicht erfolgte oder mit untauglichen Argumenten. Die Faschismus-Analyse Wilhelm Reichs kannte Trotzki offenbar aber nicht.

Problem Einheitsfront

Trotzki kritisierte die Politik beider Arbeiterparteien heftig. Die SPD lehnte die Einheitsfront ab, weil sie fürchtete, dass aus ihr eine Revolution erwachsen könnte, die sie – wie 1918 gezeigt hat – hasste wie die Pest. Anders sah Trotzkis Kritik an der KPD aus. Diese trat damals noch für die Revolution ein, wenn auch mit ihrer untauglichen linkssektiererischen Politik der „Dritten Periode“ und der „Roten Gewerkschaftsopposition“ (RGO). Auch Stalins Sozialfaschismus-These, welche die SPD als „Zwilling“ des Faschismus ansah, wirkte sich verheerend aus, weil sie jede Einheitsfront mit der SPD, hinter der ja immer noch die Mehrheit der Arbeiterklasse und die Gewerkschaften standen, unmöglich machte.

Die Untauglichkeit der stalinschen Politik erwies sich auch darin, dass die KPD-Führung – als es bereits zu spät war – der SPD eine „Einheitsfront von unten“ vorschlug. Diese Taktik verballhornte die Idee der „Einheitsfront von oben und unten“, die nicht nur die proletarische Basis im Kampf vereinen, sondern zugleich die reformistische Führung dazu auffordern und dazu zwingen sollte, „Farbe zu bekennen“: entweder sie geht auf die Einheitsfront ein – umso besser -, oder sie lehnt sie ab, dann erkennt die Basis der SPD, dass ihre Führung gar nicht kämpfen will. Heute würde man das eine Win-win-Situation für die KPD nennen, die sie aber nicht nutzte.

Eine der Auffassung Trotzkis ähnliche Positionen zum Faschismus nahmen damals die KPD(O) um Brandler und Thalheimer ein sowie tw. die SAP. Sie unterschieden sich aber u.a. dadurch von Trotzkis Position, dass sie sich weigerten, Stalins Regime offen als konterrevolutionär zu bezeichnen (Brandler, Thalheimer) bzw. konsequent für die Revolution einzutreten (SAP).

Funktion des Faschismus

Natürlich sah auch Trotzki die Verbindungen des Faschismus zum großen Kapital und die Funktionalisierung der Nazis für den Erhalt seiner Herrschaft. „Der deutsche wie der italienische Faschismus“, schrieb er, „stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammen pressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche Lösungen wie die Verstaatlichung der Trusts und die Abschaffung des ´arbeits- und mühelosen Einkommens´ waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal über Bord geworfen.“

Bestätigt wurde diese Metamorphose des Faschismus von einer reaktionären Revoluzzer-Bewegung zu einem bonapartistischen Regime an der Macht in Diensten des deutschen Großkapitals etwa durch den Röhm-Putsch 1934, als der „sozialrevolutionäre“ Flügel, die SA, „zurückgestutzt“ und damit die Verbindung der NSDAP mit dem Kapital und seinem bewährten Staatsapparat, v.a. der Armee, gesichert wurde.

Der fatalen und wirklichkeitsfremden These der Stalinisten, welche die Machtübernahme Hitlers nur als kurze Episode ansahen und verkündeten: „Nach Hitler wir“, stellte Trotzki eine so realistische wie als Warnung geeignete Einschätzung gegenüber: „Indem er das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen auf elende bürokratische Maskeraden reduziert, erhebt sich der Nationalsozialismus über die Nation als reinste Verkörperung des Imperialismus. Die Hoffnung darauf, dass die Hitlerregierung heute oder morgen als Opfer ihres inneren Bankrotts fallen werde, ist völlig vergeblich. Das Programm war für die Nazis nötig, um an die Macht zu kommen, aber die Macht dient Hitler durchaus nicht dazu, das Programm zu erfüllen. Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus – die wahre geschichtliche Sendung der faschistischen Diktatur – bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung der Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Ihn kann man nur stürzen. (…) Die Zeit, die uns bis zur nächsten europäischen Katastrophe bleibt, ist befristet durch die deutsche Aufrüstung. Das ist keine Frage von Monaten, aber auch keine von Jahrzehnten. Wird Hitler nicht rechtzeitig durch innerdeutsche Kräfte aufgehalten, so wird Europa in wenigen Jahren neuerlich in Krieg gestürzt.“

