Hanns Graaf
Ein Jahr vor seinem Tod schrieb Lenin vom 4.-6. Januar 1923 den Artikel „Über das Genossenschaftswesen“ (LW 33, S. 453-61). Dieser Text nimmt in mehrfacher Hinsicht einen besonderen Platz in seinem Schaffen ein. 1. ist er einer seiner letzten schriftlichen Beiträge. Seit 1923 war Lenin durch einen erneuten Schlaganfall schwer beeinträchtigt. 2. betont Lenin im Artikel sehr deutlich, dass das Genossenschaftswesen eine, wenn nicht DIE zentrale Frage der weiteren Entwicklung der UdSSR ist. Insofern kann uns dieser Beitrag evtl. viel darüber verraten, wie sich Lenin die weitere Entwicklung Sowjetrusslands vorgestellt hat. 3. ist der Artikel auch dadurch von besonderer Wichtigkeit, weil Lenin der Genossenschaftsfrage zuvor nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte; es gab nach 1917 von ihm keinen eigenständigen Artikel dazu.
Wir sehen diesen Beitrag Lenins als besonders interessant an, weil wir Genossenschaften u.a. Selbstverwaltungsstrukturen für wesentliche Grundlagen eines Arbeiterstaates und für den Übergang zum Kommunismus halten.
Lenins Auffassung vom Wesen der Genossenschaft
Zunächst einmal verwundert, dass Lenin in seinem Beitrag keine Bestimmung oder gar Definition des Begriffes „Genossenschaft“ vornimmt. Das ist umso erstaunlicher, als Lenin selbst eingesteht, dass die „Genossenschaften (…) früher geringschätzig (und) krämerhaft behandelt“ worden waren. Deshalb ist unwahrscheinlich, dass es dazu in der Partei oder gar in der Gesellschaft eine klare Auffassung gab.
Was sind für Lenin Merkmale einer Genossenschaft? Er unterscheidet zunächst Genossenschaften im Kapitalismus von solchen im Arbeiterstaat, wo sich die wesentlichen Produktionsmittel schon in den Händen der Arbeiterklasse befinden. Lenin schreibt: „Es ist unzweifelhaft, daß die Genossenschaften in einem kapitalistischen Staat eine kapitalistische Kollektiveinrichtung sind.“ Und weiter: „Unter dem Privatkapitalismus unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von kapitalistischen als kollektive Betriebe von privaten. Unter dem Staatskapitalismus (hier meint Lenin die Verhältnisse in Sowjetrussland, d.A.) unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von staatskapitalistischen dadurch, dass sie erstens private, zweitens kollektive Betriebe sind.“
Hier ist Lenin ungenau. Eine Genossenschaft ist im Kapitalismus nicht per se „eine kapitalistische Kollektiveinrichtung“. Es gab und gibt auch Genossenschaften, die sich ganz bewusst der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen und sich als alternatives Projekt zum Kapitalismus verstehen. Schon der Umstand, dass in der Genossenschaft (wenn diese nicht nur so heißt, sondern auch wirklich eine ist) die Genossenschafter, also die Inhaber von Genossenschaftsanteilen, kollektiv entscheiden, stellt einen deutlichen Unterschied zu kapitalistischen Privatunternehmen, aber auch zu AGs dar, wo in der Regel die Großaktionäre und das Finanzkapital entscheiden und nicht einfach die Summe der Aktionäre. Die Genossenschaft ist damit eine Struktur, die nicht nur demokratischer ist als es sonst im Kapitalismus üblich ist; sie ist zugleich auch eine Struktur, in der die Belegschaft bestimmt und nicht ein oder mehrere Kapitalisten oder eine Bürokratie. Im Prinzip ist die direkte Verfügung der Produzenten (d.h. des Proletariats) über die Produktionsmittel ohne eine genossenschaftliche Struktur unmöglich. Auch die von Marx postulierte Überwindung des Lohnarbeitssystems kann ohne Genossenschaften nicht erfolgen. Im staatseigenen Betrieb verbleiben die Arbeiter im Lohnsystem, sie sind quasi lohnabhängige Angestellte des Staates. Lenin sah diese Struktur, die Bevölkerung als „Staatsangestellte“, als wünschenswert an, wie er in „Staat und Revolution“ ausführte. Ein Lohnarbeitssystem im Arbeiterstaat mag gegenüber dem im Kapitalismus modifiziert sein – es bleibt ein Lohnsystem.
