Hanns Graaf
Sahra Wagenknecht ist die bekannteste und beliebteste linke Politikerin Deutschlands. Sie ist medial sehr präsent, ihre Bücher sind Bestseller. Viele setzen große Hoffnungen in sie und identifizieren sich mit ihr. Warum ist das so?
Sicher ist Sahra Wagenknecht eine kluge, redegewandte und telegene Frau und eine der wenigen Menschen, die in Talkshows eine linke Position eloquent vertritt bzw. vertreten kann. Sie ist sich nicht zu schade, in Talkshows kritische Positionen zu vertreten – meist gegen einen unsachlichen und reaktionären Shitstorm von Lanz u.a. „Journalisten“ und Gästen. Gegen die Attacken dieser verlogenen und gekauften Demagogen muss Sahra Wagenknecht auch verteidigt werden. Als eine der ganz wenigen Politiker stellt sie sich gegen die Kriegshetze, die neoliberale Politik und die irrationale Schaumschlägerei der Hysteriker in Sachen Klima, Corona usw. Das erklärt ihre große und gerechtfertigte Popularität – umso mehr, da sie Spitzenpolikerin der LINKEN ist, die gegenwärtig in der Gunst der Wähler immer weiter nach unten rutscht und sich in einer tiefen, durchaus existentiellen Krise befindet. Doch gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen Wagenknecht und ihrer Partei, mit dem sie ganz bewusst spielt, macht sie auch interessant.
Wagenknechts Kritik an der Linken
Was Wagenknecht an ihrer Partei, aber auch z.B. an den Grünen und „der“ Linken kritisiert – u.a. in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ -, ist deren Ignoranz, ja tw. Verachtung gegenüber den Lebensumständen und Interessen vieler Menschen, v.a. der Lohnabhängigen und des (unteren) Mittelstands. Seit der forcierten Umsetzung neoliberaler Politik, die von der rot/grünen Schröder-Regierung 1998 begonnen und von den Merkel-Regierungen fortgeführt wurde, werden immer größere Teile der Bevölkerung in eine prekäre Lage gebracht. Das Land versinkt immer tiefer in einer Melange aus kurzfristiger Profitmaximierung, bürokratischer Verkrustung und irrationaler Kampagnen. Man ist fast geneigt zu sagen: Deutschland schafft sich ab. Die Ampel hat diese Entwicklung durch ihre Ukraine-Politik, die massive Aufrüstung, das Embargo gegen Russland und die absurde Energiepolitik noch forciert.
Die Partei DIE LINKE, in vielen Fragen auch das Gros der „radikalen Linken“, haben seit Jahrzehnten zentrale Projekte bürgerlicher Politik mitgetragen, ja sie noch links überholen wollen: Klimaschutz, Energiewende, Corona-Lockdowns usw. Fast die gesamte Linke zeigt sich unfähig, diese unwissenschaftliche, alarmistische Ideologie und die dahinter stehenden kommerziellen und Machtinteressen zu verstehen. Sie begreift nicht, dass diese Politik die Massen unerhört belastet und große soziale, wirtschaftliche und ökologische Schäden anrichtet. Diese Linken stehen in diesen Fragen objektiv auf der falschen Seite der Barrikade. Darum wendet sich die Masse der Arbeiterklasse von dieser Linken ab und folgt (wenn auch in geringem Maß) dem „grünen“ Milieu. Diese „grünen“ Bewegungen sind in jeder Hinsicht von den Mittelschichten dominiert und haben mit der Arbeiterklasse fast nichts zu tun.
