Teil 2: Marxismus und Sozialdemokratie
Hanns Graaf
Die deutsche Sozialdemokratie war – bis 1917, als der Bolschewismus und später der Stalinismus prägend wurden – das Vorbild und der einflussreichste Faktor in der internationalen Arbeiterbewegung – in zweierlei Hinsicht: 1. waren die SPD und die deutschen Gewerkschaften die am schnellsten wachsenden, stärksten und erfolgreichsten proletarischen Formationen. 2. beeinflussten sie die theoretisch-programmatische Ausrichtung der Arbeiterbewegung nachhaltig.
An der Wende zum 20. Jahrhundert war der Kapitalismus voll entwickelt: a) der Weltmarkt war etabliert, wenn auch noch v.a. als Handelsplatz, weniger als Finanz- und Technologiemarkt; b) die industrielle Großproduktion hatte eine dominante Stellung; c) die Arbeiterklasse war eine massenhafte Klasse geworden, in einigen Ländern stellte sie bereits die Bevölkerungsmehrheit; d) das Proletariat hatte sich schon einen gewissen sozialen und politischen Bewegungsspielraum geschaffen (Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, „Sozial“staat). Um die Jahrhundertwende bildete sich der Imperialismus als „modifizierter“ Kapitalismus heraus. Große Konzerne und Monopolverbände, das Finanzkapital und wachsende Aggressivität beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt bestimmten nun das Bild. Nachdem die britische Bourgeoisie über Jahrzehnte die Welt und deren Wirtschaft dominiert hatte, drängten nun mit Amerika und Deutschland neue Hauptdarsteller auf die Bühne.
Nach dem Tod von Marx (1883) und Engels (1895) fiel den (überwiegend deutschsprachigen) Führern und Theoretikern der II. Internationale die Aufgabe zu, den Marxismus theoretisch und programmatisch weiterzuentwickeln und für die politische Praxis größerer Organisationen unterschiedlicher Länder und Klassenkampfsituationen nutzbar zu machen. In der Rückschau bietet sich uns ein differenziertes Bild des Wirkens der nachmarxschen Marxisten. Bebel, Kautsky, Mehring, Bernstein, die Adlers, Hilferding, Plechanow, Luxemburg, Lenin u.a. haben ohne Frage viel dazu geleistet, die Ideen und Werke von Marx und Engels zu verbreiten und zu popularisieren. Zu etlichen Fragen entstanden Beiträge, in denen die Methode des Marxismus konkret und korrekt angewendet wurde. Die SPD u.a. Organisationen, tw. sogar die deutschen Gewerkschaften, die stark von der Sozialdemokratie beeinflusst waren, beriefen sich auf den Marxismus als ideologischer Grundlage.
Wesentliche Elemente dabei waren u.a.: Bezug auf die Arbeiterklasse als historisches Subjekt, sozialistisches Endziel, Enteignung des Kapitals. Diese allgemeinen Prämissen wurden mit dem Kampf für die Ausweitung der bürgerlichen Demokratie, der Verbesserung der sozialen Lage, dem Kampf gegen Krieg und Militarismus usw. verbunden. Dabei zeigte sich von Beginn an und zunehmend aber die Tendenz, die marxistischen Grundlagen als reine „Prinzipien“ zu behandeln, die mit der politischen Praxis nur locker verbunden waren. Das hatte z.T. damit zu tun, dass etwa die deutsche Sozialdemokratie lange Zeit nur halblegal agieren konnte und zwar ihre Organisationen aufbauen und Wählerstimmen und Reichstagsmandate sammeln, jedoch in den realen sozialen Strukturen, v.a. im Staatsapparat, keine Rolle spielen konnte (besonders ausgeprägt war diese „Desintegration“ auch im zaristischen Russland). Als Folge davon hatten die marxistischen „Grundüberzeugungen“ v.a. zwei Funktionen: die Schaffung eines proletarischen „Korpsgeistes“ und einer „Zukunftsvision“. Weit weniger spielten sie eine Rolle für die konkrete Festlegung der Alltagspolitik der Partei – und noch weniger der Gewerkschaften. Der „Marxismus“ a la Sozialdemokratie war weniger ein strategisches und taktisches System zum Kampf gegen den Kapitalismus als eine Art „Glaubensbekenntnis“.