Lenin schreibt, es „unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von staatskapitalistischen (er meint damit die Staatsbetriebe in der UdSSR, d.A.) dadurch, dass sie erstens private, zweitens kollektive Betriebe sind.“ Inwiefern sie zugleich privat und kollektiv sind, führt Lenin hier nicht aus, obwohl dieser Sachverhalt sich zweifellos nicht von selbst erklärt. Lenin sagt damit aber auch indirekt, dass die Staatsbetriebe eben keine kollektiven Strukturen sind. Sie gehören doch aber dem Proletariat – also einem Kollektiv -, das die Staatsmacht in Händen hält? Dieses „Paradoxon“ löst Lenin nicht auf. Tatsächlich gehörten die Produktionsmittel in Sowjetrussland Ende der 1920er nicht mehr dem Proletariat, weil dieses jeden Zugriff auf den Staatsapparat an die Bürokratie verloren hatte.
Exkurs: Was ist Eigentum?
Eine Genossenschaft ist eine Gemeinschaft von Eigentümern, die Anteile an der Genossenschaft halten. Insofern ähnelt sie der GmbH oder der Aktiengesellschaft. Lenin verweist nicht zu unrecht darauf, dass eine Genossenschaft im Kapitalismus (wenn auch nicht immer) einen kapitalistischen Charakter trägt, zudem ist sie natürlich in eine kapitalistische Produktionsweise eingebettet.
Jedes Eigentümerkollektiv verfolgt mehr oder weniger bornierte Eigeninteressen. Das betrifft auch die Genossenschaft. Es stellt sich nun für eine nachkapitalistische Gesellschaft die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass dieses Gruppeninteresse in Einklang mit den Interessen des Proletariats u.a. werktätiger Klassen gebracht werden kann? Für Lenin hängt diese Frage davon ab, dass das Proletariat die großen industriellen Produktionsmittel in der Hand hat, was für ihn in Form des Staatseigentums der Fall ist. Doch so erfolgt die „Harmonisierung“ der Ökonomie durch zentrale staatliche Vorgaben, also von „oben“. Der Staat hat ein Interesse daran, dass die Genossenschaften viel und billig produzieren. Diese hingegen wollen möglichst teuer verkaufen, um viel Gewinn zu generieren. D.h. ohne Einbindung der Genossenschaften durch gesellschaftliche (Planungs)Strukturen ist ein harmonisches wirtschaftliches Zusammenwirken unmöglich. Stalin „löste“ dieses Problem dadurch, dass der Staat den Genossenschaften die Produkte so billig abkaufte, dass die Genossenschaften oft Minus machten und die Genossenschaftsbauern wenig Interesse hatten, mehr zu produzieren. Bezeichnenderweise kamen diese niedrigen staatlichen Aufkaufpreise jedoch nicht in Form niedriger Preise den proletarischen Konsumenten zugute, sondern dienten oft der Finanzierung von Prestigeprojekten der Bürokratie und der enormen Ausgaben für die Bürokratie und die „Sicherheit“. Auch die Rationalisierung der Produktion war den Genossenschaften schwer möglich, da sie a) kaum Gewinne für Investitionen übrig hatten, b) die Industrie benötigte Güter, z.B. Landtechnik, nicht ausreichend anbot und c) die Bauern diese mangels Qualifikation nicht adäquat zu benutzen wussten.
Nicht ein allmächtiger – und notgedrungen bürokratischer – Partei-Staat, sondern nur ein demokratisches Rätesystem, in das viele verschiedene Milieus und „Player“, darunter auch Vertreter von Genossenschaften, eingebunden sind, kann bewirken, dass die sozialen Interessen der Werktätigen zur Geltung kommen und deren Erfahrungen in das Management gesellschaftlicher Entwicklungen einfließen.
