Trotzkis Erbe (Teil 4)

Hanns Graaf

4. Partei und Internationale

Ein Ausdruck der internationalistischen Orientierung Trotzkis ist seine Haltung zur Frage der Internationale. Schon während des 1. Weltkriegs war er aktiv an der Neuformierung der internationalistischen, anti-imperialistischen Kräfte beteiligt. Mit den Konferenzen von Kiental und Zimmerwald begann der politische Klärungsprozess, der schließlich im März 1919 – stark befördert durch die Russische Revolution und Lenins Bolschewiki – zur Gründung der III. (kommunistischen) Internationale (Komintern) führte. Trotzki war stark an den Debatten und der Ausrichtung der Komintern beteiligt, bis ihm Ende der 1920er jede Einflussnahme genommen war.

In ihren ersten vier Kongressen (bis November 1922) verarbeitete die Komintern wichtige Erfahrungen der Russischen Revolution und der Klassenkämpfe dieser Periode und trug viel zur Systematisierung revolutionärer Politik bei. Doch von Beginn an war der Einfluss der russischen Sektion politisch und administrativ sehr stark, zudem waren die anderen Parteien oft noch zu unreif, um die russischen Erfahrungen kritisch einordnen zu können. Das wirkte sich schon bald verhängnisvoll aus, weil die Komintern immer stärker von der Moskauer Bürokratie und deren Fraktionskämpfen geprägt war. Bereits nach wenigen Jahren war sie zu einem bürokratischen Instrument Stalins geworden.

Sie war immer weniger imstande, die Lage zu analysieren und richtige taktische Schlüsse zu ziehen. Ausdruck dessen war z.B. die linkssektiererische Politik der „3. Periode“ mit der „Sozialfaschismusthese“ und der RGO-Politik. Diese zentristische Phase mündete 1933 in der kampflosen Niederlage des deutschen Proletariats gegen Hitler. Stets hatte Trotzki – so lange ihm dies möglich war – versucht, der Fehlentwicklung der Komintern ab ihrem 5. und 6. Kongress entgegen zu wirken. Das deutsche Fiasko 1933 und die Weigerung Stalins und der Komintern-Führung, daraus Lehren zu ziehen, bewogen Trotzki dann endgültig dazu, offen Kurs auf eine neue Internationale zu nehmen.

Wie recht Trotzki damit hatte, zeigten die folgenden Jahre. Schon 1934/35 wurde in Frankreich zum ersten Mal – auf Geheiß der Komintern-Führung – die Volksfrontpolitik angewandt. Sie führte dazu, dass die mobilisierten Arbeitermassen, anstatt um die Macht zu kämpfen, für ein paar soziale Zugeständnisse eine bürgerliche Regierung aus Sozialisten und der bürgerlichen Radikalen Partei zu unterstützen. Noch fataler war die Volksfrontpolitik ab 1936 in Spanien, wo die Revolution der Massen durch die KP gebremst und bekämpft wurde. Spätestens dann war klar, dass Stalin und die ihm hörige Komintern einer konterrevolutionären Strategie folgten, die nicht mehr „nur“ zentristisch war. Trotzki wies unermüdlich darauf hin, dass Stalins Politik die internationale Arbeiterklasse desorientiert, demoralisiert und in die Niederlage führt. Dass Stalin 1943, angesichts der bevorstehenden Niederlage Nazideutschlands, die Komintern sogar auflöste, bestätigt noch einmal dessen anti-revolutionäre Konzeption.

Trotzkis Kampf für eine neue Internationale und ein revolutionäres Programm kulminierte 1938 in der Gründung der IV. Internationale und im „Übergangsprogramm“, ihrem Gründungsdokument. Darin betont Trotzki, dass das Kernproblem der Arbeiterbewegung deren „historische  Führungskrise“, d.h. das Fehlen einer revolutionären Internationale, sei. Insofern sollte die IV. diese Krise lösen. Doch sie war von Anfang an mit der Gegnerschaft und dem Terror nicht nur aller bürgerlichen Kräfte – vom Faschismus über die bürgerlichen Demokraten bis zu den Sozialdemokraten – konfrontiert und wurde v.a. vom Vernichtungswillen Stalins und seines Geheimdienstes bedroht und dezimiert. Zudem waren die Kräfte der IV. Internationale sehr schwach, sie bestand nur aus Kadergruppen, nicht aus Parteien.