Die Folge davon war, dass in der praktischen Politik der Sozialdemokratie und v.a. der Gewerkschaften immer mehr rein reformistische, auf demokratische und ökonomische Fragen beschränkte Forderungen dominierten. Die marxistische Programmatik (soweit überhaupt vorhanden) spielte immer mehr nur noch in Sonntagsreden und auf Parteitagen eine Rolle. Typisch dafür war der Zentrismus a la Kautsky, des angesehensten Marxisten um die Jahrhundertwende.
Der Revisionismus-Streit
Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte der Übergang zum imperialistischen Stadium des Kapitalismus. Der in Programmatik und Praxis immer stärker aufscheinende Widerspruch zwischen „marxistischem“ Anspruch und reinem Reformismus drängte nach einer Lösung. Während sich Bebel und Kautsky mit „marxistischen Glaubensbekenntnissen“ zufrieden gaben und einer grundsätzlichen Klärung auswichen, griff Eduard Bernstein die Frage in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899) auf seine Art offensiv auf.
Bernstein formulierte die Diskrepanz zwischen Prinzipien und Praxis am deutlichsten und plädierte für eine stärkere Betonung der reformistischen Elemente, ohne aber das sozialistische Endziel aufzugeben. Damit provozierte er die heftige „Revisionismus“-Debatte zwischen ihm und Kautsky und Luxemburg. Letztere warfen ihm überwiegend zu recht vor, dass er den Marxismus methodisch über Bord werfen würde. Allerdings gingen sie nicht wirklich auf einige durchaus berechtigte Aspekte in Bernsteins Positionen ein, so etwa darauf, dass sich die Sozialstruktur des modernen Kapitalismus in bestimmten Fragen nicht so entwickelte, wie es Marx angenommen hatte. Daneben forderte Bernstein, sich genauer mit der Frage des Genossenschaftswesens zu befassen, was bis heute nicht wirklich erfolgt ist.
Die Kritik der Linken, v.a. Luxemburgs, an Bernstein Positionen hatte den Mangel, sehr allgemein und grundsätzlich zu sein, jedoch keine konkrete methodisch-programmatische Antwort darauf vorzulegen, wie Reformpolitik und Revolution besser verzahnt werden könnten. Kautsky und Luxemburg verteidigten die marxistische „Orthodoxie“, sie entwickelten sie aber – zumindest in ihrer Kritik an Bernstein – nicht weiter. Dieser Mangel des linken Flügels der SPD erleichterte es so auch ungewollt den Rechten, v.a. dem Gewerkschaftsflügel, ihren Reformismus weiter zu praktizieren.
Heute gilt Bernstein als „Revisionist“ und Exponent des rechten Flügels. Doch tatsächlich war er Zentrist, was sich in vielen Situationen zeigte, wo er sich gegen die Rechten stellte, z.B. in der Generalstreikfrage. Er wurde später auch nicht zufällig Mitglied der USPD. Auch der Vorwurf des Revisionismus trifft nur zum Teil zu. Zunächst ist es nicht nur opportun, sondern auch dringend notwendig, den Marxismus bzw. die eigenen theoretisch-programmatischen Grundlagen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu modifizieren. Insofern spricht aus dem Vorwurf des Revisionismus schon eine Tendenz, den Marxismus als Dogma zu betrachten. Zudem: eine gewisse methodische Revision von Marx unternahm auch Rosa Luxemburg mit ihrer Krisentheorie. Außerdem ist zu bedenken, dass Marx und Engels so etwas wie ein taktisches politisches System nirgends entwickelt haben, so dass es da auch nur bedingt etwas zu revidieren gab.