Die im Stalinismus inflationär gebrauchte Formel vom „Volkseigentum“ verschleierte nur die Realität, dass in Wahrheit Niemand die Produktionsmittel gehörten – aber die Bürokratie den realen Zugriff darauf hatte – freilich nicht als Einzelkapitalisten, sondern als Kaste bzw. Klasse, also als Kollektiv; nicht formaljuristisch, aber faktisch. Weder das Volk noch eine Klasse kann als wirklicher Eigentümer (im juristischen wie im praktischen Sinne) fungieren. Das können nur Individuen oder (kleinere) Kollektive. Die Formel vom Volks- oder Staatseigentum suggeriert, dass es sich dabei um eine Vergesellschaftung handeln würde, sichert aber praktisch, dass wieder nur eine besondere Gruppe, die Bürokratie, wirklicher Eigentümer – oder besser: Verwalter – ist. Damit ist erneut nicht das Proletariat Eigentümer und Verwalter seines Eigentums, sondern eine abgehobene Struktur über ihr. Gerade dieses „Oben“ und „Unten“ und die damit verbundene Entfremdung der Produzenten sollte nach der Vorstellung von Marx aber aufgehoben werden. Lenins „staatskapitalistisches“ Konzept von Wirtschaft und Staat steht dem diametral entgegen.
Zu all den komplexen Fragen des Verhältnisses von Gesellschaft bzw. Gesamtökonomie hier und den Genossenschaften äußert sich Lenin in seinem Artikel nicht. Da er offenkundig das Genossenschaftsmodell nur für die Landwirtschaft, nicht aber auch für die Industrie als angemessen ansieht, erscheint es Lenin auch nicht notwendig, darauf einzugehen, da die Industrie „ihre“ Form, das Staatseigentum, ja schon gefunden hat.
Genossenschaften als „Erziehungsanstalten“
Mehrfach betont Lenin völlig richtig die zentrale Bedeutung der Genossenschaften bei der Einbeziehung der Masse der noch privat wirtschaftenden Bauern in den Aufbau des Sozialismus und deren kulturelle „Erziehung“ durch die Mitarbeit in den Genossenschaften.
Lenins Bild der Genossenschaften bleibt insgesamt aber sehr verschwommen und auch begrenzt. Er stellt nirgends dar, worin sich etwa die Kollektivität einer Genossenschaft von der einer Aktiengesellschaft o.a. Formen kapitalistischen Gruppeneigentums unterscheidet. Nirgends führt er aus, dass das kollektive Entscheiden der Genossenschaftler eine Form direkter demokratischer Verwaltung der Produktionsmittel darstellt. Lenin geht auch nicht auf die damit verbunden Probleme ein, die sich z.B. ergeben, wenn die Entscheidung einer Genossenschaft sich im Widerspruch zu den staatlichen Absichten, dem „Zentralplan“, befindet. Diese Diskrepanz wird zwangsläufig auftreten, wenn Genossenschaftler wirklich selbst über ihr Unternehmen bestimmen. Diese Bestimmung berührt z.B. Fragen der Arbeitsorganisation, der Investitionen, der Einkommenshöhe, der Arbeitszeit usw., die die Belegschaft selbst festlegen kann und muss, und die nicht, wie bei den Staatsbetrieben, von „oben“ vorgeschrieben werden und völlig unflexibel sind.
Die entscheidende Frage, wie der „Gruppenegoismus“ der Genossenschaft mit den Bedürfnissen der gesamten Gesellschaft, d.h. auch der Arbeiterklasse, „austariert“ werden kann, wirft Lenin nicht auf. Auch hier äußert sich wieder sein Hang zur „Abstraktion“, wo es um konkrete gesellschaftliche Fragen geht. Er betont zwar zu recht die Bedeutung der Genossenschaften, macht aber nicht klar, was genau diese Genossenschaften sein und wie sie funktionieren sollen.
Würde man die Frage des Verhältnisses von Genossenschaft und Gesellschaft im Arbeiterstaat genauer beleuchten, so käme man als Marxist fast automatisch dazu, über das Rätesystem zu sprechen und darüber, welchen Platz die Genossenschaften darin einnehmen könnten bzw. welches Verhältnis sie zum Rätesystem hätten. Von Räten ist bei Lenin hier (wie übrigens auch in “Staat und Revolution“) aber nicht die Rede. Es liegt auf der Hand, dass die Genossenschaften mit dem Rätesystem interagieren müssen, um die mehr oder weniger bornierten Gruppeninteressen – ob in Form der Genossenschaft, einer Berufsgruppe, eines „Flügels“ des Staatsapparats, der Partei(en) usw. – in ein möglichst harmonisches Verhältnis zu bringen. Es ist eine spannende Frage (die nur durch praktische Versuche geklärt werden kann), wie diese Ziel erreicht werden kann und welche Strukturen dafür geeignet sind. Lenins Text ist dafür leider keine Hilfe.