Perspektive

Trotzki ging davon aus, dass sich im Zuge der durch den Stalinismus erzeugten Probleme und Niederlagen und der brutalen bürokratischen Diktatur in der UdSSR die bewusstesten proletarischen Elemente vom Stalinismus ab- und der IV. Internationale zuwenden würden. Er meinte, dass die Widersprüche innerhalb des Imperialismus wie zwischen diesem und der UdSSR sich in einem Krieg entladen und die Massen wie am Ende des 1. Weltkriegs zur Revolution drängen würden. Die UdSSR stände dann vor der Alternative, dass Stalins System dem Hitlerfaschismus unterliegen und der (Privat)kapitalismus restauriert oder aber eine proletarische Revolution Stalin hinwegfegen und die Sowjetdemokratie wieder herstellen würde.

Hier irrte Trotzki. Der Krieg führte nicht zum Zusammenbruch des Stalinismus, sondern zu dessen Stärkung und Ausweitung. Seit gestiegener Einfluss bewirkte, dass – in Kooperation mit den Westalliierten und den Reformisten – die Arbeiterklasse Mitte/Ende der 1940er von der Revolution abgelenkt wurde und ein globaler Status quo zwischen dem westlichen Privat- und dem östlichen Staatskapitalismus entstand, der erst 1989 zerbrechen sollte.

Das Problem der IV. Internationale war nun – nach der Ermordung Trotzkis 1940 -, dass es keinen revolutionären Aufschwung und keine Schwächung des Stalinismus gab, von denen man hätte profitieren können. Die IV. blieb eine minoritäre Kraft. Die Unterschiede in der Einschätzung der historischen Situation und der Perspektiven führten zunehmend zu Differenzen und schließlich Anfang der 1950er zur Spaltung der IV. – zunächst in zwei Teile, die sich fortan immer weiter in diverse Gruppen, Strömungen und „Internationalen“ verzweigten.

Hier sollen nur einige Differenzen und Fragestellungen erwähnt werden, die im Trotzkismus wichtig waren oder sind. Waren die UdSSR und Osteuropa „degenerierte Arbeiterstaaten“, wie Trotzki annahm, oder handelte es sich irgendwann um Staatskapitalismus? Würde auf den 2. ein 3. Weltkrieg zwischen West und Ost folgen? Würde die globale Bipolarität länger Bestand haben? Kann sich der Kapitalismus stabilisieren? Ist der Stalinismus grundsätzlich konterrevolutionär oder kann er mitunter eine antikapitalistische Dynamik bewirken? Ist es weiter nötig, auf den Aufbau einer „separaten“ revolutionären Partei bzw. Internationale zu setzen, oder kann eine „Kooperation“ mit einem nach links gehenden Stalinismus erfolgen? Ist Trotzkis Perspektive der politischen Revolution zum Sturz des Stalinismus noch zeitgemäß oder ist die Perspektive einer Reformierung (z.B. „tiefe Perestroika“) realistischer? Usw. usw..

Dauerkrise

Doch warum gelang es „dem Trotzkismus“ auch unter demokratischen Verhältnissen, nach den Impulsen durch die 68er und die Anti-Globalisierungsbewegung, nach dem inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Zusammenbruch des Stalinismus und dem Rückgang des Einflusses der Sozialdemokratie nicht, zumindest an Stärke zu gewinnen?

