Für die Erarbeitung einer Programmatik der Freien Linken!

Hanns Graaf (www.aufruhrgebiet.de)

Nachdem die Corona-Maßnahmen nun gelockert wurden, wird es voraussichtlich bald wieder möglich sein, reale Treffen durchzuführen. Auch weil im Herbst ein erneuter Lockdown kommen könnte, sollte die Freie Linke (FL) damit beginnen, ihre programmatische Grundlage zu klären und ihre organisatorischen Strukturen auf- bzw. auszubauen. Letzteres kann allerdings nur provisorischen Charakter haben, da Strukturen immer auf einem Programm beruhen müssen und der Durchsetzung der dort definierten Ziele und Methoden dienen sollen.

Bisher waren Politik und Aktionen der FL verständlicherweise stark vom Corona-Thema bestimmt. Keine politische Organisation kann aber auf Dauer nur auf ein Thema fokussiert sein. Die politische Ausrichtung ist auch nicht nur von konkreten, tagesaktuellen Fragen aus bestimmbar, sondern muss sich v.a. von objektiven Fragen ableiten: von der Analyse des Kapitalismus, des Klassenkampfes, der Arbeiterbewegung und der Linken und von deren historischen Erfahrungen.

Das mag selbstverständlich wirken. Doch wenn man sich die Linke (vom Reformismus bis ganz „Linksaußen“) anschaut, dann wird schnell klar, dass die einen, die Reformisten, wenig Interesse an einer Aufarbeitung haben, und die anderen, die „marxistischen“ und „revolutionären“ Linken, sich sektiererisch und selbstgenügsam in ihren Miniorganisationen und ideologischen Glashäusern mit ihrem jeweiligen Ismus eingerichtet haben. Ihr Niveau an praktischer Kooperation und politischer Debatte ist sehr niedrig. Keine dieser Gruppen ist dazu bereit und in der Lage, sich ernsthaft und systematisch der Aufgabe zu stellen, die seit Jahrzehnten anhaltende tiefe Krise des anti-kapitalistischen Lagers zu überwinden und dabei über den Rahmen ihres eigenen Projektes hinaus zu schauen. Diese Misere prägt nicht nur Deutschland und Europa, sondern die ganze Welt. Als Leo Trotzki vor über 80 Jahren von der „historischen Führungskrise des Proletariats“ sprach, traf er den Kern der Sache – nur ist heute die Situation eher noch schlechter als damals.

Trotzki meinte mit Führungskrise v.a., dass die stalinistischen, reformistischen und anarchistischen Organisationen nicht bereit und in der Lage seien, revolutionäre Situationen zu nutzen und den Klassenkampf darauf auszurichten. Doch der Trotzkismus selbst hat seine Hausaufgaben auch nicht gemacht und – trotz bestimmter Innovationen – diverse Fehler der II. Internationale und des „Leninismus“ übernommen (she. unten). Das war der Hauptgrund, weshalb auch die IV. Internationale die Führungskrise nicht lösen konnte.

Von keiner der aktuell existierenden linken Organisationen und Pseudo-Internationalen kann eine Gesundung und Reformierung der revolutionären Linken ausgehen. Einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden ist u.E. nur möglich, wenn es gelingt, ein höheres Level von Kooperation und Diskussion innerhalb der Linken zu erreichen und eine höhere Qualität und Aktivität der praktischen, theoretischen und medialen Aktivitäten erfolgt (was ohne Kooperation unmöglich ist).

Letztlich ist dabei entscheidend, wie sich die Linke zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen verhält. Linke, die etwa den offiziellen Hype um die Klimakatastrophe nahezu unkritisch mitmachen, dem “grünen“ mainstream hinterher rennen oder nahezu gläubig die staatliche Corona-Politik unterstützen, haben sich (auch in vielen anderen Fragen) als unfähig zur Analyse der Realität erwiesen. Schon deshalb ist es eine Illusion zu glauben, dass eine neue revolutionäre Linke eine Art „Gemischtwarenladen“ sein könne und sich alle unter einem Dach vereinen könnten. Die Situation heute ähnelt jener in Russland zur Jahrhundertwende, als Lenin die Überwindung des Zirkelwesens forderte, dazu aber auch einen energischen politischen Kampf führte.