Zuzustimmen ist Lenin allerdings grundsätzlich, wenn er die große Bedeutung der Genossenschaften „unter dem Gesichtspunkt des Übergangs zu neuen Zuständen auf einem Wege, der möglichst einfach, leicht und zugänglich für den Bauern ist“ betont.
Eine wesentliche Einschränkung erfährt die Genossenschaft bei Lenin dadurch, dass er sie nur als Modell für die Landwirtschaft ansieht, nicht einmal spricht er von Arbeitern oder der Industrie. Wenn aber die Genossenschaften solche positiven Effekte auf die Bauern haben und für den Aufbau des Sozialismus so grundlegend sind, dann fragen wir uns, warum das nicht auch im Bereich der Industrie so sein sollte …
Des Rätsels Lösung ist jedoch ganz einfach. Für die Landwirtschaft haben Lenin und die Bolschewiki schon immer die Genossenschaft als Perspektive angesehen – nach der Phase der Bodenreform, die zunächst eine Ausweitung der bäuerlichen Kleinstproduktion mit sich brachte. Lenin betont, dass die objektiven Verhältnisse 1923 aber den Übergang zur Genossenschaftlichkeit konkret auf die Tagesordnung rücken. Für die Industrie jedoch sah Lenin die Staatswirtschaft, d.h. eine von oben, von einem zentralen Apparat verwaltete Wirtschaft, als Modell an. Er bezeichnet dieses System als „Staatskapitalismus“ – allerdings unter einem proletarischen Staat.
Die Rolle der Genossenschaften: Lenin vs. Marx
Marx und Engels haben kein theoretisches System für die Genossenschaften ausgearbeitet. Marx räumte auch ein, dass er sich nie genauer damit befasst hat. Trotzdem gibt es v.a. bei Marx selbst eine ganze Reihe von Formulierungen, die durchaus ermöglichen, die Grundauffassung von Marx zu den Genossenschaften zu erkennen. Hier dazu nur einige Beispiele.
Schon im „Kommunistischen Manifest“ von 1847 schreiben Marx und Engels: „Im Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.“ Die Produktion soll „in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert“ sein. Hätten sie einen „separaten“ Staatsapparat, eine Staatswirtschaft oder ein Staatseigentum gemeint, hätten sie das auch so geschrieben.
Im selben Sinn betont Marx auch im „Kapital“: „Die Freiheit (…) kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden“. (MEW 23, 92)
In seinen „Randglossen“ zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875 spricht Marx bezüglich der nachkapitalistischen Wirtschaft von einer „genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft“.
Im selben Jahr schrieb Engels an Bebel: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“ (MEW 19, 6)
Wiederholt spricht Marx von genossenschaftlichen Strukturen und betont dabei auch, welche Rolle sie schon im Kapitalismus bei der Etablierung einer anderen Produktionsweise spielen. Im „Kapital“ schreibt Marx dazu: „Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d.h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.“ (MEW 25, 456)
In einer Resolution für die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) schreibt Marx 1866 zum Genossenschaftswesen: „Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.“
Zwar betonen auch Marx und Engels die Bedeutung der gesellschaftlichen Planung und der Einbindung der einzelnen Wirtschaftssubjekte in eine solche, doch ist bei ihnen nirgends von Staatsplanung, einer Staatswirtschaft oder einem „Staatskapitalismus“ die Rede.
Ganz anders bei Lenin. Im Gegensatz zu Marx plädiert er für eine Staatswirtschaft, während er die Bedeutung von Genossenschaften und Selbstverwaltung vernachlässigt. Lenins ökonomische Vorstellungen ähneln viel mehr denen der 2. Internationale, die auch für ein System der Staatsökonomie eintrat. Dabei sollte die Arbeiterklasse – genauer: deren Funktionäre – den Staat im Interesse des Proletariats leiten. Diese Auffassungen vertraten z.B. Hilferding und Karl Renner, zwei Führer und wichtige Theoretiker der Sozialdemokratie. Das hat mit Marx´ Auffassung freilich nichts zu tun.