Kein Teil, keine Strömung des Trotzkismus hat es geschafft – global gesehen – den Durchbruch zu schaffen. Der bisher ernsthafteste Ansatz, die Fehlentwicklungen im Trotzkismus zu überwinden, von der Fiktion des Weiterbestehens der IV. oder einer „trotzkistischen Familie“ abzurücken und die Neu- bzw. Wiedererarbeitung einer revolutionären Programmatik zu beginnen, war die Ende der 1970er entstandene Strömung, die 1989 die „Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale“ (LRKI) gründete. 2003 benannte sie sich in „Liga für die 5. Internationale“ (LFI) um (ihre deutsche Sektion ist die Gruppe ArbeiterInnenmacht). Doch der von ihr begonnene politisch-programmatische Erneuerungsprozess versandete immer mehr und ist inzwischen fast zum Erliegen gekommen.

Der Hauptfehler der LRKI/LFI – und im Grunde aller TrotzkistInnen – besteht darin, dass die Methodologie und Theorie Trotzkis (bzw. des Bolschewismus) nicht – oder nur in Teilaspekten hinterfragt und mitunter wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird. Das große Potential der historisch-kritischen und materialistischen Methode von Marx wird nicht konsequent genutzt, v.a. wird Marx´ Methode nicht auf den Marxismus bzw. Trotzkismus selbst angewendet. Weder der Trotzkismus noch der „Leninismus“ werden hinsichtlich ihrer methodischen Grundlagen ernsthaft hinterfragt.

Man schaue sich die theoretisch-programmatischen Leistungen der diversen trotzkistischen Gruppen heute an – man wird die großen Defizite sofort bemerken. Viele zentrale Fragen der Gesellschaftsentwicklung werden überhaupt nicht behandelt. So blieb z.B. auch die wichtige Frage der Umwelt jahrzehntelang außen vor, um sich dann weitgehend unkritisch der kleinbürgerlichen „grünen“ Bewegung und Ideologie anzupassen. Die TrotzkistInnen sind so an ihre Kleingruppen-Soziotope gewöhnt, so von einer Festungsmentalität geprägt, so auf ihren Ismus eingeschworen, dass ihr politischer-weltanschaulicher Horizont entsprechend eng ist – zu eng.

Der Trotzkismus hätte nur dann zu einer revolutionären Alternative und zu einer relevanten Kraft  werden können, wenn er die methodisch-programmatischen Fehler des Leninismus (die wiederum tw. aus der II. Internationale stammen) überwunden hätte: der Etatismus, das einseitige Verständnis von Klassenbewusstsein als nur politischem Bewusstsein, die Überbetonung der Partei und die Unterordnung der Klasse unter diese sowie die sträfliche Unterschätzung, ja Ablehnung der proletarischen Selbstverwaltung (Genossenschaften) und die blanquistischen Tendenzen. Dazu waren Trotzki und der Trotzkismus nicht in der Lage.

Die Gründung der IV. Internationale

Historisch gesehen stellt sich nun angesichts der ernüchternden Bilanz des Trotzkismus die Frage, ob die Gründung der IV. Internationale nicht überhaupt falsch oder zumindest verfrüht war? Unsere Antwort darauf ist: Nein.

Trotzki ging völlig zu recht von kommenden großen Konflikten und revolutionären Chancen aus. Dass die Entwicklung dann tw. anders verlief, als Trotzki prognostizierte, kann ihm kaum vorgeworfen werden, denn auch MarxistInnen sind keine Wahrsager. Sie können und müssen aber Hypothesen aufstellen und sich politisch so vorbereiten, dass sie die Massen zum Sturz des Kapitalismus führen können, sobald sich dafür Chancen bieten.