Wie haben gesehen, dass es nicht an Krisen und Entwicklungen mangelt, die Menschen politisieren und zu Widerstand animieren (Agenda-Politik von Rot/Grün, Finanzkrise 2008, Griechenlandkrise, Corona-Krise usw.). In Deutschland erleben wir schon seit 20 Jahren den Niedergang der SPD, die Stagnation der LINKEN und der Gewerkschaften. International ist das Bild ähnlich: Ansätze wie die Anti-Globalisierungsbewegung, die Sozialforen, Syriza, Podemos, Black lives matter u.v.a. sind Ergebnisse und zugleich Faktoren von Protest und Widerstand, versanden jedoch immer wieder, u.a. weil sie sich nicht oder kaum auf das Proletariat beziehen, kaum oder gar nicht anti-kapitalistisch orientiert sind, keine Taktik gegen den dominanten Reformismus haben, einen Klassen-indifferenten Volksfrontcharakter besitzen und sich nicht der Aufgabe annehmen, eine neue Arbeiterpartei aufzubauen – als Alternative zu den bürgerlichen bzw. reformistischen Kräften.

In Deutschland gab es 2005 mit der WASG, der daraus entstandenen LINKEN und jüngst mit der Bewegung „Aufstehen“ drei potentielle Ansätze für den Aufbau einer klassenkämpferisch-revolutionären Neuformierung bzw. Umgruppierung. Alle scheiterten aber, u.a. weil die „radikale Linke“ außen vor blieb oder sich dem Reformismus anpasste, um ihn „nach links zu drängen“. So wurde den Refomisten (Gysi, Lafontaine, Wagenknecht u.a.) komplett das Feld überlassen. Zugleich zeigen diese Ansätze aber auch, dass es durchaus ein Potenzial „links vom Reformismus“ gibt.

Insofern muss sich auch die FL der Frage stellen, wie eine neue antikapitalistisch-revolutionäre Kraft in Deutschland (und darüber hinaus) aufgebaut werden kann: Was heißt das programmatisch?, Welche Taktiken sind möglich?, Mit wem kann man kooperieren? Usw.

Ein kurzer historischer Rückblick

Wir meinen, dass die heutige (und inzwischen historische) organisatorische Schwäche und die Zersplitterung der „radikalen“ Linken v.a. in ihrer fehlerhaften Programmatik wurzelt und wesentlich Ausdruck mehrerer historischer Faktoren ist:

1. resultiert sie (indirekt) daraus, dass im Schaffen von Marx und Engels bestimmte, für den Klassenkampf zentrale, Fragen wenig Raum einnehmen: konkrete taktische Fragen, der Charakter der Übergangsgesellschaft, z.B. deren „Staats“struktur und die Ökonomie usw. Es wird zu wenig bedacht, dass Marx und Engels noch mit einem „Frühkapitalismus“ konfrontiert waren, der in jeder Hinsicht noch wenig entwickelt war. Die „reife Phase“ des Kapitalismus (Imperialismus) begann erst Ende des 19. Jahrhunderts, also nach ihrem Tod.

2. ist sie eine Folge der Degeneration bzw. der von Beginn an mangelhaften Programmatik der II. Internationale, der aus ihr folgenden Niederlagen des Proletariats im und unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg sowie der daraus folgenden Spaltung. Die Entstehung eines „separaten“ revolutionären Flügels war zwar notwendig und stellte einen großen Fortschritt dar, doch zugleich war er auch mit einer gewissen Einseitigkeit und Unreife verbunden, die sich u.a. darin ausdrückten, den revolutionären Bruch stark zu betonen, dafür aber den „Reform-Kampf“ zu unterschätzen und die Verbindung zwischen beiden nicht ausreichend herzustellen.