Natürlich gibt es in der Übergangsgesellschaft (der Diktatur des Proletariats) Situationen, wo man von der „reinen Lehre“ aufgrund objektiver Umstände abweichen muss. So stellt eine Staatswirtschaft, die der Kontrolle der Arbeiterklasse unterliegt, eine Übergangsform dar. Das Ziel – jedenfalls nach Marx – kann aber nur darin bestehen, dass diese Übergangsformen nach und nach zugunsten der direkten (!) Verwaltung der Produktionsmittel durch die genossenschaftlich organisierten Produzenten (und Konsumenten) und deren Einbindung in eine Rätedemokratie zurück gedrängt werden.
Die Wirtschaftspolitik Lenins und der Bolschewiki, ob der „Kriegskommunismus“ oder ab 1921 die NÖP, waren weitgehend – wenn auch nicht vollständig – durch die Umstände aufgezwungen. Das Problem bestand aber darin, dass viel zu wenig oder oft gar nicht betont wurde, dass es sich hierbei um Kompromisse handelt und die „eigentliche“ Wirtschaftsstruktur eines Arbeiterstaates ganz anders aussehen müsste. Dieser Mangel erleichterte es später Stalin, sein hyper-zentralistisches, bürokratisches System zu etablieren und zugleich jeden Ansatz von Rätedemokratie (und selbst von bürgerlicher Demokratie) auszumerzen.
Der Genossenschaftsartikel von Lenin ist insofern ein Beleg dafür, dass Lenin die Situation analysiert hat und bereit war, den Kurs zu wechseln bzw. zu modifizieren. Man mag Lenin viel vorwerfen – ein Dogmatiker war er nicht.
Die Differenz zu Marx blieb aber insofern bestehen, als Lenin das Genossenschaftswesen auch 1923 nur für die Landwirtschaft als relevant ansah, nicht aber für die Industrie u.a. Bereiche der Gesellschaft. Für Lenin sollte auch perspektivisch der Staat der Spiritus rector der Gesellschaft bleiben, während Marx gerade das Absterben des Staates als wesentliches Element der Entwicklung Richtung gen Kommunismus ansah.
Die Frage der weiteren Entwicklung der UdSSR
Lenin und die Bolschewiki haben immer betont, dass die Russische Revolution Teil des weltrevolutionären Prozesses ist, und der Sozialismus nur so erreicht werden könne. Als sich ab 1923 der Kapitalismus kurzfristig stabilisiert hatte und die revolutionäre Dynamik verebbt war, ersetzten die Bolschewiki, die inzwischen eine stark bürokratisierte, mit dem Staatsapparat verschmolzene Partei geworden waren, ab 1924 nach Lenins Tod unter der Führung Stalins diese internationalistisch-revolutionäre Doktrin durch die „Theorie vom Sozialismus in einem Land“.
Der konsequenteste Kritiker dieser unmarxistischen Auffassung war Leo Trotzki. Jedoch traf seine Kritik nicht ganz ins Schwarze. Er betonte, dass die isolierte UdSSR auf sich allein gestellt keine sozialistische Gesellschaftsqualität erreichen könne. Das stimmte nur bedingt, da die UdSSR nicht nur ein Land, sondern quasi ein Kontinent war, der über alle notwendigen Ressourcen verfügte, um zur führenden Macht der Welt zu werden. Das Hauptaugenmerk hätte Trotzki vielmehr darauf richten müssen, dass Stalins Vorstellungen überhaupt nicht zum Sozialismus, sondern zu einem Staatskapitalismus führen mussten. Dieser hätte sich (und hat sich) von Lenins „Staatskapitalismus“ dadurch unterschieden, dass Lenin den Staat der Kontrolle des Proletariats unterstellen wollte, während Stalin die absolute Dominanz der Bürokratie anstrebte und verwirklichte. Das Jahrzehnt von 1918 bis 1929 markiert den Übergang von einem deformierten (oder degenerierten) Arbeiterstaat zum Staatskapitalismus.