Probleme, die z.B. mit der massenhaften Migration von über zwei Millionen Menschen seit 2015 entstehen oder sich verschärfen, werden von Linken oft ausgeblendet oder relativiert: das Wohnungsproblem, kulturelle Spannungen, stärkere konservative Einflüsse z.B. bezüglich der Stellung von Frauen, der Religion usw. sowie Terrorismus usw. Wer auf diese Fragen hinweist, wird heute als „rechts“ geframt. Wer Kritik am Klimaalarmismus oder der Energiewende übt, wird als „Verschwörer“ oder „Schwurbler“ diffamiert und ausgegrenzt. Wer Kritik an den Lockdowns oder der deutschen Aufrüstungs- und Kriegspolitik vorbringt, wird geradezu als verrückt, unsolidarisch oder als „Putinversteher“ abgestempelt und mitunter sogar strafrechtlich verfolgt.
Milieupolitik statt Klassenpolitik
Demgegenüber wird sich tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen kleiner Minderheiten oder winziger sexueller oder kultureller Milieus intensiv gewidmet. Völlig absurde Debatten wie die um das Gendern, die auf keinen Fall auch nur ansatzweise etwas an der sozialen Realität verändern (können), bilden den Schwerpunkt der Praxis vieler Linker – und bieten für die „links-grüne“ Community zudem oft noch lukrative Posten in der bürgerlichen Gesellschaft an Unis, in Stiftungen, NGOs usw. Dass die Unis in den vergangenen 30 Jahren immer mehr neoliberal umstrukturiert worden sind, stört die Linken kaum – Hauptsache es wird überall gegendert.
Queer-linke Frauen, die am 8. März nicht mit Männern gemeinsam demonstrieren wollen; Menschen, die sich als selbsternannte Vertreter z.B. von rassistisch Unterdrückten präsentieren, und allen Nicht-direkt-Betroffenen das Recht absprechen, sich dazu zu äußern; die Diffamierung der Benutzung „fremder“ kultureller Elemente als „Aneignung“ usw. usf. – all das sind nicht Stücke aus dem Tollhaus, sondern Aspekte heutiger „linker“ Politik. Die bürgerlichen Thinktanks waren in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich darin, die Linke (und damit die Arbeiterbewegung) zu verbürgerlichen und dort alle möglichen unwissenschaftlichen, poststrukturalistischen Dummheiten zu verbreiten – um damit deren sozialistischen und proletarischen Charakter zu unterminieren.
Es fand eine „Umwertung der Werte“ statt, was besonders an der Metamorphose der Grünen sichtbar wird. Solidarität wird heute daran gemessen, wie gehorsam man gegenüber dem Staat und der Nation ist. Antisemiten sind alle, die Israel kritisieren. Sexist ist, wer nicht gendert. Als aufgeklärt aber gelten Jene, die an den Konsens, an den Mainstream glauben und jede Kritik abbügeln. Cancel Culture ist nicht neu – in dem Sinn, dass Kritik bekämpft und verunglimpft wird -, doch sie hat heute ein Ausmaß angenommen, das noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre. Merkel, Scholz, Baerbock oder Lauterbach u.a. nützliche Idioten des Kapitals in Staat, Medien oder der „Wissenschaft“, die allesamt lügen, betrügen und sich einer unsozialen, verbrecherischen Politik schuldig gemacht haben, werden von „Linken“ oft unterstützt, anstatt sie zu entlarven und ihre „Reformen“ zu bekämpfen. V.a. Corona offenbarte den völligen Bankrott der Linken und deren tw. grenzenlose Verblödung, Weltfremdheit und Anbiederung an den Staat.
Diese Linke bezeichnet Wagenknecht als „linksliberale“ Linke. Sie verweist dabei aber zugleich darauf, dass diese Linke in vielerlei Hinsicht weder liberal noch links ist. Sie geht stark von bürgerlichen poststruktualistischen Ideen aus und ist Ausdruck der besonderen sozialen Lage der gehobenen akademischen Mittelschicht. Daraus ergeben sich auch deren politische Einstellungen. Diese sind von Ferne, tw. Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Problemen des Proletariats und den positiven Bezug auf diverse neoliberale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte geprägt, die von der Mehrheit der Bevölkerung als Bedrohung und als Verschlechterung empfunden wird. Das alles stellt Wagenknecht weitgehend richtig dar und kritisiert es.