3. Mit dem Sieg der Russischen Revolution 1917 und der Gründung der Komintern erfolgte ein starker Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung. Doch dieser setzte sich nicht fort: alle Revolutionen außerhalb Russlands scheiterten an der Schwäche bzw. politischen Unreife der KPen. Sowjetrussland gelang es zwar, sich im Bürgerkrieg zu behaupten, doch die Bedingungen für die Weiterentwicklung Richtung Sozialismus waren sehr kompliziert. Sowjetrussland war tw. isoliert, es war rückständig, Hunger und Wirtschaftskrise belasten das Land, das Sowjetsystem war nur noch eine „leere Hülle“ (Trotzki). Andere Revolutionen scheiterten. Das förderte den Aufstieg der Bürokratie, deren Zentrum Stalin war. Doch als die objektiven Bedingungen besser waren – ab 1921, als der Bürgerkrieg gewonnen war und die NÖP begann -, versäumte es die Partei, energisch gegen die Bürokratie zu kämpfen. Eine Ursache dieses Versagens waren bestimmte Elemente der politischen Doktrin der Bolschewiki: a) das einseitige Verständnis von Klassenbewusstsein als nur politisches Bewusstsein, b) die einseitige Überbetonung der Rolle der Partei, c) die Unterschätzung der räte-demokratischen und genossenschaftlichen Selbstorganisation des Proletariats, d) das unzureichende Verständnis des Charakters der nachrevolutionären Übergangsgesellschaft, e) die Orientierung auf eine „Staatswirtschaft“.

Die Überbetonung und inflationäre Ausweitung des Partei- und Staatsapparats, ihre zunehmende Abkopplung von Räteprinzipien und der damit erfolgenden politischen und ökonomischen Entmachtung des Proletariats und der Massen führte bis Ende der 1920er zu einem auf Ausbeutung von Lohnarbeit beruhenden, staatskapitalistischen und terroristischen System, dessen herrschende Klasse die Bürokratie war, die den ausschließlichen Zugriff auf die Produktionsmittel und die Gesellschaft hatte.

4. In Folge dieser Entwicklung degenerierte auch die Komintern, die Außenpolitik Stalins wurde – nach einer zentristischen Phase („3. Periode“, Sozialfaschismus-These) bis Anfang der 1930er komplett bürgerlich, imperialistisch und offen konterrevolutionär: die Volksfrontpolitik. Das zeigte sich u.a. im Agieren der UdSSR und ihrer politischen Agenturen in der Spanischen Revolution und bei ihrer fatalen Politik ab 1944/45, wo sie überall den Sturz des Kapitalismus boykottierte (Frankreich, Italien, Griechenland) und in Osteuropa jede Form von Rätedemokratie bekämpfte und von Beginn an staatskapitalistische und undemokratische Ordnungen durchsetzten. 1945 etablierte sich so die bi-polare Nachkriegsordnung, in der sich zwei – wenn auch unterschiedliche – reaktionäre Blöcke gegenüber standen: Reformismus und Stalinismus (und ihre diversen Varianten, z.B. der Maoismus), die weltweit die „anti-kapitalistische“ und Arbeiterbewegung beherrschten.

5. Versuche einer Neuformierung der Linken (Trotzkismus, 68er) scheiterten wesentlich daran, dass sie trotz positiver Ansätze letztlich nicht in der Lage waren, die großen programmatischen Defizite zu überwinden. So mangelte es etwa der IV. Internationale daran, die programmatischen Fehler der Bolschewiki (she. oben), die eine Abweichung von Marx darstellten und einige Fehler der II. Internationale perpetuierten, zu überwinden. Eine zentrale Schwäche bestand auch darin, die positiven Elemente jeweils anderer Strömungen der Linken, v.a. des Anarchismus („Anti-Staatlichkeit“, Betonung des Selbstverwaltungsaspekts) und des Rätekommunismus, schöpferisch zu verarbeiten.

Die großen und zunehmenden theoretischen Defizite des „Marxismus“, seine Dogmatisierung, die schon zu Zeiten der II. Internationale begann und durch den Stalinismus geradezu epidemische Ausmaße annahm, verschütteten die grundlegend revolutionär-humanistische Substanz des Schaffens von Marx und Engels, behinderten eine kritische Sicht darauf und damit die Weiterentwicklung ihrer Ideen. Der „Marxismus“ blieb immer weiter hinter den Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes zurück. Beispiele dafür sind die Unterschätzung der „Frauenfrage“ oder der Frage der Ökologie, die somit von „links“-bürgerlichen Kräften dominiert werden konnten. Auch das enorme Wachstum der lohnabhängigen Mittelschicht v.a. in den imperialistischen Ländern, die Verwissenschaftlichung und Medialisierung sowie die zunehmende Rolle des „Verwaltungs-Staates“ werden analytisch und programmatisch zu wenig erfasst.