Der Grund für den Makel der Trotzkischen Kritik lag darin begründet, dass er – genau wie Lenin und die Bolschewiki insgesamt – einer stark etatistischen Logik folgten, in der proletarische Selbstverwaltung, das Rätesystem und Genossenschaften unterbelichtet blieben. Recht hat Trotzki hingegen, wenn er Stalin vorwirft, dass dessen Außenpolitik die Revolution nicht vorantreibt, sondern blockiert. Wie korrekt Trotzkis Vorwurf war, zeigte sich dann schon ab Mitte der 1920er: in China, in Frankreich, in Spanien, in Griechenland usw. usw.
Die Vorstellungen der kurz- und mittelfristigen Entwicklung der UdSSR waren bei Lenin und Stalin sehr unterschiedlich. Lenin sah die NÖP als Wirtschaftspolitik an, die für eine Periode von mehreren Jahren bestimmend sein sollte. Die NÖP verband den staatlich-zentralistischen Sektor in der Industrie mit einem System der Landwirtschaft und der Kleinproduktion, wo private Initiative wieder mehr Raum bekam. Letztlich sollte mittels der (v.a. von Preobrashenski vertretenen) Konzeption der „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“ der staatliche Sektor immer weiter ausgebaut und gestärkt werden. Mit seiner Genossenschaftsschrift von 1923 modifizierte Lenin diese Strategie insofern, als er die Schaffung eines genossenschaftlichen Agrarsektors wieder stärker betonte. Grundlage dafür war für ihn a) die Stabilisierung und Stärkung der staatlichen Industrie und b) die Überwindung der Versorgungskrise der Bürgerkriegszeit. Lenin betonte dabei den prozesshaften Charakter der Entwicklung und plädierte nicht für plötzliche „Sprünge“.
Stalin hingegen beendete schon 1926/27 die NÖP und die damit verbundene wirtschaftliche Dynamik. Mitte der 1920er wies die Industrie (bis zu seinem frühen Tod 1926 unter Volkskommissar Felix Dzerdzinski) gute Wachstumsraten auf, die deutlich höher waren als in Westeuropa). Die Arbeiterschaft hatte noch, wenn auch begrenzten, Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen.
Bereits 1928/29 erfolgte dann schlagartig der Übergang zu einem anderen Modell, der mit gravierenden Eingriffen verbunden war. Diese Sprunghaftigkeit und der damit verbundene Voluntarismus sollten für die stalinistische und die maoistische Wirtschaftspolitik typisch werden.
Der eine Eckpfeiler der stalinschen Politik war der erste Fünfjahrplan. Er sah eine massive Industrialisierung in schnellstem Tempo vor. Diese Orientierung war typisch für die stalinsche Zickzack-Politik. Bis dahin waren alle Vorschläge einer beschleunigten (aber nicht überstürzten) Industrialisierung, wie sie die „Linke Opposition“ um Trotzki vorgeschlagen hatte, brüsk abgelehnt worden. Die stalinsche Zentralplanung folgte nicht nur oft völlig unrealistischen Zielen, die mit den objektiven Möglichkeiten und Erfordernissen kollidierten, sie erfolgte auch völlig bürokratisch und eliminierte noch die letzten Reste von Einflussnahme der (längst bürokratisierten) Sowjets und der Arbeiterschaft, die zunehmend entrechtet und sozial unterdrückt wurde.
Interessant ist Stalins Begründung für die Hyperindustrialisierung. Sie wäre notwendig, um gegen eine imperialistische Aggression gewappnet zu sein. In nur 10 (!) Jahren sollten die führenden Länder eingeholt werden. Eine wahnwitzige Idee! Nur: 1929 gab es keine Anzeichen einer Bedrohung. Deutschland, die einzige relevante Landmacht an der Peripherie zur UdSSR, war demilitarisiert. Im selben Jahr 1929 begann mit dem „Schwarzen Freitag“ die bis dahin schwerste Wirtschaftskrise des Weltkapitalismus. Eine aktuelle Bedrohung der UdSSR existierte nur in Stalins Kopf, nicht in der Realität. Und als sie dann, 12 Jahre später, im Juni 1941 in Form des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die UdSSR real wurde, erwies sich Stalin als unfähig, die Gefahr zu sehen und adäquat zu reagieren.