Im Reformismus gefangen
Allerdings macht ihre Kritik an einer bestimmten Stelle immer halt: sie kritisiert den entfesselten Kapitalismus – nicht den Kapitalismus an sich. Ihre Perspektive ist der Kapitalismus der 1960er und 70er, als es (zumindest in den imperialistischen Metropolen) noch gutbezahlte Jobs, soziale Absicherungen und soziale Perspektiven für das Proletariat gab. Nur: sie „vergisst“ dabei zu erwähnen, dass solche Jobs auch mit Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung verbunden waren. Sie „vergisst“, dass das Lohnarbeitssystem als Grundlage des Kapitalismus selbst die Ursache aller Krisen, Konflikte und Kriege ist – egal, welche konkreten Formen es jeweils annimmt. Wagenknecht betont die Rückkehr oder die Wiedererringung eines besser geregelten Lohnsystems; die Idee des Sozialismus aber ist dessen Überwindung.
Wagenknecht versteht aber nicht, dass es nicht (nur) neoliberale Politik war, die diese Errungenschaften immer weiter untergraben hat, sondern dass Neoliberalismus und (imperialistische) Globalisierung objektive, notwendige Entwicklungen waren, die aus den sozialen Grundstrukturen des Kapitalismus selbst folgten. Wagenknechts „Beschwörung“ des größeren sozialen Ausgleichs, der weniger korrupten Demokratie usw. ist letztlich nichts anders als Nostalgie. Der „gebändigte“ Kapitalismus der Nachkriegszeit kommt nicht wieder.
Die Kritik Wagenknechts und anderer reformistischer Linker an der Politik der SPD besteht großteils darin, dass suggeriert wird, dass die SPD der 1960/70er ganz anders oder bessre gewesen wäre und darum bestimmte soziale Errungenschaften möglich waren. Tatsächlich beruhten diese Effekte aber vielmehr darauf, dass es 1. den Langen Boom gab, der es ermöglichte, auch dem Proletariat ein paar größere Brosamen vom Kuchen abzugeben und 2., die Arbeiterbewegung noch stärker und potentiell schlagkräftiger als heute war.
Wagenknechts Kritik schließt oft wesentliche Fragen aus, wie ihr Buch „Die Selbstgerechten“ beweist. Wichtige Klassenkämpfe – Siege wie Niederlagen – werden nicht thematisiert. Folglich werden auch keine Lehren gezogen, wie wir künftig erfolgreicher sein könnten. Die Politik ihrer eigenen Partei, der LINKEN, wird kaum betrachtet. Auch die SPD wird nur hinsichtlich ihrer Agenda-Politik kritisiert, doch was ist mit den 100 Jahren davor?! Die Gewerkschaften, immerhin auch heute noch die größten Klassenorganisationen mit Millionen von Mitgliedern sind, ihre Politik, ihre Strukturen usw. sind ihr kaum eine kritische Zeile wert. Letztlich sind so auch ihre oft durchaus vernünftigen programmatischen Vorschläge und Gesellschaftsvorstellungen nur ein Wunschkatalog und kein Konzept für Widerstand.
Programmatik
Jede Kritik, jede Position sollte aber v.a. danach bewertet werden, was sie für die Entwicklung von Widerstand, für die Stärkung antikapitalistischer Kräfte bewirkt. Wagenknecht nimmt zu vielen Themen eine weit vernünftigere Position ein, als ihre Partei, v.a. deren Führung. Das betrifft u.a. die Kriegsfrage, aber auch Themen wie Klima, Energie und Corona. Sie verfällt weit weniger als viele andere Linke abstrusen ideologischen Glaubenssätzen.