Der „Marxismus“ hat aufgrund dieser Probleme heute weitgehend seine revolutionäre Sprengkraft und seine Attraktivität für die Vorhut der Klasse eingebüßt. Er ist immer mehr zu einem Dogma zur Selbstbestätigung linker Sekten geworden. Das Niveau erheblicher Teile der „radikalen“ Linken (v.a. Autonome, Antifa, Stalinisten) ist kaum noch zu unterbieten. Das Desinteresse der Bevölkerung gegenüber der linken Szene ist insofern verständlich. Im „wissenschaftlich-medialen“ Milieu gab und gibt es zwar durchaus ernstzunehmende Beiträge und Debatten, jedoch gibt es zwischen diesem Milieu und der organisierten Linken heute kaum noch Interaktion.

Gleichwohl meinen wir, dass Marx immer noch der wesentliche, wenn auch nicht der einzige Ausgangspunkt für die Erneuerung der Linken ist. V.a. müssen wir uns auf die Methodologie von Marx besinnen, anstatt willkürlich mit Zitaten zu hantieren, mit denen die Richtigkeit der eigenen Position „bewiesen“ werden soll, „weil Marx es ja auch so sah“.

Was ist für uns die Marxsche Methodik? 1. der Materialismus. Dieser bedeutet u.a., von Fakten und Tatsachen auszugehen und nicht nur und primär von Meinungen darüber, d.h. von Ideologie. Bei der Klima- und Energiepolitik kann man z.B. sehen, dass das Gros der „radikalen“ Linken genau dieser falschen „ideologischen“ Methode der „grünen“ Szene und deren pseudo-wissenschaftlichen Positionen folgt und auf den Leim geht. Die ständigen links-rechts-“Argumente“, die Gender-Ideologie und die Cancel culture zeigen, dass bürgerliche „Wissenschaft“ und tw. irrationale Sichtweisen weit in die Linke hineinwirken – kein Wunder, haben doch auch alle Linken die Institutionen bürgerlicher Bildung und „Wissenschaft“ durchlaufen.

2. ist Marx´ Methode eine dialektische. Sie versucht, nicht nur Einzelaspekte zu beachten, sondern die Totalität von Verhältnissen zu erfassen, ihre Wechselwirkungen, Widersprüche, qualitativen Umschläge usw. Beim Klimakatastrophismus ist z.B. der starke Hang zum Monokausalismus (CO2) zu beobachten, der auf Kosten der Betrachtung der weitaus wichtigeren natürlichen Klimafaktoren (Sonne, Meere, Bewölkung, Milankovic-Zyklen usw.) und deren Wechselwirkungen geht.

3. ist die Marxsche Methode eine historisch-kritische. Diese muss v.a. auch auf den Marxismus selbst angewandt werden, um auch seine Irrtümer, Leerstellen usw. und deren historische Bedingtheit indentifizieren zu können. In der „offiziellen“ Klimaforschung – um bei diesem Beispiel zu bleiben – werden oft nur kurze, „gegenwärtige“ Zeiträume betrachtet und die Klimageschichte weitgehend ausgeblendet, so dass kurzfristige und begrenzte Veränderungen zur „nie dagewesenen Katastrophe“ umgedeutet werden können.

Diese Darlegungen sind natürlich kein Programm noch sind sie ausreichend für die Erarbeitung eines solchen. Sie sollen lediglich den Blick dafür schärfen, welche Aspekte dabei u.a. berücksichtigt werden sollten. Wir wissen, dass die Erarbeitung einer neuen Programmatik zur Überwindung des Kapitalismus kein einmaliger Akt und schwierig ist. Andererseits verfügen wir aber auch über Wissen und Erfahrungen, die weit über das hinausgehen, was Marx „wusste“.

Die FL ist eine neue Chance, die Linke und perspektivisch die Arbeiterbewegung zu „renovieren“ und zumindest einen Beitrag dazu zu leisten.