Das Ergebnis der stalinschen Industrialisierung war zwiespältig. Einerseits wurde die UdSSR zur industriellen Großmacht, andererseits wurden damit all jene Elemente durchgesetzt, die für den Stalinismus so kennzeichnend werden und letztlich 1989/90 zum Kollaps des Ostblock führen sollten: bürokratische Planung, Tonnenideologie, mangelhafte Effizienz und technologische Innovationskraft, Ausschaltung fast jeder Form von Arbeiterselbstverwaltung und Demokratie usw.
Zwangskollektivierung
1929 begann auch die Zwangskollektivierung. Nachdem bis dahin unter der Führung von Stalin und Bucharin das Mittelbauerntum gefördert worden war, entwickelte dieses eine Eigendynamik, die Stalin gefährlich erschien – objektiv aber nicht war. Die Mittelbauern (pejorativ als „Kulacken“ bezeichnet) horteten das Getreide, um die Preise hochzutreiben. Da sie daran gehindert wurden, ökonomisch zu expandieren (u.a. Verbot der Neueinstellung von Arbeitskräften und des Landkaufs), hielten sie sich durch Landverpachtung und den Verleih von Landtechnik und Zugvieh zu überhöhten Preisen auf Kosten der armen Bauern schadlos. Für diese Entwicklung war weitgehend die Parteipolitik selbst verantwortlich, z.B. weil sie es versäumt hatte, ein effizientes Steuersystem einzuführen. Die „Kulacken“ spielten auch eine immer größere Rolle in den dörflichen Strukturen und wurden zu einem „Gegenspieler“ der Partei.
Angesichts dieser Probleme zog Stalin nun den Schluss, dass die „Kulacken“ als Klasse enteignet werden und schnell ein System von Genossenschaften etabliert werden müsse. (Die stalinschen „Genossenschaften“ waren aber de facto besondere Staatsbetriebe und keine wirklichen Genossenschaften).
Was war das Ergebnis dieses „Großen Sprungs“ in der Landwirtschaft? Die Bauernschaft insgesamt (die „Kulacken“ waren nur eine Minderheit) wollte nicht in die Genossenschaften, nur die ganz armen Bauern sahen das für sich als Option. Der große Rest der „reicheren“ Bauern bestellte seine Felder nicht mehr vollständig und schlachtete sein Vieh, um es nicht den „Roten“ und den Genossenschaften zu überlassen. Vielerorts gab es passiven und auch aktiven Widerstand gegen die von der Bürokratie zu immer neuen „Siegesmeldungen“ angestachelten Kollektivierungs-Aktivisten. Die Zwangskollektivierung war mit massivem Terror verbunden, Zehntausende wurden liquidiert oder nahmen sich selbst aus Verzweiflung das Leben. Hunderttausende wurden in unwirtliche Gegenden, zur „Neulandgewinnung“ zwangsdeportiert.
All das führte dazu, dass die landwirtschaftliche Produktion so dramatisch absank, dass es Anfang der 1930er erneut – nachdem des Hungerproblem mit der NÖP bereits überwunden war – zu einer Hungersnot kam, die Millionen Opfer forderte. Die noch einigermaßen produktiven Agrarbetriebe waren liquidiert worden, während die neuen Genossenschaften meist kaum produktiv waren. Nicht wenige wurden daher schon nach kurzer Zeit wieder aufgelöst. Die Ursachen der Probleme der Genossenschaften waren vielfältig: es mangelte am Engagement der zwangsverpflichteten Bauern, es mangelte an den Fähigkeiten, einen größeren Betrieb zu führen, es fehlten staatliche Experten, die ihnen dabei hätten helfen können, es mangelte an Landtechnik, an Dünger u.a. Dingen, die es überhaupt ermöglicht hätten, dass ein größerer Agrarbetrieb rational funktioniert. Für Stalins Genossenschaften fehlten fast alle objektiven Bedingungen, um erfolgreich wirtschaften zu können.