Die kampflose Niederlage des deutschen Proletariats gegen Hitler 1933 bestätigte nicht nur Trotzkis Einschätzung, dass der Stalinismus die Arbeiterklasse nur in Niederlagen führt, sie war für ihn auch Anlass, seine Einschätzung des Stalinismus zu präzisieren. Bis 1933 hielt er die Reformierung der Komintern noch für möglich, wenn auch für unwahrscheinlich. Für ihn war der Stalinismus bis dahin reaktionär, aber noch „zentristisch“. Doch v.a. die komplette Weigerung der Stalinisten, die Niederlage von 1933 zum Anlass zu nehmen, ihre Politik zu überdenken und aus ihren Fehlern zu lernen, zeigte Trotzki, dass die Reform-Perspektive unrealistisch geworden war (heute müsste man sagen, dass sie nie gegeben war). Die praktische Schlussfolgerung für Trotzki war nun, den Aufbau einer neuen revolutionären Klassenführung im internationalen Maßstab zu intensivieren und auf die Gründung der IV. Internationale hinzuarbeiten.

Was Trotzki jedoch nicht in aller Klarheit sah, war die tiefere Ursache des Schwenks vom „Zentrismus“ der Politik der „Dritten Periode“ zur offen konterrevolutionären Doktrin der Volksfront, die zuerst 1934 in Frankreich und dann 1936 in Spanien den Sieg der Revolution vereitelte. Dieser Richtungswechsel war nur die außenpolitische Verlängerung der stalinschen Innenpolitik und Ausdruck der sozialen Verhältnisse in der UdSSR, die sich bis 1930 herausgebildet hatten. Binnen eines Jahrzehnts hatte die Bürokratie die Arbeiterklasse fast vollständig von allen Schaltstellen der Gesellschaft verdrängt und sich selbst zu einer neuen herrschenden Klasse gemausert, die über der Gesellschaft thronte. Die zugleich mit der politischen Konterrevolution Stalins sich vollziehenden Veränderungen an der sozial-ökonomischen Basis mündeten schließlich in den Staatskapitalismus. Die ursprüngliche, internationalistische und auf die Weltrevolution ausgerichtete Perspektive der Bolschewiki war nach einer zentristischen Übergangsphase zu einer offen konterrevolutionären und imperialistischen Außenpolitik mutiert. Nicht mehr der Sturz der kapitalistischen Ordnung, sondern ein strategisches Übereinkommen mit dem Imperialismus oder Teilen davon war nun angesagt. Der deutlichste Ausdruck dieser Politik war in den 1930er Jahren die Kapitulationspolitik der Volksfront und der Hitler-Stalin Pakt sowie nach 1945 die Unterdrückung jedes Versuchs der Arbeiterklasse, sich in authentischen Strukturen zu formieren, den Kapitalismus zu stürzen und eine Rätedemokratie zu errichten.

Aktualität

Heute, viele Jahrzehnte nach den blutigen Erfahrungen von Faschismus, Holocaust und 2. Weltkrieg, ist Trotzkis Faschismustheorie auch in anderer Hinsicht von Belang. Zum einen sehen wir, dass die Parteien und Bewegungen der „neuen Rechten“ wie der AfD, der Front National, der FPÖ u.a. ihre Basis ebenfalls v.a. in den Mittelschichten haben und nicht wesentlich im Groß- und Finanzkapital. Wie die SA zeigen auch diese Formationen einen stärkeren Bewegungs- und Mobilisierungscharakter, pflegen ein Anti-Establishment-Image und gerieren sich als populistische Kraft des „kleinen Mannes“.

Das Aufkommen rechter Parteien und Bewegungen heutzutage verweist darauf, welch bedeutende Rolle das Kleinbürgertum und v.a. die immens angewachsenen lohnabhängigen Mittelschichten in der imperialistischen Gesellschaft der Gegenwart spielen. Sie besetzen die meisten Schaltstellen in der Gesellschaft: in der Politik, im Staatsapparat, in Kultur, Bildung, Wissenschaft und Medien und tw. in der Wirtschaft. Die Bedeutung dieser (lohnabhängigen) städtischen Mittelschichten ist weit größer als noch zur Zeit von Marx oder Lenin. Revolutionäre Politik heute muss – bei aller Notwendigkeit, sich zentral auf die Arbeiterklasse als einziges, konsequent revolutionäres Subjekt zu beziehen – eine konsistente Politik entwickeln, um die Mitte zu beeinflussen und auf die Seite des Proletariats zu ziehen. Dazu muss an den Widersprüchen zwischen den kapitalistischen Strukturen und den partiell fortschrittlichen Interessen der Mittelschichten angeknüpft und ihnen eine demokratisch-freiheitlich-sozialistische Alternative gewiesen werden.