5 Gedanken zu „Für die Erarbeitung einer Programmatik der Freien Linken!“

  1. Lieber Hanns,

    zunaechst, ich bin nicht nur Anarchist. Ich bin Kantianer, Marxist, Sozialist, Kommunist und Anarchist und natuerlich Demokrat. In jeder Bezeichnung steckt ein Stueck dessen, was uns ausmacht.

    Dein Zitat von Karl Marx hat mir sehr gut gefallen. Ich hoffe und wuensche, es waere so. Nur, was wir lesen koennen ueber seinen Konflikt mit bakunin und sein Wirken auf die 1.Internationale sagt mir etwas anderes. Aehnliches gilt auch fuer die Reaktion von Karl Marx auf Paul Lafargue, seinem Schwiegersohn, zu seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“, was ja direkt gegen den organisierten Arbeitszwang gerichtet war und nicht gegen kreative Taetigkeiten.

    Aber der kern ist ja etwas anderes. Die radikale Dezentralisierung, die ueber lokale/regionale oekonomische Unabhaengigkeit erreicht werden kann, weil sie fuer uns zur politischen Selbstbestimmung als Vorrausetzung notwendig steht. Ich will mich nicht mit den parasitaeren politischen Ueberbauten beschaeftigen, sondern ausschliesslich mit dem, was uns in den Stand versetzt, selbstbestimmt und selbstorganisiert unser Leben zu gestalten.

    Vielleicht liegt genau darin unsere Differenz.

    mit lieben gruessen, willi
    Asuncion, Paraguay, willi.uebelherr@gmx.de

    1. Lieber Willi,

      die Dezentralisierung ist im Industriezeitalter nur bedingt umsetzbar. Es ist zwar unsinnig, Zahnbürsten in China herzustellen, um sie dann um die Welt zu schippern, doch die Alternative dazu ist nicht, dass jeder Landkreis alles selbst herstellt, sondern eine demokratische Planung der Produktion. Das haben auch die Anarchos in Spanien ab 1936 begonnen umzusetzen – auf Basis von Genossenschaften. Das hat insgesamt gut funktioniert, im Gegensatz zur Staatswirtschaft der Bolschewiki und später Stalins. Ich habe das in mehreren Broschüren dargelegt. Die Struktur der Produktion muss dem Stand der Produktivkräfte entsprechen. Eine kleine Autofabrik, die jährlich nur 10.000 Stück produziert, ist unwirtschaftlich. Allein die Vernetzung von Produktions- und Lieferketten in der Industrie führt jedes Modell von Autarkie und kompletter Dezentralisierung ad absurdum. Urban gardening ist sinnvoll, kann jedoch niemals die Versorgung von Großstädten sichern.

      Das Agieren von Marx gegenüber Bakunin war tatsächlich tw. unseriös. Trotzdem hatte er in zentralen Punkten recht. Bakunins Strategie und Organisationsmodell waren letztlich unbrauchbar. Da waren später Durruti oder die Plattformisten (u.a. Machno) weiter. Leider ist es nie zu einem wirklichen Dialog zwischen Marxisten und Anarchisten gekommen. Beide Seiten haben sich v.a. durch Einseitigkeit und Ignoranz ausgezeichnet. Bei den Anarchisten ist u.a. kennzeichnend, dass sie glauben, der „Marxismus“ der II. Internationale sei Marx. Die „Marxisten“ wiederum sahen nicht die wichtigen Ansätze von Selbstverwaltung und Genossenschaftlichkeit beim Anarchismus, weil sie stark auf den Staat orientiert waren. Das war bei Marx nicht so, v.a. nach seiner Analyse der Pariser Kommune. Viele Marxisten lehnten – zu recht – den individuellen Terrorismus einiger Anarchisten ab, glaubten aber, das wäre „der“ Anarchismus“. Leider hat auch der Anarchismus sich nicht weiterentwickelt, er ist genauso degeneriert wie heute der „Marxismus“. Schauen wir uns in Deutschland die Autonomen und die Antifa an: das v.a. ist der Anarchismus heute. Autonome und Antifas sind an politischer Dämlichkeit kaum zu überbieten.