Bernstein wies – weitgehend durchaus zu recht – darauf hin, das bestimmte Prognosen von Marx bezüglich der Entwicklung des Kapitalismus nicht eingetroffen waren, v.a. hinsichtlich der Klassenstruktur und der strukturellen Entwicklung des Kapitals (Konzentration, Zentralisation). Dazu führt er umfangreiche empirische Daten an. Er besteht darauf, dass diese Fragen in der SPD ernsthafter und grundsätzlicher diskutiert werden. Diese Haltung hebt sich zunächst einmal positiv von der Bebels und Kautskys ab. Bernstein reflektiert die positiven Erfahrungen mit dem Genossenschaftswesen und beklagt völlig zu recht, dass diese Frage von der SPD nicht diskutiert wird.
Zweifellos ist Bernstein aber übers Ziel hinausgeschossen, indem er tendenziell einer rein reformistischen Strategie das Wort redete und die schrittweise, reformerische Umgestaltung der Gesellschaft bis in den Sozialismus hinein als möglich ansah. Alles in allem ist der Vorwurf Luxemburgs, dass Bernsteins „Linie“ falsch sei, korrekt, weil sie objektiv dem rechten, reformistischen Flügel, der v.a. vom Gewerkschaftsapparat gestellt wurde, nützt. So schreibt Luxemburg: „Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, dass er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält.“ (Sozialreform oder Revolution)
Das Problem von Luxemburg war aber, dass sie selbst auch nicht über ein alternatives taktisches System verfügte, das sie Bernstein entgegen halten konnte, es lief wesentlich auf eine bestimmte Haltung hinaus. Einige Argumente Bernsteins fasste sie auch falsch auf, so dass ihre Argumentation dort ins Leere ging. Ihre Replik auf Bernsteins Ausführungen zur Genossenschaftsfrage ist höchst einseitig und dem Problem unangemessen – und sie vertritt dabei tw. Positionen, die im Gegensatz zu Marx stehen, etwa zur Rolle von Produktivgenossenschaften. Auch die sicherlich mit Marx nicht zu vereinbarende Position Bernsteins zum Staat wird von Luxemburg nicht kritisiert.
Es war aber v.a. Rosa Luxemburg, die den reformistischen Tendenzen in der SPD und auch dem Zentrismus Kautskys entgegen trat. Während das Gros der sozialdemokratischen Führer die Stärkung der Organisation und das Druckausüben auf den Staat und die bürgerliche Politik als Methoden vertraten, orientierte Luxemburg stärker auf Massenmobilisierungen. Man muss allerdings eingestehen, dass es für diesen radikaleren Kurs damals auch in der SPD-Basis nie eine Mehrheit gab. Zu einer Zuspitzung des Richtungskampfes kam es dann mit der „Massenstreikdebatte“, in der Luxemburg den linken, revolutionären Part vertrat. Sie verarbeitete in ihrem Buch „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ (1906) die Erfahrungen verschiedener Massenstreiks und der Russischen Revolution von 1905. Die Kontroverse bezog sich jedoch wesentlich auf die Strategie und die Kampfform des Massen- und Generalstreiks, fand jedoch keine wirklich konkrete taktisch-programmatische Ausformung.
Der Kongress der „Freien Gewerkschaften“ 1905 in Köln beschloss mit großer Mehrheit: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongress für indiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Bömelburg, der Vorsitzende des Bauarbeiterverbandes, meinte: „Ungeheure Opfer hat es gekostet, um den augenblicklichen Stand der Organisation zu erreichen. (…) Um aber unsere Organisation auszubauen, brauchen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe.“
Der Jenaer Parteitag der SPD stimmte 1905 zwar dem Antrag zu, in dem der Massenstreik als wirksames Kampfmittel gewertet wurde, um mögliche politische Angriffe auf die Arbeiterklasse abzuwehren, doch er sah diesen nicht als offensives und revolutionäres Kampfmittel an. Der Beschluss war ein Kompromiss zwischen dem linken und dem rechten Flügel der SPD. Letztlich setzte sich aber der rechte Flügel bzw. die Gewerkschaftsführung in der Praxis durch. August Bebel betonte auf dem Mannheimer Parteitag von 1906: „Wir wollen vor allem Frieden und Eintracht zwischen Partei und Gewerkschaften herbeiführen.“ So stimmte der Parteitag dem Antrag des Vorstands zu, dass politische Aktionen ohne aktiven Rückhalt in den Gewerkschaften keine Aussicht auf Erfolg haben könnten. Damit hatte nicht die Partei, sondern die Generalkommission der Gewerkschaften in der Massenstreikfrage das letzte Wort. Dies bedeutete faktisch eine Absage an den offensiven politischen Massenstreik.
