Etatismus im Spätimperialismus

Hannah Behrendt

Wir gehen von der grundlegenden These aus, dass der Imperialismus in den 1990er Jahren in eine  neue Periode, den Spätimperialismus, eingetreten ist. Wir skizzieren hier zunächst einige ökonomische Tendenzen, die wichtig sind für das Verständnis des modernen Kapitalismus und auch seiner etatistischen Elemente. Welche Tendenzen sind das u.a.?

Die Überakkumulation

Der Umfang der Produktion von Gütern (und umso mehr die Produktionskapazitäten) übersteigen immer mehr die kaufkräftige (!) Nachfrage. Zwar sind seit den 1990ern neue Märkte, die zuvor der Kapitalverwertung des westlichen Imperialismus weitgehend verschlossen waren (Ostblock, China), in den Weltmarkt reintegriert worden, doch da auch dort, v.a. in China und vielen Schwellenländern, der wirtschaftliche Output erhöht wurde, konnte das Problem der Überakkumulation von Gütern und Kapital zeitweise gemindert, aber nicht gelöst werden. Hinzu kommt, dass Teile der „3.Welt“, v.a. Afrika, zunehmend verarmen und selbst als relevante Konsummärkte ausfallen. Auch die Finanzkrise von 2008/09 und die Corona-Krise haben nur in unzureichendem Maße dafür gesorgt, dass Überkapazitäten durch Pleiten vernichtet wurden, so z.B. in der Autoindustrie. Allein die in Gebrauchtwagen-Märkten, in Autohäusern und auf Flächen der Hersteller stehenden PKW zählen weltweit nach Millionen.

Der wachsende Finanzsektor

Schon mit dem Ende des Nachkriegsbooms und mit den neoliberalen Reformen ab den 1970ern nahmen Größe und Bedeutung des Finanzsektors zu. Die Politik eröffnete dem Finanzkapital durch die Aufhebung staatlicher Beschränkungen viele neue Möglichkeiten, „kreative“, sprich: spekulative Finanzprodukte auf den Markt zu bringen. Dieses „schnelle Geldmachen“ wirkte für eine ganze Periode als Treiber der Profite. Parallel dazu wurde es dem Finanzkapital ermöglicht, in immer mehr Bereiche der Gesellschaft einzudringen, die zuvor noch staatlich bzw. kommunal organisiert waren. Der Wohnungsbereich oder staatliche Dienstleistungen (Wasser, Energie usw.) wurden privatisiert und dem Zugriff des Finanzkapitals unterworfen. Die industriellen Überkapazitäten führen dazu, dass Investments in diesem Bereich oft stärker mit Risiken behaftet sind, unmöglich werden oder zu geringe Renditen abwerfen. Kapital fließt daher immer stärker in den Finanzsektor, der dadurch immer größer, aber auch instabiler wurde. Die Dotcom-Krise um die 2000er und die Finanzkrise von 2008 in Folge des Platzens der US-Immobilienblase sind genauso Ausdruck dessen wie das Anwerfen der Geldpressen durch die Zentralbanken und die inflationären Tendenzen.

Fallende Profitraten

Die Aufwendungen des Kapitals für Investitionen werden – in Relation zu den Profiten – immer höher. Immer mehr muss für Maschinerie, Marktaquise, Forschung usw. ausgegeben werden, bevor überhaupt Profit anfallen kann. Das spekulative Finanzkapital kann diesem Problem tw. entgehen, dem Industriekapital ist das weniger möglich. Auswege aus diesem Dilemma sind u.a., Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, neue Märkte zu erobern, zu rationalisieren, durch Lohnkürzungen, Steuerersparnis u.a. Maßnahmen wie Produktionsverlagerungen, Abgreifen von Subventionen, künstliche Schaffung von neuem „Bedarf“ usw. die Profitmasse und/oder die Profitrate zu erhöhen. Je mehr aber z.B. die Produktion rationalisiert wird, desto geringer wird auch der Spielraum für solche Effekte in der Zukunft. Im größeren Rahmen verhält es sich auch bei Privatisierungen so: je mehr privatisiert ist, desto weniger bleibt zum Privatisieren übrig. Nachdem bis Ende der 1970er/Anfang der 1980er die Profitraten international sanken, haben sie sich seitdem stabilisiert. Dabei muss aber beachtet werden, dass für die Bourgeoisie die Profitmasse entscheidend ist, nicht die -rate. Letztere ist v.a. für die Konkurrenz unter den verschiedenen Kapitalen von Bedeutung.

