Unter „Produktivkräften“ (PK) versteht der Marxismus alle „Kräfte“, die etwas produzieren bzw. mit denen etwas produziert wird, die also am Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur beteiligt sind. Im strengen Sinn zählt nur der materiell/geistig tätige Mensch als PK, da alle anderen PK – Technik, Organisation, Wissenschaft – letztlich nur Hervorbringungen des Menschen sind. Im weiteren Sinn können aber auch diese als „indirekte“ PK gelten. Im Kapitalismus ist das Proletariat die Hauptproduktivkraft, da es in den Industrieländern meist die Bevölkerungsmehrheit stellt und das Gros des globalen Reichtums erzeugt.
Marx sah auch die Natur als „Produktivkraft“ an. In seiner Kritik am Gothaer Programm der Sozialdemokratie (1875) schrieb er: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums (Anm.: wie das Programm behauptet). Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. (…) Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum.“
Wir wollen dazu ergänzen, dass die Natur meist keine Gebrauchsgüter fertig liefert, sondern auch hier erst die menschliche Arbeit die Gebrauchsfähigkeit der Naturprodukte ermöglicht. Selbst ein Apfel muss vom Baum gepflückt werden, um ihn essen zu können. Wind und Sonne schicken zwar keine Rechnung, doch mit Sonne und Wind kann kein Radio und keine Waschmaschine betrieben werden. Dazu muss die Energie aus Sonne und Wind erst in Strom umgewandelt werden – und dieser Vorgang ist keinesfalls kostenlos. Die Natur mag Quelle von Reichtum sein – letztlich ist sie sogar dessen einzige Quelle -, doch sie ist kein ökonomischer Faktor im strengen Sinn, denn alle Naturstoffe haben an sich keinen Wert (Preis), der ihnen anhaftet; dieser entsteht erst durch das Hinzukommen menschlicher Arbeit.
Die PK bewegen sich in einem historisch gegebenen sozialen Rahmen, den Produktionsverhältnissen (PV). PK und PV bedingen einander und konstituieren die Produktionsweise (PW) bzw. die „Gesellschaftsordnung“. Die PK sind in dieser Beziehung das agilere, vorwärts treibende Element. So erforderte etwa die Entwicklung des Eisenbahnwesens eine Vereinheitlichung der technischen und sozialen Strukturen (Gesetze und Regelungen, Gleissystem, Zeitangabe, Signale, Fahrpläne usw.). Diese gesellschaftlichen Bedingungen und Maßnahmen für die Anwendung der technischen PK nennen wir Gesellschaftliche Produktivstrukturen (GPS).
Im Zuge ihrer Weiterentwicklung kollidieren die PK immer stärker mit den PV, bis sie diese schließlich sprengen, um sich besser entwickeln zu können. Das geschieht oft in Form einer sozialen Revolution, die eine andere Klasse als Subjekt einer anderen PW an die Macht bringt. Marx schrieb: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ Das heißt jedoch nicht, dass der Kapitalismus nicht untergehen und vom Kommunismus abgelöst werden könnte, so lange er noch in der Lage ist, die PK zu entwickeln. Vielmehr ist zur Entwicklung jener PK, für die er eben nicht weit genug ist, eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft nötig. Wenn Marx im „Kommunistischen Manifest“ sagt, die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, so könnte man präzisieren: die Geschichte ist wesentlich die Geschichte der Entwicklung der PK.
Marx schreibt im „Kapital“: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.“ (MEW 23, 194 f) Das ist einseitig, denn gerade der Kapitalismus unterscheidet sich auch dadurch von allen früheren Formationen, dass er völlig andere Produkte herstellt als früher bzw. traditionelle Produkte verändert. Diese wiederum wirken auf die Produktion und die Bedürfnisse zurück. Die „Produktrevolution“ (PR), d.h. die Veränderung und Schaffung ganz neuer Gebrauchswerte, müsste auch ein bewusstes Ziel einer nach-kapitalistischen Produktionsweise sein, in der nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert von zentraler Bedeutung ist. Dann wäre das „Produktdesign“ entscheidend, denn Recycling, Haltbarkeit und damit Ressourcenverbrauch und Umfang von Neuproduktion hängen wesentlich davon ab. Im Kapitalismus geht es letztlich immer darum, möglichst viel Neuproduktion zu generieren („Wegwerfgesellschaft“), weil nur so der Kapitalkreislauf und die Erzeugung von Profit perpetuiert werden kann. Im Kommunismus hingegen ginge es darum, die Bedürfnisse mit möglichst wenig Neuproduktion zu sichern. Das setzt die permanente Erhöhung der Arbeitsproduktivität (betrieblich wie gesamtgesellschaftlich) voraus. Die Verbindung von möglichst hoch entwickelten Gesellschaftlichen Produktivstrukturen (GPS) mit der Produktrevolution (PR) ist eine wesentliche Grundlage kommunistischer Ökonomie.