Noch schwerwiegender als die Massenstreik-Position an sich war jedoch, dass es in der politischen Vorstellungswelt der Sozialdemokratie kaum Raum gab für konkrete und verbindliche Taktiken im Klassenkampf. Wie man sich an der Basis organisiert, welche Strukturen man braucht, wie die Verbindung zwischen dem Alltagskampf und der Machteroberung hergestellt werden kann – darauf gab es damals noch keine Antwort, auch nicht von den Linken.
Kapitulation
Am klarsten äußerte sich das programmatische Manko der Sozialdemokratie dann im August 1914, als der 1. Weltkrieg ausbrach, der sich aber schon Jahre vorher immer deutlicher am Horizont ankündigt hatte. Zwar mangelte es der II. Internationale nicht an Resolutionen gegen den Krieg, doch letztlich führten diese unverbindlichen Absichtserklärungen nicht zu entschlossenen Aktionen der Klasse: es gab weder Massenproteste gegen den Kriegseintritt noch einen Generalstreik. Ob die Arbeiterschaft diese mitgetragen hätte, muss offenbleiben, doch die Führung der SPD hatte solche Aktionen gar nicht initiiert. Dieses Kapitulieren vor dem deutschen Imperialismus und umso mehr die aktive Unterstützung von SPD und Gewerkschaften für die Kriegführung ihrer Bourgeoisie ist die fatale „Krönung“ ihrer Politik, die zumindest teilweise von Beginn an – also schon mit Lassalle und den Eisenachern, mit den Parteitagen von Gotha 1875 und Erfurt 1892 – als Reformpolitik im Rahmen des Systems angelegt war. Auf dem Erfurter Parteitag wurde auch die Gruppe der „Jungen Wilden“ ausgeschlossen, die – nicht ganz zu unrecht – der Partei vorwarfen, dass sie eine zu unkritische Position zum Parlamentarismus habe und den außerparlamentarischen Kampf vernachlässige.
Oft wird gesagt, dass die SPD nach dem sehr mangelhaften und von Marx heftig (wenn auch nicht tiefgehend) kritisierten Programm von Gotha mit dem Erfurter Programm „wieder bei Marx“ gewesen wäre. Doch das ist in mehrfacher Hinsicht völlig unberechtigt. 1. wurden zwar einige Dummheiten, wie die These vom „freien Volksstaat“ ausgemerzt, aber das wesentliche Manko, dass das Programm keine praktische Anleitung, dass es keine Taktik für den Klassenkampf war, blieb bestehen. 2. war die SPD nicht „wieder“ bei Marx, denn sie war noch nie dort, allenfalls der „Bund der Kommunisten“, der aber keine Massenpartei war. 3. haben Marx und Engels kein programmatisches System für den Klassenkampf entwickelt, höchstens Ansätze dazu, zu dem die SPD hätte „zurückkehren“ können. 4. hatte sich 1892 – ganz unabhängig vom Programm – die Praxis der Sozialdemokratie nicht wesentlich verändert. Ja, es zeigte sich 5. in der Revisionismus- und in der Generalstreikdebatte wenige Jahre nach Erfurt, dass die SPD eine klar antirevolutionäre Mehrheit in der Führung und im Apparat hatte.