Neue Technologien

Der moderne Kapitalismus hat immer mehr mit der Nutzung und der Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu tun – auch wenn diese Tendenz zugleich auch mit ihrem Gegenteil, der Blockade technischen Fortschritts, verbunden ist. Innovationen werden mitunter verhindert, um das vorhandene C-Kapital nicht zu entwerten. Auch das Patentrecht und der Markenschutz bremsen die breitere Anwendung moderner technischer Lösungen.

Neue Techniken bringen neue Produkte hervor und kreieren neue Marktsegmente bzw. Absatzmärkte. V.a. die IT-Technik und die künstliche Intelligenz ermöglichen in etlichen Bereichen eine rationellere Produktion bzw. die Einsparung von V-Kapital (Arbeitskraft) bzw. die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Ob diese Entwicklungen zu einer generellen Einsparung von lebendiger  Arbeit auf gesellschaftlicher Stufenleiter führen, muss aber offen bleiben. Historisch hat der Einsatz von mehr Maschinerie nicht dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit zugenommen hätte – im Gegenteil. Ein wesentlicher Effekt der Digitalisierung ist die bessere Nutzung globaler Geschäftsmodelle.

Globalisierung

In den 1990ern hat die Globalisierung den Kapitalismus stark verändert und einen Wachstumsschub bewirkt. Die Globalisierung verbindet mehrere Elemente u.a.:

  • nach dem Kollaps des Stalinismus wurde Osteuropa (und zuvor schon China) in den Weltmarkt integriert und neue Absatzmärkte und Investmöglichkeiten erschlossen;
  • die Rationalisierung des Seehandels (größere Schiffe, Container, digitalisierte Logistik) ermöglichte die weltweite Nutzung neuer Produktionsstandorte (Billiglöhne, niedrigere staatliche Standards) und neuer Absatzmärkte;
  • die Digitalisierung förderte die schnelle und globale Nutzung von Geld-, Daten- und Warenströmen
  • die Verlagerung von Produktion bzw. die Drohung damit, vergrößerten den Druck auf Löhne, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in den imperialistischen Zentren.

Das Geschäftsmodell von immer mehr Unternehmen – nicht nur der Plattformökonomie – beruht darauf, dass die ganze Welt zum Aktionsraum des Unternehmens wird. Oft werden pro Geschäftsvorgang, z.B. eine bei der Buchung per Handy-App abgewickelte Überweisung, nur sehr geringe Umsätze erreicht, doch multipliziert mit mehreren Hundert Millionen Nutzern ergibt das trotzdem enorme Summen. Gerade hier fungieren der Staat und internationale Gremien wie IWF, WTO usw., um diese Geschäftsmodelle durch entsprechende Regeln überhaupt zu ermöglichen.

Neoliberale Reformen

Die seit den 1980ern massiv erfolgenden neoliberalen Reformen haben verschiedene, für das Kapital positive Effekte gehabt:

  • vorher staatliche Bereiche, z.B. öffentliche Infrastruktur, wurden privatisiert;
  • der Einfluss und die Möglichkeiten des Finanzkapitals wurden durch den Rückzug des Staates aus seinen öffentlichen und regulativen Funktionen größer;
  • „sozial“staatliche Regelungen wurden aufgeweicht, der Anteil der Löhne am gesellschaftlichen Gesamtprodukt sank;
  • der Einfluss des Kapitals bzw. ihrer Akteure aus der lohnabhängigen Mittelschicht (städtische Akademiker) auf Wissenschaft, Bildung, Medien, Kultur, Politik nahm zu.

Krise der Arbeiterbewegung und der Linken

Diese Angriffe des Kapitals und ihres Staates waren aber nur möglich, weil die Arbeiterbewegung (Gewerkschaften) und die Linke als Gegenspieler des Kapitals immer weniger Widerstand geleistet haben oder leisten wollten. Nicht nur, aber v.a. ihr stalinistisch geprägter Teil büßte mit dem Kollaps des Ostblocks ihren Bezugspunkt ein. Generell verloren antikapitalistische Konzeptionen an Attraktivität. Sowohl die reformistische als auch die „radikale“ Linke passten sich bürgerlichen Strategien (Klimapolitik, Energiewende) und Ideologien (Genderismus, Milieupolitik, Globalismus) an und wurden tw. von links-kleinbürgerlichen „grünen“ Bewegungen beeinflusst oder sogar aufgesogen. Generell erfolgte eine Abwendung von Konzepten des Klassenkampfes und von der Arbeiterklasse.