Insofern war die Gründung der IV. sowohl notwendig, um auf die revolutionären Möglichkeiten vorbereitet zu sein und nicht zu spät zu kommen; als auch möglich, denn immerhin gab es einen Stamm an revolutionären Kadern, um zumindest den Kern einer Internationale zu formieren und mit Trotzki selbst eine bewährte, erfahrene und – trotz der Verleumdungen durch Stalin – bei vielen ArbeiterInnen und Linken noch anerkannte Persönlichkeit. Ohne Gründung der IV. Internationale wäre die dünne Schicht von Kadern wahrscheinlich völlig zerstreut und atomisiert worden. Die IV. verkörperte in vielen – wenn auch nicht in allen – Fragen die Tradition des revolutionären Marxismus, auch wenn diese Tradition eher nur noch ein dünner Faden war als ein starkes Tau.

Warum gelang es Trotzki nicht, noch andere Kräfte, die subjektiv revolutionär waren und den Stalinismus ablehnten, zu gewinnen? Dafür wären u.a. die (holländischen) LinkskommunistInnen, die deutsche KPD-Opposition um Thalheimer, in Spanien die zentristische POUM oder Teile des Anarchismus (die Plattformisten um Machno, Durruti u.a.) in Frage gekommen. Auch Trotzki sah diese als potentiell gewinnbar an und hat sich um sie tw. sehr bemüht – letztlich aber mit wenig Erfolg. Dass sich diese Kräfte aber immerhin zeitweise und bis zu einem gewissen Grad auf die IV. zubewegt haben, zeigt auch, dass die IV. durchaus das Potential hatte, zum revolutionären Attraktionspol zu werden.

Dass das letztlich nicht in größerem Maße gelang, lag auch daran, dass sich all diese Kräfte nie konsequent von ihren „halb-revolutionären“ Konzepten trennen konnten. Doch es war auch Trotzki selbst, der dem im Wege stand. So war etwa seine Charakterisierung der stalinschen UdSSR als Arbeiterstaat für die LinkskommunistInnen und AnarchistInnen – zu recht – unannehmbar. Genauso war Trotzkis Haltung (die er nie änderte) zur Niederschlagung Kronstadts und der Machnobewegung für die AnarchistInnen ein Grund, den Trotzkismus abzulehnen. Neben den AnarchistInnen, die v.a. in Spanien über eine Massenbasis verfügten, war es besonders tragisch, dass die KPD (O) nicht zu Trotzki fand, weil sie zwar etliche Übereinstimmungen mit dem trotzkistischen Programm hatte (Einheitsfront, Faschismusanalyse), sich jedoch weigerte, mit Stalin zu brechen.

Was Trotzki und seinen AnhängerInnen aber letztlich zum Klotz am Bein wurde, waren eben die  unmarxistischen Elemente in ihren Auffassungen (she. oben), die sie mit Lenin und den Bolschewiki teilten und die in der nur unvollständig überwundenen Doktrin der II. Internationale wurzelten.

Was ist eine Internationale?

Das Proletariat ist – objektiv – eine internationale Klasse und auch der Klassenkampf hat – umso mehr in der imperialistischen Epoche – immer eine mehr oder weniger deutlich hervortretende internationale Komponente. Gleichwohl bewegt sich die Klasse und handelt der Klassenkampf zunächst im nationalen Rahmen.

Was ist die Aufgabe einer Internationale? Sie soll die sektoralen, nationalen und historischen Erfahrungen des Proletariats aufarbeiten und verallgemeinern; das ist sozusagen die programmatische Seite der Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Die andere Aufgabe besteht darin, konkrete Klassenkämpfe international zu verbinden. Dies letztere Ziel setzt allerdings die Existenz starker nationaler Sektionen der Internationale voraus, die überhaupt nur reale Kämpfe führen können. Die erste Aufgabe hingegen kann auch von einem kleinen Kern von Kadern geleistet werden.