Die Feudalgesellschaft war für die Entwicklung der modernen Industrie zu eng geworden, so dass die Bourgeoisie als Träger der neuen, höheren PW die Feudalordnung revolutionär stürzte. Heute ist die Bourgeoisie nicht mehr das fortschrittliche Subjekt der Produktivkraftentwicklung, sondern blockiert und pervertiert diese immer stärker und verhindert, dass die Entwicklung der PK dem Fortschritt der gesamten Menschheit zugute kommt und die großen Probleme der Welt (Umwelt, Armut, Kriege, Krisen) gelöst werden. Eine wirkliche Höherentwicklung der PK in dem Maße, wie es möglich wäre, ist nur möglich, wenn der zu enge Rahmen aus Privateigentum und Konkurrenz überwunden wird.
Bei der Umwälzung der PV geht der Marxismus zu recht davon aus, dass die Frage, wem die großen Produktionsmittel (Betriebe, Energiesystem, Verkehr, Banken usw.) gehören, eine zentrale Rolle spielt. Doch die Eigentumsfrage ist nur ein Teil aller PV, wo auch Verteilungsverhältnisse, Gesetze, Steuersysteme usw. eine Rolle spielen. Oft treffen wir im „Marxismus“ auf die Ansicht, dass das Privateigentum durch das Staatseigentum ersetzt werden soll. Bei Marx finden wir jedoch nirgends eine solche Auffassung. Er trat dafür ein, dass eine „Assoziation genossenschaftlicher Produzenten“ zur neuen Eigentümerin wird – ohne dass ein „separater“ Staat dabei agiert. Marx postulierte, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein würde. Das heißt freilich nicht, dass es keine allgemeine wirtschaftliche Koordination mehr geben würde, sondern dass diese demokratisch von unten aufgebaut werden muss. Eine wirkliche Vergesellschaftung der Produktionsmittel (PM) erfolgt also gerade nicht durch eine Verstaatlichung, sondern dadurch, dass die ProduzentInnen direkten (!) Zugriff auf sie haben. So wenig wie „der“ Bourgeoisie „die“ PM gehören können, sondern nur konkreten Kapitalisten konkrete Teile aller PM, so wenig kann „die“ Wirtschaft „dem“ Volk gehören. Letztlich bedeutet Staatseigentum – ob im Kapitalismus oder im „Realsozialismus“ – immer nur, dass die PM statt dem Einzeleigentümer oder der Eigentümergruppe (AG, GmbH) dem Staat gehören – in beiden Fällen haben ProduzentInnen und KonsumentInnen keinen oder nur marginalen Einfluss auf die PM: sie bleiben enteignet.
Die proletarische Revolution muss – wenn sie ihre historische Funktion erfüllen will -, das Proletariat zur wirklichen Eigentümerin und zum Subjekt der sozialen Entwicklung machen. Nur so ist es möglich, die Arbeitsproduktivität der Gesellschaft über die der bürgerlichen Gesellschaft zu heben. Dazu muss die Arbeiterklasse selbst die Verwaltung, Planung, Kontrolle von Produktion und Verteilung übernehmen und darf sie nicht einem „Dritten“ – ob Kapitalist oder Bürokrat – überlassen. Der Stalinismus ist gerade daran gescheitert, dass er die Subjektwerdung des Proletariats und eine wirkliche Vergesellschaftung durch die Verstaatlichung verhindert hat. Die Staatswirtschaft war für die Entwicklung bestimmter PK (nachholende Entwicklung, extensives Wachstum) „weit genug“ – für die Anforderungen der modernen PK-Entwicklung (IT, „Wissens-Ökonomie“, Automatisierung usw.) jedoch war sie „zu eng“.