Etatismus

Erst vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Probleme und Tendenzen des Spätimperialismus wird plausibel, warum der Etatismus eine zunehmende Rolle spielt. Überakkumulation, fallende Profitraten, die Überfüllung der Märkte und wachsende Konkurrenz auf globaler Ebene sind Herausforderungen, an denen viele Kapitale ohne Eingreifen des Staates scheitern würden.

Wir wollen zunächst definieren, was wir unter Etatismus (von franz. l´Etat, der Staat) verstehen. Etatismus sind Maßnahmen des Staates, die in die Wirtschaftstätigkeit, also in das Agieren der Bourgeoisie, eingreifen. Dazu gehören etwa Gesetze, die dem Wirtschaftsleben einen Rahmen geben, dazu zählen Verordnungen und Normen, Subventionen und Beteiligungen bis hin zur Verstaatlichung privater Unternehmen. Letzteres ist aber die Ausnahme, während der (stalinistische) Staatskapitalismus – im Unterschied zum Etatismus – gerade auf dem Staatseigentum beruht und die Enteignung des Privateigentums voraussetzt. Insofern ist z.B. Lenins Einschätzung des deutschen Kaiserreichs im 1. Weltkrieg als Staatskapitalismus falsch, weil der deutsche Staat zwar etatistische Regularien ausweitete, aber trotzdem das Privatkapital die Grundlage der Wirtschaft blieb (sehr ähnlich funktionierte auch das faschistische Deutschland).

Der bürgerliche Staat ist grundlegend eine Institution, die den für das Funktionieren des Kapitalismus als einer Gesellschaft konkurrierender Privatproduzenten absolut notwendigen juristischen und organisatorisch-administrativen Rahmen bildet und die Herrschaft der Bourgeoisie absichert. Allerdings schwanken die Art und das Ausmaß etatistischer Maßnahmen abhängig von den Herausforderungen, vor denen das Kapital steht. In der Regel nehmen etatistische Regelungen in Momenten der Krise oder in einem Krieg zu.

Seit den 1990er Jahren, als die Phase des Spätimperialismus begann, konnten wir zahlreiche Fälle erleben, wo der Staat in das „normale“ Wirtschaftsleben massiv eingriff. So hat etwa die Schröder/Fischer-Regierung ab 1998 etliche Gesetze erlassen, um den Handlungsspielraum des Finanzkapitals zu vergrößern. 2008/09 wurden im Zuge der Finanzkrise riesige Milliardenbeträge vom Staat ausgegeben, um marode Banken vor dem Bankrott zu retten und einen gesamtwirtschaftlichen Dominoeffekt zu verhindern. Aktuell pumpt die Ampelregierung Hunderte  Milliarden in Rüstung, Militär und Ukrainehilfe. Diese Aufzählung ließe sich fast endlos verlängern.

Beispiel Energiewende

Seit den 1990er Jahren wird die Politik der Energiewende (EW) in Deutschland massiv vorangetrieben. Wir wollen am Beispiel der EW zeigen, wie etatistische Politik heute aussieht und dass sie den Interessen bestimmter Kapital-Fraktionen dient.

Ein Kernstück der „Klimaschutzpolitik“ ist die These, dass die Verbrennung fossiler Stoffe (Kohle, Gas, Öl) das Klima gefährlich aufheizen würde. Daher müssten Kohlekraftwerke durch „Erneuerbare Energien“ (EE) ersetzt werden. Dazu kommt als deutsche Besonderheit, dass auch Kernkraftwerke – obwohl CO2-frei – ebenfalls abgeschaltet wurden. Ökonomisch bedeutet das, dass C-Kapital aus ideologischen Gründen entwertet wird und dadurch Ersatz- und Neuinvestitionen nötig werden. Für ein EE-basiertes Stromsystem sind ungeheure Zusatzinvestitionen in Netze, in Speicher und in Backup-Kraftwerke, die ansonsten völlig unnötig wären, unverzichtbar, damit das Gesamtstromsystem überhaupt funktionieren kann. Ähnlich verhält es sich bei den Kampagnen gegen Verbrennerautos oder für Wärmepumpen. Überall findet künstlich verursachte Entwertung von Anlage-Kapital zugunsten von Neuinvestitionen statt. Natürlich vollzieht sich diese Erneuerung auch ohne „grüne“ Politik einfach im Rahmen der technischen Entwicklung. Doch dann erfolgt dieser Prozess organisch und ist fast immer sinnvoll. Die „grüne“ Politik bedient sich hingegen einer Mischung von Demagogie, Lügen, staatlichen Zwangsmaßnahmen (z.B. Dieselverbot) und Subventionen – alles auf Kosten der Bevölkerung -, um ihre Agenda umzusetzen.