      1. Lieber Hanns,

        dem Ende deiner Antwort stimme ich sehr zu. Dass wir von solchen Verirrungen reden koennen, hat viel mit der Verlagerung unserer Fokussierung auf Nebenfelder zu tun. Da werden dann Zustaende und Verhaeltnisse wichtig, die eigentlich nur Symptome von etwas ganz anderem sind, das sich nicht zeigen will.

        Dein Text ist voll von Pauschalitaeten. Selbst in Kurzform brauchen wir sie nicht. Umsomehr brauchen wir den klaren Blick fuer das Wesentliche.

        Generell formuliere ich den Grundwiderspruch in menschlichen Gemeinschaften beliebiger Groesse als: Egoismus versus Communismus, das Mein/Mir oder das Wir/Uns. Die konkreten und diskreten Formen sind nur Buehnenkonstruktionen fuer das, was sich seinen Weg bahnen will. Fuer den Kapitalismus ist es einfach zu erklaeren. Ohne die Akzeptanz, frei oder zwanghaft, einer spekulativen Wertabstraktion ist das Ganze nicht wirksam. Ich muss mich also nicht um die Verwertungsanstrengungen dieser spekulativen Wertabstraktas, das Geld und seine Geschwisterformen, kuemmern, sondern nur darum, was wirklich wertvoll ist und dies verfolgen.

        Der Hintergrund in meiner Betrachtung ist, dass wir alle, wenn wir unser Leben beginnen, reine Egoisten sind und erst mit der Entwicklung unseres wirklichen Ichs, unserem Selbstwertgefuehl und unserer rationalen Erkenntnis, dass wir als Individuen die Gemeinschaft brauchen, koennen wir diesen frueh-infantilen Zustand verlassen. Tatsaechlich sehen wir aber, dass die meisten der Akteure in ihrer frueh-kindlichen Entwicklungsphase stecken geblieben sind und auch dann, wenn sie gross, laut und schwer sind, sich immer noch wie Kleinstkinder verhalten. Und wenn wir damit uns die AkteurInnen der sogenannten „Linken“ ansehen, dann wissen wir, worum es bei ihnen eigentlich geht.

        Ich schlage ein allgemeines Ziel vor, um etwas stabiler durch unser Leben gehen zu koennen, ohne die Orientierung zu verlieren:
        Die Stabilitaet unserer materiellen Lebensgrundlagen fuer Alle in allen Regionen auf unserem Planeten.

        Die direkte Konsequenz dessen ist das „globale Netzwerk fuer freie Technologie“, weil nur das uns hilft, uns ganz real unseren materiellen Lebensgrundlagen zuzuwenden. Und dabei entstehen 2 Prinzipien fuer dieses Netzwerk:
        „global denken, lokal handeln“ und „Wissen ist immer Erbe der Menschheit“.

        Global koennen wir agieren, weil die Gesetze der Natur, um deren Verstaendnis und Anwendung es ja geht, global und univeral gelten. Die Materialisierungen finden allerdings notwendig immer lokal statt, weil wir nunmal lokal leben.

        Damit sind deine pauschalen Annahmen sofort als wertlos zu bezeichnen und transportieren eigentlich nur substanzlose Hypothesen. Sie moegen fuer dich in deiner individuellen Existenzform gelten, abhaengig von deinem sozialen Milieu, aber eben auch nur dort. Und auch dort, dem Vielen, finden wir die Vielfalt.

        So komme ich zum Schluss, dass du deine ganze Kritik doch erstmal auf dich selbst richten solltest, um dem Fehler der Projektion dich entziehen zu koennen.

        mit lieben gruessen an dich und Alle, willi
        Asuncion, Paraguay

  2. Lieber Hanns,
    nach dem lesen deiner Analyse und deines Vorschlags musste ich erstmal etwas warten, um es sich setzen zu lassen. Ich war wirklich entsetzt ueber deine Naivitaet. Ein gut ausgebildeter geist versteht die Wirklichkeit nicht.