Doch in der Hauptsache – der grundsätzlichen politischen Programmatik und deren Methode – geht sie keinen Millimeter über den Reformismus der LINKEN hinaus. Das ist u.a. daran zu erkennen, dass auch sie das Mitregieren als wichtiges Ziel und pragmatischen Kern der Politik der LINKEN nicht grundlegend infrage stellt. Sie versteht nicht, dass jede bürgerliche Regierung, egal wie „links“ sie sich sieht, letztlich nur der „geschäftsführende Ausschuss“ der Bourgeoisie ist und kein Instrument zum Kampf gegen das Kapital und zur Umsetzung von Reformen. Dafür sorgt u.a. das Grundgesetz, das etwa die Enteignung von Privatkapital und die Einschränkung ihres Aktionsraumes formal-rechtlich nahezu unmöglich macht. Die einzige Regierung, an der sich Linke beteiligen könnten, ist eine aus linken und Arbeiterorganisationen bestehende „Arbeiterregierung“, die bewusst mit dem Kapitalismus brechen und sich dazu auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse stützen will. Solche linken oder Arbeiterparteien (nicht -gruppen) sind gegenwärtig aber leider nicht vorhanden.
Kampf für Reformen – aber wie?
Aber selbst für die Umsetzung von Reformen im Interesse der Massen ist die auch von Wagenknecht verfolgte Methode rein reformistisch. Als Mittel werden Wahlen, Proteste, Absprachen und Konstellationen mit bürgerlichen Parteien, vornehmlich der SPD und den Grünen, angestrebt. Natürlich kommt auch schon Mal ein Streik infrage, doch auch hier soll dieser im Rahmen des sozialpartnerschaftlich-tariflichen Rahmens bleiben. Die Dominanz der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie wird von Wagenknecht nicht infrage gestellt. Wem die Mitregierungs-Strategie der LINKEN nicht schon immer absurd vorkam, der sollte es spätestens mit der Politik der SPD und der Grünen in der Ampel begriffen haben. Weder die jahrelange halbherzige Kritik an ihnen, noch die Anbiederung an sie hat etwas geholfen: Rot/Rot/Grün ist utopischer denn je. Auch Wagenknecht orientiert sich nur auf die Nutzung der demokratischen Spielräume, der Kräfte der Zivilgesellschaft – nicht auf die Selbstorganisation der Klasse gegen Kapital und Staat.
Was würde ernsthafte Reformpolitik praktisch bedeuten? V.a. konsequenten Kampf gegen jene Kräfte in der Arbeiterbewegung, die jede Mobilisierung, jede eigenständige Organisierung der Klasse verhindern oder abwiegeln und jede antikapitalistische Tendenz bekämpfen. Das betrifft v.a. die SPD und die mit ihr verbandelte Gewerkschaftsbürokratie. Davon ist bei Wagenknecht keine Rede. Auch nicht davon, dass es die LINKE unterlässt, ja ablehnt, eine eigene Fraktion im DGB aufzubauen. Diese Orientierung verwundert natürlich nicht, da die LINKE sich nicht auf die Arbeiterklasse als historisches Subjekt bezieht, sondern nebulös von „Kräften der Zivilgesellschaft“ redet – eine Umschreibung für bürgerlich-demokratische Kräfte, die sich nur im vorgegebenen Rahmen der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ bewegen. Das wird dann zuweilen noch – mit Bezug auf Gramsci – als „Kampf um die Hegemonie“ tituliert, obwohl das mit Gramscis klar proletarisch-sozialistisch-klassenkämpferischer Orientierung nichts zu tun hat.
Friedensfrage
Ein Beispiel für Wagenknechts Vorgehen ist auch, dass sie den Friedensappell von Alice Schwarzer unterstützt – ohne Kritik daran zu üben oder darüber hinauszugehen. Wichtige Propaganda-Positionen des Westens, der Nato und der EU bleiben unhinterfragt und unwidersprochen: die These vom Aggressor Putin, obwohl der Westen, die Nato und die USA die Hauptkriegstreiber sind; die These vom Kriegsbeginn im Februar 2021, obwohl der Krieg schon 2014 mit dem ukrainischen Terror gegen die Donezregion begann.