Wenig bekannt ist beim Strombereich, dass sich schon Mitte der 1980er Jahre der Stromverbrauch vom Wirtschaftswachstum entkoppelt hatte. D.h. es gab keinen Grund für neue Erzeugerkapazitäten, sondern nur für Ersatz- oder Erneuerungsinvestitionen: ungünstig für eine  Branche, die auf Neubauten setzt – aber gut für die Gesellschaft. Durch die Klimapolitik wurde dieser erfreuliche Trend nun ins Gegenteil verkehrt: die Kosten und die Investitionen haben gewaltig zugenommen. Was einerseits für die Verbraucher und die Wirtschaft insgesamt katastrophal ist, erweist sich andererseits für bestimmte Branchen (das “grüne“ EE-Kapital) und für die Gesamtkonjunktur als Segen. Hier zeigt sich auch, wovon der Kapitalismus lebt: von einer möglichst umfangreichen Neuproduktion (und entsprechend künstlich angekurbelter Nachfrage).

Der Blog TechForFuture hat die Kosten der EW ausgerechnet. In den letzten 20 Jahren kostete die EW bereits 476 Mrd. Euro. Die notwendigen Maßnahmen, um bis 2050 CO2-Neutralität zu erreichen, kosten noch weitaus mehr: ca. 3.750 Mrd. Euro. Das wären jährlich rund 190 Mrd. Euro. Ein schöneres Konjunkturprogramm ist kaum denkbar – leider schadet die EW-Politik aber der Wirtschaft, anstatt sie anzukurbeln, weil sie grundlegende technische und naturwissenschaftliche Gesetze missachtet.

Das „Erneuerbare Energien Gesetz“ (EEG)

Das EEG beinhaltet (unabhängig von den Novellen dieses Gesetzes) zwei wesentliche Regelungen: 1. die Vorrangeinspeisung für die EE, v.a. für Wind- und Solarstrom. Damit ist gewährleistet, dass zuerst EE-Strom ins Netz eingespeist wird. Bei Stromüberproduktion werden also traditionelle Produzenten (v.a. Kohlekraftwerke) gedrosselt. Das EEG sichert also die Abnahme des Stromes der EE-Erzeuger. 2. bedeutet das EEG, dass für den EE-Strom hohe Vergütungen gezahlt werden. Nur dadurch lohnt sich überhaupt der Bau eines Wind- oder Solarparks. Das EEG ist insofern einfach eine Subvention für die „grünen“ Erzeuger. Ohne EEG wären die EE am Markt überhaupt nicht konkurrenzfähig. Das räumen die Befürworter der EW ja auch offen ein. Sie behaupteten aber, dass diese Subventionen nur eine Anschubfinanzierung darstellen und diese sich künftig selbst tragen würden. Da – trotz steigender Strompreise – die EE auch noch heute gefördert werden, erweist sich auch diese Behauptung der „grünen Klimaschützer“ als falsch.

Etatismus und Liberalisierung

Diese beiden Vorgehensweisen scheinen zueinander im Widerspruch zu stehen, doch tatsächlich sind sie zwei Seiten einer Medaille. So wurde im Zuge der EW das Stromnetz liberalisiert. War es bis dahin Eigentum der großen Stromproduzenten RWE, EnBW, Vattenfall und Co., wurden die Netze dann eigenen Netzbetreibern übergeben. Dazu war ein Eingreifen des Staates notwendig, der die vorherige „halbstaatliche“ Struktur im Strombereich auflöste. Halbstaatlich war das Stromsystem in mehrfacher Hinsicht: es gab klare Vorgaben des Staates hinsichtlich Konkurrenz, Preisgestaltung, Investitionen usw. – im Interesse des Gesamtkapitals, das billigen und zuverlässigen Strom verlangte. Auch die Einführung einer Strombörse war neu, genauso die Festlegung von CO2-Zertifikaten. Die gesamte EW ist ein Projekt, bei dem Etatismus mit Liberalisierung einhergeht.