    Das Problem der sogenannten „Linken“ oder „Revolutionaeren“ ist ihre Staats- und Autoritaets- und Apparate-Hoerigkeit. Und so liegt es nahe, dass sie in dem Corona-Wahn-Theater genau dies zum Ausdruck bringen. Niemals werden diese Leute eine aus der Basis heraus sich entwickelnde gesellschaft unterstuetzen, weil fuer sie immer Apparatenkonstrukte dies tun muessen, um eine Monotoie und einen Gleichschritt erzeugen zu koennen, In deinen Analysen taucht auch dies auf.

    Du referenzierst „Aufstehen“, ich kenne sie gut, aber blendest voellig die „Querdenker“ Bewegung aus, die einzige kraft, die eine wirkliche Aufloesung des elitaeren Wahnsinns und seiner Verbloedung realisieren kann. Das anarchistische wird von dir so nebenbei gestreift, obwohl es ein wesentliches Fundament unserer Zukunft darstellt: Keine Herrschaft von Menschen ueber Menschen.

    Und deine ganzen historischen Bezuege zeigen uns dies. Aber aus irgendeinem Grund, der fuer mich nicht nachvollziehbar ist, verweigerst du dich gegen diese einfache Wahrheit. Schau dir alle sogenannten „Revolutionen“ oder „Umbrueche“ oder Konstrukt-Setzungen“ an und du findest immer, auch in deinem Text, und auch bei Karl Marx, weniger bei Friedrich Engels, die absolute Orientierung auf Apparate und damit die Aufloesung der „autonomen Subjekte“, ohne die eine Transformation nie moeglich sein wird.

    Unsere Zukunft, wenn sie denn in Richtung freiheit und Selbstbestimmung gehen sollte, gruendet sich, von heute betrachtet, auf eine radikale Dezentralisierung. Damit machen wir den parasitaeren politischen Ueberbau ueberfluessig. Und nur dieser Apparat verhindert uns heute ein freis, selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben.

    Allerdings verschieben wir damit die Anforderungen auf uns selbst. Vielleicht liegt genau hier „der Teufel begraben“. So viele menschen scheuen sich massiv davor, Verantwortung fuer sich und ihre Umgebung zu uebernehmen. Ein produkt ihrer Konditionierung, klar. Nur, irgendwann muessen wir diesen stetigen Kreislauf durchbrechen und zu einer Spirale uebergehen.

    1. Hallo Willi,

      Deine positiven Bezüge zum Anarchismus teile ich weitgehend, nur hat der Anarchismus leider noch nie über eine Organisation und Programmatik verfügt, die in zentralen Klassenkämpfen, z.B. in Spanien, den Sieg hätten bringen können. Du machst (wie alle Anarchisten) den Fehler, nicht zu verstehen, dass das Ergebnis einer Revolution eine Übergangsgesellschaft ist und kein Kommunismus. Insofern können bestimmte Prinzipien und Strukturen auch erst in Ansätzen ausgeprägt sein. Ich stimme Deinen Gesellschafts-Idealen voll zu – nur müssen dafür erst die realen materiellen Bedingungen geschaffen werden.

      Deine Ansicht, dass Marx v.a. auf „Apparate“ gesetzt hätte, ist falsch. Er hat ganz klar eine genossenschaftliche Gesellschaft angepeilt und die These vom Absterben des Staates vertreten. Als Beleg dafür z.B.: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine “forces propres“ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (Marx, Zur Judenfrage)

      Es ist wichtig für den Marxismus, auch vom Anarchismus zu lernen – das gilt aber noch mehr auch umgedreht.

      Dein Glaube daran, dass die (künftige) Gesellschaft nur „basisdemokratisch“ funktionieren kann, ist weltfremd. Schon die Organisation z.B. des Berliner ÖPNV erfordert bestimmte Strukturen und entsprechende Fachgremien. Nur müssen sie in ein Räte-System eingebettet sein. Wie dabei eine Bürokratisierung verhindert und der Übergang zu einer immer mehr ohne „Staat“ funktionierende Gesellschaft vollzogen werden kann, ist eine der großen Fragen der Arbeiterbewegung. Weder der traditionelle „Marxismus“ noch der Anarchismus haben diese Frage ausreichend beantwortet. Ein Grund dafür ist die in der gesamten Linken verbreitete Ignoranz, Einäugigkeit und Dogmatismus.

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