Seit den 1960/70er Jahren gehören auch links-ökologische Bewegungen zur politischen Szenerie v.a. der imperialistischen Metropolen. Aufgrund der Krise bzw. des Zusammenbruchs des Stalinismus 1990 und der langen Periode von Niederlagen ist das Vertrauen der Arbeiterbewegung und der Linken in eine revolutionäre Perspektive stark unterhöhlt worden. Die Reformierung des Kapitalismus erschien nun realistischer. Das führte dazu, dass sich viele Linke dem Öko-Reformismus der grünen Bewegungen anpassten, die zudem der Linken auf diesem Gebiet voraus war, weil diese die ökologische Frage lange unterschätzt hatte.

Auch die grünen Bewegungen, die sich v.a. auf das Kleinbürgertum und die Mittelschichten stützen, weisen viele Elemente auf, die Trotzki auch schon bei der rechten Kleinbürgerbewegung des Faschismus festgestellt hatte. V.a. ihr Schwanken zwischen den beiden Hauptklassen und deren Ideologie ist auffällig. Trotzki schrieb damals, dass „die Mittelklassen (…) nicht fähig zu selbständiger Politik“ sind.So ist es etwa ein Grundzug der grünen Bewegungen, sich gegen die Konzerne zu wenden, als Alternative jedoch das kleinteilig strukturierte Privateigentum anzusehen. Subjekt sozialer Veränderungen ist für die Grünen nicht die Arbeiterklasse, sondern die „Zivilgesellschaft“, die Individuen und – der bürgerliche Staat. Diese Fokussierung auf den Staat korrespondiert durchaus mit der Orientierung auf den „starken Staat“ in der faschistischen Ideologie. Ähnlich dem Habitus rechts-konservativer Bewegungen haben auch die links-grünen  Bewegungen den Hang, Phänomene zu überhöhen und zu übertreiben, anstatt sie materialistisch zu analysieren. Anstatt die kapitalistische Produktionsweise und die Klassenverhältnisse als die zentralen Probleme zu betrachten, dominiert eine sektorale, nur bestimmte „Auswüchse“ des Systems betrachtende Sicht.

Auch die Grünen orientieren sich an irrationalen ideologischen Prämissen wie z.B. der (einseitig interpretierten) Gaia-Theorie oder der mechanistischen „Kapitalismus-Kritik“ des Club of Rome. Sicher versteht sich die grüne Bewegung tw. als anti-kapitalistisch, doch es ist eine rückwärtsgewandte Kritik, welche oft auf die Wiederherstellung vor-kapitalistischer Verhältnisse hofft und gegenüber Technologie, Wissenschaft und Fortschritt skeptisch ist. Auch Trotzki stellte schon fest: „Der Kleinbürger ist dem Entwicklungsgedanken feind, denn die Entwicklung geht beständig gegen ihn – der Fortschritt brachte ihm nichts als unbezahlbare Schulden. Der Nationalsozialismus lehnt nicht nur den Marxismus, sondern auch den Darwinismus ab. Die Nazis verfluchen den Materialismus, weil die Siege der Technik über die Natur den Sieg des großen über das kleine Kapital bedeuten. (…) Der Kleinbürger braucht eine höchste Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Versteigerung.“ Oder: „Das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen wird dabei nicht abgeschafft, es wird einfach von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst.“ Sind nicht die andauernden Untergangsvisionen und Übertreibungen (Waldsterben, Klimakatastrophe, Versauerung der Meere usw.) sowie der Hype um deren Symbole, z.B. den angeblich aussterbenden Eisbär, oder die „heilige“ Greta Ausdruck von Irrationalismus?

Wie schon vor 1933 dürfen die Arbeiterbewegung und die MarxistInnen sich diesem kruden Anti-Kapitalismus nicht anpassen oder ihn adaptieren, indem sie ihm ein revolutionäres i-Tüpfelchen hinzufügen; sie müssen den kleinbürgerlichen Irrationalismus, seine Rückwärtsgewandtheit kritisieren und eine proletarisch-revolutionäre Alternative aufzeigen! Trotzkis Faschismusanalyse hat uns auch dazu viel zu sagen.

Nicht nur im Trotzkismus gilt Trotzkis Faschismus-Theorie auch heute noch zu recht als richtig bzw. ernst zu nehmend. Doch leider ist eine Weiterentwicklung und Präzisierung seiner Auffassungen kaum erfolgt. Das zeigt sich besonders bei der mangelhaften Klassenanalyse, bei der v.a. die größere Bedeutung der lohnabhängigen Mittelschichten heute zu wenig verstanden ist, und bei den nur sehr geringen Bemühungen, die Erkenntnisse u.a. von Wilhelm Reich zum Massenbewusstsein und zum Faschismus einzuarbeiten, die er z.B. in „Die Massenpsychologie des Faschismus“ dargelegt hat. Wer Trotzkis Theorie ernst nimmt, muss sich damit befassen, anstatt immer nur die selben alten Thesen zu wiederholen.

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