Beispiel Corona

Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, dass der Staat und übernationale Gremien den Markt zurichten oder überhaupt erst schaffen, damit bestimmte Produkte eingeführt werden können, war die Corona-Pandemie. Zunächst bewirkte die WHO, dass das Auftauchen des Coronavirus zur Pandemie erklärt, seine Gefährlichkeit massiv übertrieben und damit weltweit Anti-Viren-Schutzmaßnahmen motiviert wurden: Lockdowns, Massentestungen und Impfungen. Demokratische Standards wurden dabei ausgehebelt. Die Politik berief sich auf die durch staatsnahe „Experten“ und Medien verbreitete Hysterie. So wurde durch den „Staat“ – die WHO, die EU und die nationalen Regierungen – die Möglichkeit geschaffen, dass die Pharmakonzerne weltweit ein neues Marktsegment nutzen und damit Milliardengewinne machen konnten: Testsets, Hygienemittel, Impfdosen usw. Die Lockdowns haben ökonomisch v.a. das Kleinbürgertum gebeutelt, deren Produktion wurde z.T. von der Plattformökonomie (Amazon, Lieferando u.a.) übernommen. Für dieses Profitmachen auf neuer Stufenleiter wurden gewaltige wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Schäden in Kauf genommen. Die Coronakrise ist – wie auch die EW-Politik – nicht unbedingt Ausdruck der Bedürfnisse der gesamten Bourgeoisie, sie sind eher Projekte bestimmter Fraktionen des Kapitals tw. auf Kosten anderer Fraktionen und der Bevölkerung. Nicht zu vergessen ist dabei, dass das Verbreiten von Angst und die Projektion des Staates als „Retter in der Not“ probate Mittel zur Steuerung und Beherrschung der Bevölkerung sind.

Auch bei der Einführung neuer Technologien spielt der Staat eine größere Rolle als früher. Da immer mehr „systemische Technik“, d.h. Techniken, die das Funktionieren der ganzen Gesellschaft berühren, eingeführt werden, muss der gesamte nationale und internationale Markt dafür „hergerichtet“ werden. Beispiele dafür sind etwa die 5G-Technik oder die E-Mobilität. Meist geht es dabei auch darum, „Alttechnik“ künstlich zu entwerten, um diese durch neue Technik ersetzen zu müssen, wie es z.B. beim Dieselverbot der Fall war. Fast immer spielt dabei die ideologisch motivierte Pseudowissenschaft eine Rolle.

Kapitalistische „Vergesellschaftung“

Schon Marx betonte, dass der Kapitalismus die Tendenz hat, sich zu vergesellschaften, z.B. durch die Aktiengesellschaften. Er wies allerdings auch darauf hin, dass diese Tendenz im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verbleibt und sie keinesfalls sprengt. Die Sozialdemokratie (und in deren Folge tendenziell auch der Bolschewismus) waren aber im Unterschied zu Marx eher  der Meinung, dass die kapitalistische „Vergesellschaftung“ objektiv zum Sozialismus führen würde. Für sie war der Staat das Subjekt, dass die Kontrolle über die Umsetzung dieser Tendenz ausüben sollte. Der Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus war, dass erstere von einer rein evolutionären Entwicklung ausging, während Lenin und Co. die Revolution als notwendig ansahen. Während die Sozialdemokratie den bürgerlichen Staat für ihre Zwecke nutzen wollte, meinte Lenin, dass dieser zerschlagen und durch einen proletarischen Staat ersetzt werden sollte. Die Folge war die Etablierung einer Staatswirtschaft in der UdSSR und später im Ostblock. Marx hingegen hat nie von einer „sozialistischen Staatswirtschaft“, sondern nicht von ungefähr immer wieder von der „Assoziation“ der „genossenschaftlichen“ Produzenten gesprochen. Allerdings – und das ist sicher ein Mangel schon bei Marx und Engels – haben sie nie genauer dargelegt, was das konkret heißt.