Luxemburg
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und dem Faschismus scheinen die Auffassungen Luxemburgs zu bestätigen. Doch wenn wir uns die zweite Hälfte des 20. und den Beginn des 21. Jahrhundert anschauen, so sieht das Bild anders aus. Keine innerimperialistischen Kriege, keine Steigerung der Krisendynamik, relativ wenige revolutionäre Aufbrüche. Ohne Zweifel hat sich das Lebensniveau der Menschen (und auch des Proletariats) in den imperialistischen Zentren, aber auch in der „3.Welt“ insgesamt verbessert. Es gibt nicht weniger, sondern eher mehr an (bürgerlicher) Demokratie. Wie es Bernstein entgegen der Ansicht von Marx behauptete, hat die Bedeutung der Mittelschichten (nicht des Kleinbürgertums, aber der lohnabhängigen Mittelschichten) zugenommen und der Konzentrations- und Zentralisationsprozess des Kapitals hat auch nach über 120 Jahren imperialistischer Entwicklung nicht dazu geführt, dass alles „monopolisiert“ wäre. Natürlich gibt es weiter Krisen, Kriege und diverse Konflikte, ja es sind sogar Probleme hinzugekommen, die es in diesem Ausmaß früher nicht gab (Umwelt). Doch zusammengebrochen ist der Kapitalismus – 170 Jahre, nachdem Marx seine Theorie erarbeitet hatte – nicht. Wenn es nicht so wäre, würde die (zumindest subjektiv) revolutionäre Linke nicht seit Jahrzehnten so schlecht dastehen, wie es leider der Fall ist.
Zwei Zitate sollen zeigen, welche Einseitigkeiten die Auffassungen Luxemburgs in „Sozialreform oder Revolution“ tw. prägten: „Denn da die Sozialreform einmal in der kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform“. Luxemburg zielt hier auf die realen Ergebnisse von Reformen ab, die natürlich immer nur begrenzt sind und zeitweilige Kompromisse im Klassenkampf darstellen. Für Marx hingegen bestand der Wert des Kampfes um Reformen v.a. darin, dass sie Organisation und Bewusstsein der Klasse heben können. Die Strukturen des „Sozialstaats“ sind z.B. nicht nur eine „hohle Nuss“, sondern relativ stabile Errungenschaften des Proletariats.
Ein anderes Zitat von Luxemburg: „Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform.“ Hier zeigt sich sehr deutlich ein überzogener „Revolutionarismus“ und eine Unterschätzung der Rolle des Kampfes um Reformen.
Luxemburg unterschätzte die Möglichkeit von Strukturveränderungen im Kapitalismus (die in Deutschland schon seit Bismarck – und ganz ohne Revolution – erfolgt sind) und hat auch v.a. nur die gesetzlichen Reformen im Blick. Das verweist auf den verbreiteten Politizismus in der Sozialdemokratie, der die sozialen Strukturen vernachlässigt und als die Hauptfelder des Klassenkampfes den Parlamentarismus (als politischen Kampf ) und den Gewerkschaftskampf (als ökonomischen) ansieht – den dritten Sektor, den Kampf um die Schaffung selbstverwalteter sozialer Strukturen, thematisiert auch Luxemburg nicht.
Die vielleicht gravierendste Auswirkung der Revisionismus-Debatte war, dass die Linke viele relevante Fragen nicht diskutierte, oberflächlichen Zusammenbruchs-Szenarien anhing und die Frage der sozialen (nicht nur der politischen) Selbstorganisation unterschätzte. Die ständigen, aber nie eingetroffenen Erwartungen eines Kapitalismus, der am Ende wäre, haben bewirkt, dass a) voluntaristische, „blanquistische“ Konzepte oft die Oberhand gewannen – z.B. 1923 und 1933 in Deutschland – und b) selten ernsthaft darangegangen wurde, den Zusammenhang zwischen Reform und Revolution systematisch zu untersuchen.