Obwohl Wagenknecht wusste, dass es am 24.2. eine seit Monaten von einem linken Bündnis vorbereitete Kundgebung am selben Ort gibt, erwähnte sie dieses nicht und terminierte „ihre“ Kundgebung auf den 25.2. Das zeigt nicht nur ihre Ignoranz gegenüber der antikapitalistischen Linken, sondern entspricht genau dem Bemühen aller Reformisten, diese Kräfte und deren antikapitalistischen Inhalte an den Rand zu drängen, unsichtbar zu machen oder dem bürgerlich-reformistischen „Mainstream“ unterzuordnen. Die Hauptgefahr des „linken“ Reformismus von Wagenknecht besteht eben gerade darin, dass sie antikapitalistisch eingestellte Menschen und Strukturen in ein reformistisches Projekt einbindet und somit „neutralisiert“. Dieser Effekt ist die eigentliche Funktion der Politik von Wagenknecht. Ob sie das bewusst verfolgt oder nicht, ist dabei zweitrangig. Sicher: die Initiative von Wagenknecht und Schwarzer war eine Initialzündung für eine Antikriegsbewegung. Doch ob diese als aktive, kämpferische, auf die Arbeiterbewegung orientierte zustande kommt oder der Motor wieder abgewürgt wird, wird sich zeigen …
Bei aller Stringenz ihrer linken Rhetorik zu bestimmten Fragen ist nicht zu übersehen, dass Wagenknechts Kritik immer nur eine am neoliberalen Kapitalismus und seinen Auswirkungen ist, jedoch nicht eine am Kapitalismus selbst – so als ob Neoliberalismus, Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung nur bedauerliche Auswüchse oder Betriebsunfälle dieses Systems wären und sich nicht notwendig aus dessen Grundstrukturen ergeben würden. Dass Wagenknecht in einigen Fragen so „links“ erscheint, liegt weitgehend daran, dass sie im Kontrast zur rechteren Politik der LINKEN oder der SPD steht. Doch entscheidend ist nicht wie weit links von anderen eine Position ist, sondern was ihr Wesen, was ihr Klassencharakter ist und was sie objektiv bewirkt. Der Fehler der LINKEN – auch wenn sie, linker wäre als heute – ist, dass sie der gleichen reformistischen Logik folgt wie die Sozialdemokratie und der Illusion anhängt, der Kapitalismus könne auf Dauer sozialer, friedlicher und demokratischer gemodelt werden. Die Alternative dazu ist aber nicht, etwas linker zu sein, sondern mit der gesamten reformistischen Methodik zu brechen. Dafür steht Wagenknecht aber gerade nicht.
Die Erfahrung mit „Aufstehen“
Ein schlagendes Beispiel dafür, dass Wagenknecht derselben politischen Logik folgt wie die LINKE war die Initiierung der Bewegung „Aufstehen“ durch sie u.a. Reformisten im September 2018. Damals interessierten sich Hunderttausende für „Aufstehen“, das u.a. mehr Aktivismus versprach und der Linken und oppositionellen Bemühungen neue Kräfte zuführen sollte. Doch die Gründungs-Plattform entsprach fast zu 100% der Position der LINKEN. Wesentliche Fragen, z.B. wie der Kampf geführt werden soll, wie es um das Verhältnis Reform-Revolution steht, welche historische Perspektive verfolgt wird, die Politik von SPD und DGB usw. – all diese „heißen Eisen“ tauchten darin gar nicht auf.
Doch nicht genug damit. Die Initiatoren um Wagenknecht waren unfähig (und wohl auch nicht wirklich daran interessiert), der Bewegung Leben einzuhauchen, wenigstens eine Kampagne zu initiieren und demokratisch legitimierte Strukturen zu etablieren. Als die französische Gelbwestenbewegung hierzulande viel Widerhall fand, posierte auch Sahra Wagenknecht mit gelber Weste vor Journalisten – das war aber auch alles. Organisiert wurde nichts. Das Fazit ist klar: Wagenknecht und Co. haben bei „Aufstehen“ komplett versagt und damit ein großes Reservoir für engagierte linke Politik verplempert.