Der Spätimperialismus hat die schon mit der Herausbildung der ersten Phase des Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts begonnene „Vergesellschaftung“ noch vertieft. Das ist auch an der bedeutenderen Rolle des Finanzkapitals ablesbar. Blackrock und Co. haben heute einen wesentlich größeren Einfluss auf die Wirtschaft, ja die Gesellschaft insgesamt als noch um 1900, als in Deutschland acht Berliner Großbanken die Wirtschaft dominierten. Damals meinten führende Sozialdemokraten, dass man nur diese acht Banken übernehmen müsse, um die gesamte Wirtschaft zu beherrschen. Davon abgesehen, dass es damals noch große Bereiche der Ökonomie gab, die vom Bankkapital relativ unabhängig agierten, zeigt diese Position auch, dass die SPD konzeptionell von einer grundlegenden Umwandlung der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie Marx verstand, meilenweit entfernt war, und es ihr mehr um das Beherrschen der Wirtschaft von „oben“ ging – Richtung Staatskapitalismus. Nur aufgrund der Weigerung der Sozialdemokratie, die Revolution durchzuführen, kam es nie dazu. Hier waren die Bolschewiki konsequenter: sie enteigneten die Bourgeoisie. Mit dem Aufstieg des Stalinismus mutierte der „halbe“ Sozialismus Sowjetrusslands dann zum Staatskapitalismus.

Die „Vergesellschaftung“ im Spätkapitalismus ist im Wesen nichts anderes als die globale Herrschaft des Finanzkapitals und der Großkonzerne – in Kooperation mit dem Staat. Ihr Drang zur absoluten Durchdringung und Beherrschung der Welt kann nur mithilfe staatlichen Eingreifens umgesetzt werden. Deshalb ist es nach 1945 dazu gekommen, dass internationale Gremien wie die UNO, der IFW, die Weltbank oder die WTO so große Bedeutung bekommen haben. Daher hat auch die Beeinflussung von Politik, Medien, Wissenschaft und Kultur durch das Großkapital so zugenommen. Alle diese Institutionen werden eingespannt, um den Markt für die Bedürfnisse des Kapitals herzurichten, um Bedürfnisse zu manipulieren, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Alternativen zu blockieren. Der Etatismus ist aus einem immer schon für das Kapital notwendigen Hilfsmittel zu einem bedeutenden Faktor seiner Herrschaft geworden.

Diese Entwicklung ist jedoch kein unabwendbares Schicksal der Entwicklung des Kapitalismus. Sie ist auch ein Ergebnis des Klassenkampfes – in doppeltem Sinn: zum einen hat der Stalinismus dem Modell des Staatskapitalismus (auch wenn er sich „Sozialismus“ nannte) weltweit einen Schub gegeben, um dann aber ab den 1970ern immer mehr in die Krise zu geraten und 1989/90 schließlich zu implodieren. Die Linke war sehr „staatsorientiert“. Der (bürgerliche) Staat war für sie ein Faktor, der für „soziale Zwecke“ zuständig war. Verstaatlichungen (mit oder ohne demokratische oder Arbeiterkontrolle) wurden als fortschrittlich angesehen. Die von Marx, den Frühsozialisten und den Anarchisten in dieser oder jener Weise betonten Ideen der Selbstverwaltung und der Genossenschaftlichkeit wurden vom Gros der Linken unterschätzt oder sogar bekämpft.

Der Etatismus ist für den modernen Kapitalismus unverzichtbarer denn je. War er früher v.a. in Zeiten der Krise und des Krieges von Bedeutung, ist er heute zu einem permanenten Mittel geworden, die Wirtschaft am Funktionieren zu halten. Globale Geschäftsmodelle, die Einführung neuer Technologien bzw. Produkte und das „Kreieren“ neuer Märkte (Corona) sind heute Normalität. Der Etatismus ist zu einem zentralen Mittel geworden, um die Konjunktur anzukurbeln. Das ist u.a. an der Rüstungsindustrie ablesbar. Der militärisch-industrielle Komplex ist mittlerweile ein wichtiger Teil der Wirtschaft geworden. Gerade aktuell, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und der wachsenden Spannungen zwischen China und den USA, wird die Rüstung noch stärker ausgeweitet. Eine untergeordnete Rolle spielt der Etatismus in Form der Verstaatlichung vormals privater Bereiche. Wesentlich bedeutsamer hingegen ist der Etatismus umgekehrt für die Privatisierung ehemals staatlich-kommunaler Sektoren. Hier – wie auch bezüglich des Handlungsrahmens des Finanzsektors – räumt die Politik Hindernisse für die neoliberalen Akteure aus dem Weg.