Ein Verdienst Rosa Luxemburgs neben der Kritik an Bernstein ist ihre Kritik am Zentrismus Kautskys. Dort war sie hellsichtiger als Lenin. So verurteilte sie Kautskys pazifistische Politik, z.B. hinsichtlich eines internationalen Schiedsgerichts zur Lösung von Konflikten. Ihre Kritik stellt methodisch auch den heutigen Reformismus der Friedensbewegung, der SPD, der Linkspartei oder der Grünen an den Pranger.
Die Staatsfrage
Eine entscheidende Fehlentwicklung durchlief die Sozialdemokratie in der Staatsfrage. Marx und Engels hatten eine Staatsposition entwickelt, die sich auf drei Prämissen stützte: 1.war der Staat für sie ein historisches Produkt der Produktivkraftentwicklung, der Arbeitsteilung und der Entstehung von Klassen, das mit der Überwindung der Klassengesellschaft auch wieder verschwinden würde (Engels sprach vom „Absterben“); 2. sahen sie im Staatsapparat keine neutrale, über den Klassen stehende Institution, sondern primär eine Unterdrückungsmaschine der herrschenden Klasse(n); 3. zeigten sie, dass das Proletariat den Staatsapparat nicht übernehmen könne, sondern ihn zerbrechen und durch eine Rätestruktur nach dem Muster der Pariser Kommune ersetzen müsse.
Schon von Beginn an weigerte sich die Sozialdemokratie – sowohl die Lassalleaner als auch die Eisenacher – dazu klar Farbe zu bekennen (vgl. dazu Marx` Kritik am Begriff des „freien Volksstaats“). Das mündete letztlich darin, den bürgerlichen Staat als Mittel, als Instrument anzusehen, um die Position der Arbeiterklasse gegenüber dem Kapital nach und nach zu verbessern und die Wirtschaft zu steuern. Der Staat sollte nicht zerschlagen, sondern renoviert und der Arbeiterklasse „dienstbar“ gemacht werden. Damit war ein programmatischer Eckpfeiler des Marxismus beseitigt. Ein bis heute weitgehend übersehener Aspekt in der Staatsfrage ist, dass die praktische Frage, wie tagtäglich gegen den Staat gekämpft, wie dieser – wenn auch nur partiell – zurückgedrängt, ersetzt werden kann, im Marxismus kaum eine Rolle spielt. Auch bei den Linken heute stellt sich die Staatsfrage meist nur abstrakt-historisch hinsichtlich der Staatsmacht in der Revolution oder aktuell hinsichtlich seiner Repressionsfunktion, nicht jedoch hinsichtlich seiner „Organisationsfunktion“, die dessen Hauptaufgabe ist (was nicht heißt, dass er nicht mehr repressiv wäre). In dieser Hinsicht hat der „Marxismus“, hat die „revolutionäre Linke“ heute einen „weißen Fleck“ – wenn sie nicht überhaupt in einem „Kleinkrieg mit den Bullen“ versackt ist.
Mit Wilhelm Reich könnten wir psychoanalytisch sagen, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung der II. Internationale es versäumte, gegen den Staat als „Übervater“ zu kämpfen und die überkommenen Unterdrückungsstrukturen zu attackieren und Gegenstrukturen aufzubauen. Reich drückte es einmal so aus: „Es geht nicht um den Versailler Friedensvertrag oder die Ölquellen von Baku oder um 200-300 Jahre Kapitalismus, sondern um 4.000-6.000 Jahre autoritär-mechanistische Zivilisation, die das biologische Funktionieren der Menschen ruiniert hat.“ Nun wollen wir der Sozialdemokratie nicht vorwerfen, die Erkenntnisse der Psychoanalyse nicht früher berücksichtigt zu haben. Doch wir müssen der gesamten Arbeiterbewegung und der Linken den Vorwurf machen, dass sie auch später nie deren Erkenntnisse wirklich verarbeitet und programmatisch genutzt hat. So war es ihr unmöglich, eine auf wirkliche Befreiung zielende Konzeption zu verfolgen. Entweder sie „akzeptierte“ wie die Sozialdemokratie Privateigentum und Staat als „Autoritäten“ oder aber sie installierte wie der Leninismus und der Stalinismus Staat und Partei als solche. Beides führt aber nicht zum „Umstürzen aller Verhältnisse“ (Marx), sondern nur zu deren Modifizierung und zur erneuten Unterordnung des Proletariats und der Massen unter andere Formen von Herrschaft über sie.