Die mutwillige Zerstörung der agrarischen Produktionsstrukturen und die Etablierung neuer, aber unproduktiver „Genossenschaften“ führten nicht nur kurzfristig zu dramatischen Versorgungsengpässen. Die Probleme mit der Landwirtschaft konnten jahrzehntelang nicht wirklich überwunden werden, so dass aus der einstigen Kornkammer Russland eine Mangelwirtschaft und ein Agrarimporteur wurde. Nach Berechnungen etlicher Ökonomen waren in den 1930ern die ökonomischen Verluste durch die Zwangskollektivierung ungefähr genauso hoch wie die Zuwächse durch die Industrialisierung.
Bruch und Kontinuität
Anstelle einer harmonischen, den objektiven Bedingungen angepassten Wirtschaftspolitik, wie Lenin sie anstrebte, setzten Stalin und seine getreuen Gefolgsleute – das Gros der bolschewistischen Führer und Kader – auf eine voluntaristische Politik. Das war jedoch, ganz unabhängig von Stalins Konzepten, auch eine (notwendige) Folge der von den Bolschewiki schon unter Lenin vertretenen Auffassung, dass nicht ein Rätesystem, sondern ein Partei-Staatsapparat die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt.
Trotz dieses Elements von Kontinuität in den konzeptionellen Vorstellungen der Bolschewiki und Stalins gibt es auch einen tiefen methodischen Bruch. Für Lenin war immer klar, dass der Übergang zu genossenschaftlichen Strukturen nur auf Basis von Freiwilligkeit und über eine längere Periode erfolgen könnte. Eine Hasardpolitik wie bei Stalin wäre Lenin nie in den Sinn gekommen. Es soll hier zumindest am Rande erwähnt werden, dass auch Marx schon im „Manifest“ darauf verwies, dass der Übergang vom kapitalistischen Wirtschaftssystem in ein anderes nur schrittweise, nur nach und nach erfolgen könne. Das ist auch der eigentliche Grund dafür, dass es nach der Revolution nicht sofort Sozialismus geben kann, sondern ihm eine Übergangsphase, die „Diktatur des Proletariats“, vorgelagert ist. Leider haben weder Marx und Engels noch die Marxisten nach ihnen viel dazu gesagt, wie diese Übergangsgesellschaft aussehen, vor welchen Problemen sie stehen und welche Lösungen in Betracht kommen könnten.
Fazit
Lenins Schrift zur Genossenschaftsfrage ist zu kurz, um als substanzielle theoretische oder programmatische Arbeit bewertet werden zu können. Wesentliche Fragen werden nicht behandelt. Er betrachtet nur die Landwirtschaft (bzw. am Rande noch den Handel) als für die Genossenschaften relevant. Immerhin modifiziert und konkretisiert Lenin als politischer Realist aber seine bisherige Konzeption und hebt die Bedeutung der Genossenschaften für die weitere Entwicklung der UdSSR stark hervor. Damit kritisiert er indirekt auch die Tendenzen zum Hyperzentralismus und Bürokratismus, die schon sehr früh zum Ausdruck kamen.
Lenin sieht zwar die Vorteile der Genossenschaft, z.B. die Einbeziehung aller dort Beschäftigten in die betrieblichen Abläufe und deren Leitung, doch er verweigert sich der Einsicht, dass diese Vorteile auch für die Industrie u.a. Bereiche der Gesellschaft gelten. Doch eine Staatswirtschaft ist nicht identisch mit wirklicher Vergesellschaftung, wie sie sich Marx vorstellte. Nur dann, wenn der direkte Zugriff der Produzenten und Konsumenten auf die Produktionsmittel und die Produktionsverhältnisse gewährleistet ist und die selbstverwalteten bzw. genossenschaftlichen Unternehmen in ein Rätesystem eingebettet sind, kann sichergestellt werden, dass sich „die ganze alte Scheiße“ (Marx) nicht wiederholt. 1989/90 hat genau das stattgefunden: der stalinistische Staatskapitalismus brach an seiner Ineffizienz zusammen und wurde abgelöst vom bzw. mutierte wieder zum Privatkapitalismus.
Vor heutigen Marxisten steht die Aufgabe, die von Lenin 1923 aufgeworfene, aber nicht umfangreich und tiefgründig behandelte Frage der Genossenschaften (und im weiteren Sinn der Selbstverwaltung) wieder aufzunehmen, zu bearbeiten und – wie Marx – als Grundlage der Entwicklung zum Kommunismus anzusehen.