Letzten Endes ist der Etatismus eine notwendige Folge der Ausweitung und Internationalisierung, der immer stärker systemisch vernetzten Strukturen von Produktion, Kommunikation, Kultur und Wissenschaft sowie der zunehmenden Konflikte zwischen Staaten und Staatengruppen. Die Produktivkräfte sind dem Kapitalismus längst über den Kopf gewachsen und verlangen nach immer  mehr staatlichen Regelungen und Eingriffen, um die kapitalistische Megamaschine am Funktionieren zu halten und den Kollaps zu verhindern.

Vergesellschaftung

Vergesellschaftung hieß für Marx und Engels nicht Verstaatlichung. Engels bringt das z.B. hier zum Ausdruck: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst (sic!) in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. (…) Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab.“ (Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft).

Immer deutlicher zeigt sich, dass die von der kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Probleme auf eine systemimmanente Weise kaum mehr beherrschbar sind bzw. dafür immer mehr Aufwand erforderlich ist. Daher auch der zunehmende Trend zu mehr Bürokratie.

Die historischen Experimente, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Imperialismus zu lösen oder wenigstens abzufedern, indem man staatskapitalistische Strukturen schafft, wie es der Faschismus tendenziell, das stalinsche System hingegen konsequent umsetzte, sind gescheitert. Die besonders etatistisch geprägten und staatskapitalistischen Länder waren weniger innovativ und undemokratischer als der „tradierte“ Privatkapitalismus.

Selbstverwaltung vs. Verstaatlichung

Für die Arbeiterbewegung und die Linke stellt sich – oder sollte sich die Frage stellen -, was die Alternative dazu ist. Die Antwort ergibt sich einerseits aus der Kritik an den etatistischen und staatskapitalistischen Modellen, andererseits aus den, wenn auch vergleichsweise seltenen, erfolgreichen Versuchen einer anderen Art von Vergesellschaftung, die auf der demokratischen Selbstorganisation der Produzenten  und Konsumenten beruht. Hier finden wir verschiedene Ansätzen dazu in allen größeren Klassenkämpfen des Proletariats u.a. werktätiger Schichten. Immer gab es Versuche der Selbstorganisation, der Schaffung von Genossenschaften und Kooperationen, von Kontrollorganen, Räten, Milizen usw.

Im republikanischen Spanien gab es von 1936-39 Millionen, die in solchen, meist von den Anarchisten getragenen, Strukturen lebten und arbeiteten. Diese wurden nach dem Sieg der Konterrevolution meist wieder ausgemerzt. Trotzdem hat dieses Selbstverwaltungssystem unter sehr komplizierten Bedingungen gut funktioniert. Es hätte der Ausgangspunkt für eine (nationale) revolutionäre Arbeiterregierung werden können und müssen – doch für das Erreichen dieses Ziels erwies sich die anarchistische Strategie als ungeiegnet.

Der Weg zum Kommunismus war für Marx v.a. damit verbunden, das Privateigentum zu vergesellschaften, das Lohnsystem und die Entfremdung zu überwinden. Die Verstaatlichung hingegen ersetzte eine soziale Herrschaftsschicht nur durch eine andere: die Bürokratie. Das Lohnsystem, die weitgehende Ausschaltung der Verfügung über die Produktionsmittel und die gesellschaftlichen Prozesse, wurden modifiziert, aber nicht überwunden. Die „neue Welt“ des Stalinismus war der alten sehr ähnlich.

Die Linke muss sich äußerst kritisch zu allen etatistischen Manövern verhalten und sie nicht wie in der Corona-Pandemie oder bei der EW noch unterstützen. Die „Verwaltung“ sozialer Fragen darf nicht – so weit möglich und v.a. nicht per se – dem Staat überlassen werden, sondern muss möglichst der Kontrolle und der direkten (!) Verfügung der Lohnabhängigen unterliegen. Das bedeutet, selbstverwaltete Strukturen  aufzubauen, die – soweit möglich – ohne und gegen Staat und Kapital agieren.

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