Der grundlegende Ausgangspunkt von Marx, die Überwindung jeder Unterdrückung, die Aufhebung der Entfremdung, d.h. seine radikal freiheitliche Komponente, wurden „vergessen“, zurecht gestutzt oder traten in den Hintergrund. Der „Marxismus“ wurde aus einem Instrument gegen jede Herrschaft zum Instrument der Begründung einer anderen Herrschaft.
Ein Fazit
Die Wirkung der Sozialdemokratie, v.a. der deutschen und österreichischen, und der II. Internationale war zwiespältig. Einerseits repräsentieren sie die Phase der Entstehung und Entwicklung einer starken Arbeiterbewegung, die aus Parteien, Gewerkschaften sowie aus einem „proletarischen Milieu“ von Kultur-, Bildungs-, Sport- u.a. Strukturen bestand. Daneben existierten auch soziale Strukturen, z.B. Genossenschaften. Letztere wurden jedoch kaum weiterentwickelt und meist als nur ökonomische Hilfsprojekte des Proletariats verstanden und nicht auch als politische Bastionen und als Ausgangsbasen einer nach-kapitalistischen Gesellschaft.
Viele Ideen – aber nicht alle – von Marx und Engels wurden durch die II. Internationale verbreitet und popularisiert. Zugleich aber wurden sie verfälscht und in eine reformistische, stark auf den Staat orientierte Strategie eingebunden. Die wesentliche Aufgabe – die strukturelle und programmatische Verbindung von Reform und Revolution – wurde nicht gelöst, sondern sogar deutlich Richtung Reform verschoben, wobei selbst der Kampf um Reformen immer zahmer und mehr vom Konjunkturzyklus als vom eigenen Programm bestimmt wurde.
Der „Marxismus“ der Sozialdemokratie zeichnete sich u.a. aus durch:
- die Unterschätzung des außerparlamentarischen Klassenkampfs, der sich allenfalls in Form von rein ökonomischen Streiks und politischem Protest äußern sollte;
- die Missachtung der proletarischen Selbstorganisation (Genossenschaften, Kontrollorgane, Räte, Streikkomitees der Basis usw.);
- eine Überbetonung von (systemimmanenten) Reformen und ein Ausblenden des revolutionären Bruchs;
- die Unverbundenheit von Reformen und dem Kampf um die Macht (Trennung von Minimal- und Maximalprogramm);
- die Begrenzung der Demokratie auf den bürgerlichen Parlamentarismus;
- die Nutzung des „renovierten“ Staates anstatt dessen Zerschlagung und Ersetzung durch ein Rätesystem
- der „Sozialismus“ der Sozialdemokratie war keine qualitativ andere Gesellschaft im Marxschen Sinn, sondern weitgehend ein sozialstaatlich renovierter Kapitalismus.
Das Ergebnis dieser Politik war, 1. die Kapitulation der II. Internationale vor Chauvinismus und Nationalismus und die Unterstützung der jeweils eigenen Bourgeoisie im Weltkrieg und 2. das Versagen, ja offen konterrevolutionäre Agieren der sozialdemokratischen Führungen in der revolutionären Nachkriegsphase, v.a. in der deutschen Novemberrevolution und in allen (!) folgenden revolutionären Krisen weltweit.
Die während des Weltkriegs und danach aufbrechende Krise der Sozialdemokratie sowie der revolutionäre Impuls durch die russische Revolution führten zur Entstehung von links von der Sozialdemokratie stehenden zentristischen (z.B. die USPD) und revolutionären Parteien. Die Aufgabe, den Marxismus von seinen „Verzerrungen“ zu befreien und ihn weiterzuentwickeln, fiel nun den kommunistischen Parteien und der 1919 gegründeten III. Internationale (Komintern) zu.