Schon Marx und Engels haben dem Aufbau einer Partei und einer Internationale viel Aufmerksamkeit gewidmet, so z.B. der 1864 gegründeten I. Internationale, der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), in der Marx eine bedeutende Rolle spielte. Marx war bewusst, dass die Organisationsfrage auch von objektiven Bedingungen abhängt. So war er für die Auflösung der IAA, als diese unter die Dominanz des Anarchismus geraten war und nach 1871 eine reaktionäre Welle über Europa rollte. Marx und Engels war klar, dass eine neue Internationale unter diesen Umständen unrealistisch war. Erst mit der Gründung der SPD 1875 und dem Aufschwung der Arbeiterbewegung nicht nur in Deutschland war die Schaffung einer neuen Internationale wieder relevant und wurde mit der II. Internationale dann 1889 auch Wirklichkeit.

Die Geschichte jeder Partei zeigt, dass diese degeneriert, wenn sie nicht Teil eines historischen Aufstiegsprozesses und mit den Massen flexibel verbunden ist. Schwere historische Niederlagen und längere reaktionäre Phasen, welche die Klasse und ihre Vorhut desorientieren und demoralisieren, wirken sich auch auf Partei und Internationale mehr oder weniger, früher oder später negativ aus. Ihr Charakter als lebendiger Umschlaglatz von Erfahrungen und Innovationen wandelt sich zu Dogmatismus und Bürokratismus. Genau dieses Schicksal ereilte nach der I., der II. und der III. schließlich auch die IV. Internationale.

Zwar blieb die IV. Internationale nicht bestehen (auch wenn sich einige ihrer Teile weiter als „IV.“ verstehen), doch dafür eine Fiktion davon. Die Internationale wurde zum Fetisch, der immer und überall galt – egal, wie es um die realen Bedingungen dafür stand. Was im Großen für die Internationale, galt im Kleinen für die „nationale“ Gruppe. Ein Witz über den Trotzkismus reflektiert durchaus treffend eine seiner Eigenarten: Treffen sich 3 und gründen eine Gruppe, kommt ein Vierter hinzu und sie gründen eine Internationale, kommt ein Fünfter hinzu und sorgt für die Spaltung. Eine Ursache für diese Spalteritis liegt darin, dass die Partei bzw. Internationale nicht  primär als besonderer Ausdruck, als spezifische Struktur der Klasse und des Klassenkampfes gesehen wird, sondern v.a. als Ausdruck einer bestimmten Ideologie bzw. Programmatik, die als Ismus oft jede Bodenhaftung, jede Verbindung mit der realen Klasse, ihren Interessen und Kämpfen verloren hat. Ausdruck dessen sind u.a. Separatismus und Sektierertum. Dieser kam schon in der Komintern-Politik zum Ausdruck (z.B. in den 21 Bedingungen) – mit fatalen Folgen. Schaut man sich (soweit vorhanden) die Programmatik trotzkistischer u.a Gruppen an, so zeigen sich wichtige Unterschiede, aber auch wichtige Gemeinsamkeiten. Die (tw, marginalen) Unterschiede werden aber oft als Begründung genommen, um eine eigene Organisation zu kreieren. Dahinter steckt die Fehleinschätzung, dass eine Partei ein „konsistentes“ Programm haben könne und müsse. Als Beispiel wird dann meist auf die Bolschewiki verwiesen, die nur darum 1917 erfolgreich gewesen sei. Doch die Bolschewiki hatten nicht nur bis April 1917 ein unzureichendes und tw. unklares Programm, sie waren auch danach über jede wichtige Frage zerstritten, oft war es nur Lenins Einfluss, der eine Spaltung oder eine andere Politik der Partei verhindert hat (Aprilthesen, Oktoberaufstand, Brester Friede, NÖP, Arbeiteropposition usw.).

Gerade TrotzkistInnen glauben, besonders prizipienfest zu sein, wenn sie sich spalten; stattdessen blockieren sei oft mit ihrer Spalterei die Diskussion und Klärung und unterminieren jede praktische Handlungsoption durch Mangel an Masse. Der oft bizarre Streit um Prinzipien oder einzelne taktische Fragen ist v.a. deshalb letztlich fruchtlos, weil er die wirklich wichtigen historisch-theoretischen Fragen ausblendet. Nicht das Herumpusseln an den Enden der Seile, sondern das Zerschlagen des Gordischen Knotens ist notwendig; nicht (nur) die Diskussion über diese und jene Richtung des Trotzkismus, sondern eine historisch-kritische Bilanz des Trotzkismus insgesamt, des „Leninismus“ und des gesamten Marxismus ist notwendig. So hoch liegt die Latte! Es hilft nicht, immer nur unter der Latte durchzugehen und darauf zu verweisen, dass man sie ja nicht gerissen hätte …

Raus aus dem Dilemma!