Neue Partei?
Seit Monaten wird darüber diskutiert, ob Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründet. Ihr werden sogar mehr Wählerstimmen zugetraut als der LINKEN. Auf ihre permanenten Nachfragen erhalten die Journalisten jedoch nie eine Antwort. Warum diese Peinlichkeit? Vermutlich will Wagenknecht gar keine eigene Partei gründen, sondern nur damit kokettieren, um die LINKE unter Druck setzen und sich wichtig zu machen. Egal wie: eine Wagenknecht-Partei wäre in jedem Fall auch nur eine reformistische Formation, die dieselben Mittel und Methoden anwendet wie die LINKE. Ob sie etwas linker oder realistischer wäre als diese, ist dabei nicht wesentlich.
Würde eine Wagenknecht-Partei tatsächlich zustande kommen, wäre diese für Linke und den Klassenkampf trotzdem ein wichtiger Referenzpunkt. Zum einen würden Zehn- oder Hunderttausende damit die Hoffnung verbinden, dass linke Politik, z.B. in der Kriegsfrage, wieder konsequenter vertreten würde. Viele Menschen, die früher Mitglieder oder Wähler der SPD, der Grünen oder der LINKEN waren, würden aktiviert und organisiert werden. Ein anderer Effekt wäre aber, dass damit die LINKE als Massenpartei erledigt wäre und ihr Rest sich entweder der SPD anschließen (das Gros des Apparats) oder sich frustriert ins Privatleben zurückziehen würde. Es geht aber nicht darum, Menschen an ein altes Projekt zu verlieren, sondern für ein neues zu gewinnen. Eine Wagenknecht-Partei würde – nach allen Erfahrungen mit ihrer Politik in den letzten Jahren, z.B. mit „Aufstehen“ – keine Partei des Klassenkampfes sein, sondern wie schon die LINKE sich v.a. auf den Parlamentarismus orientieren und auf Reformen beschränken. Wie wir bereits dargelegt haben (https://aufruhrgebiet.de/2023/02/gegen-den-krieg-aber-wie/#more-2027), ist auch ihre Position zum Ukraine-Krieg von einer konsequenten, anti-imperialistischen Haltung weit entfernt.
Doch es geht hier nicht um eine Vorverurteilung oder politische Kaffeesatzleserei. Es geht darum, auf der Hut zu sein – aufgrund von Erfahrungen. Jeder linke oder klassenkämpferische Impuls – ob von Wagenknecht oder anderen – muss unterstützt und voran getrieben werden. Das heißt aber nicht Selbstbeschränkung oder gar Unterordnung, sondern gemeinsam kämpfen – bei voller Freiheit der Kritik. Früher nannte man das Einheitsfrontpolitik.
Linke müssen daher ernsthaft überlegen, ob und wie sie in den Aufbau einer Wagenknecht-Partei eingreifen könnten – um neue Potentiale für eine klassenkämpferische, antikapitalistische Politik und Organisierung zu gewinnen und sie aus dem Sumpf des Reformismus heraus zu führen. Die Chancen dafür waren lange nicht so gut. Doch wir brauchen keine Linkspartei 2.0 oder eine Neuauflage der SPD der 1970er oder ein Zwitterding – wir brauchen eine neue KPD, die eine wirkliche Kampfpartei des Proletariats ist, welche die historischen Erfahrungen des Klassenkampfes verarbeitet und sich vom Reformismus wie vom Stalinismus strikt abgrenzt! Der Aufbau einer solchen Kraft ist heute schwieriger als 1918, v.a. deshalb, weil heute kein massenhaftes Milieu aus sozialistisch orientierten Arbeitern existiert, aus dem eine solche Partei schöpfen könnte. Gleichwohl steht diese Aufgabe objektiv – was Linke und Antikapitalisten dazu bewegen müsste zu überlegen, wie und mit wem, aber auch gegen wen man diesem Ziel näher kommen kann.