Aktuell kann eine völlig absurde Situation, u.a. auch in Deutschland, beobachtet werden: es gibt mehrere trotzkistische u.a. „linksradikale“ Gruppen und Grüpplein, die tw. einer internationalen Tendenz angehören. Fast immer sind diese Gruppen so klein, dass sie keinen Einfluss in der Klasse und daher keine eigene Praxis haben und haben können. Zugleich leidet die Aufgabe, theoretisch-programmatisch zu arbeiten, unter dem Druck, die Organisation am Laufen zu halten, sich von anderen Gruppen abzugrenzen usw.. Alles bleibt halb, alles bleibt Torso.

Auf internationaler Ebene ist die Situation noch absurder. Mangels nationaler Verankerung und deshalb allenfalls marginaler Klassenkampferfahrungen kann die „Internationale“ ihre Aufgabe, die diversen nationalen Erfahrungen zu systematisieren, mangels Substanz gar nicht wahrnehmen. Von einer internationalen Verbindung von Klassenkämpfen kann ohnehin nicht gesprochen werden. Das heißt: anstatt die Praxis und die Programmatik weiter zu entwickeln, behindern die nationalen und internationalen Miniaturorganisationen diese gerade. Nicht genug damit: die Klein-Strukturen verhindern, dass sich zumindest die Bedingungen des subjektiven Faktors verbessern und die theoretisch-programmatischen Fundamente für eine bessere Entwicklung gelegt werden.

Die dringend notwendige und längst überfällige kritische Durchsicht des Marxismus und der Erfahrungen von über 150 Jahren proletarisch-revolutionärer Klassenkämpfe kann nicht im engen Rahmen der ideologischen Glashäuser erfolgen, in denen die „radikale Linke“ sitzt; sie kann nur erfolgen, wenn die Grenzen von Organisatiönchen und Ismen überschritten werden! Der Ausweg besteht aber nicht darin, die diversen Gruppen und „Internationalen aufzulösen, sondern darin, eine grundlegende theoretisch-programmatische Diskussion über Organisationsgrenzen hinweg zu führen – mit dem Ziel, die politische Degeneration und die Zersplitterung zu überwinden.

Ähnlich der Situation, die Lenin an der Wende zum 20. Jahrhundert in Russland vorfand – das „Zirkelwesen“ – ist die Situation heute weltweit. Es geht zunächst darum, auf nationaler Ebene – aber mit internationalem Blick – die Aufgaben und Programme zu klären, die Kräfte zu bündeln und damit überhaupt erst die Grundlage für eine neue Internationale zu schaffen, anstatt irgendwelchen Fiktionen einer „Internationale“ anzuhängen. Während die trotzkistischen Gruppen – die sich darin nicht wesentlich von anderen Ismen unterscheiden – glauben, sie wären Teil der Lösung der Führungskrise des Proletariats, sind sie selbst auch Teil des Problems, weil sie jede theoretisch-programmatische und organisatorische Erneuerung blockieren. Es geht weder darum, neue Gruppen und neue Pseudo-Internationalen zu schaffen, es geht darum, neue revolutionäre Arbeiterparteien aufzubauen und die dafür notwendigen Taktiken anzuwenden (Arbeiterparteitaktik, Einheitsfront, Entrismus usw.). Nur von dort aus und auf Basis einer erneuerten Programmatik, eines renovierten Marxismus führt der Weg zu einer neuen, der 5. Internationale.

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