Hanns Graaf
In unserer dreiteiligen Artikelreihe „Zur Klassenstruktur des Spätimperialismus“ haben wir dargestellt, dass es die Arbeiterklasse auch heute noch gibt und welche Veränderungen sich in ihrer Struktur vollzogen haben. In diesem Beitrag wollen wir uns nun den Fragen widmen, ob die Arbeiterklasse heute (noch) revolutionär ist.
Nach Marx definiert sich eine Klasse dadurch, welche Stellung sie innerhalb einer bestimmten historischen Produktionsweise einnimmt und v.a. durch ihr Verhältnis zu den Hauptproduktionsmitteln. Proletarier, also eigentumslose Lohnabhängige, gab es zwar schon vor Jahrtausenden, doch erst mit der industriellen Produktion des Kapitalismus wurde sie zu einer massenhaften Klasse. Für Marx war das Proletariat die „einzig konsequent revolutionäre“ Klasse. Die Position, dass alle Klassen außerhalb des Proletariats nur „eine konterrevolutionäre Masse“ seien, wie es im „Gothaer Programm“ der Sozialdemokratie von 1875 stand, kritisierte er scharf. Er verwies in seinen Schriften mehrfach darauf, dass z.B. die Bourgeoisie in ihrer Aufstiegsphase revolutionär war. Auch die Bauern oder das Kleinbürgertum können in bestimmten Momenten revolutionär agieren.
Doch Marx war klar, dass die nichtproletarischen Klassen und Schichten durch ihre diversen Verbindungen zum Privateigentum oder durch das Bestreben, ihr Privateigentum zu verteidigen oder zu vergrößern, nie aus eigenem Antrieb konsequent (!) revolutionär und pro-sozialistisch handeln können, sondern nur unter Führung und durch den Einfluss der Arbeiterklasse. In diesem Sinn kommt ihr die Aufgabe zu, die Gesellschaft auch im Interesse der anderen nicht-unterdrückerischen Klassen und Schichten umzuwälzen.
Warum verstand Marx die Arbeiterklasse als „einzig konsequent revolutionäre“ Klasse? Diese Qualität ergibt sich wesentlich daraus, dass das Proletariat nicht von der Ausbeutung und Unterdrückung anderer Menschen lebt, weil es keine Produktionsmittel besitzt, die das überhaupt ermöglichen würden. Es besitzt keinen Reichtum, den es verteidigen könnte, und hat auch nicht die Möglichkeit, sich mittels ihrer Lohnarbeit Reichtum anzueignen. Es gibt also weder ein objektives Interesse noch eine objektive Möglichkeit, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Lage als Ausgebeutete und Unterdrückte wesentlich verbessern könnten – außer durch die Überwindung des Kapitalismus, des Lohnarbeitssystems und des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Dazu kommen noch zwei weitere wesentliche Eigenschaften der Arbeiterklasse. Erstens ist sie eng mit der modernen industriellen Produktion, mit Wissenschaft und Technik – also im weiteren Sinn mit der Entwicklung der modernen Produktivkräfte – verbunden. Wie weitsichtig diese Charakterisierung der Arbeiterklasse durch Marx war, zeigen die Veränderungen ihrer Stellung im Kapitalismus. Zu Marx´ Zeiten gehörten Menschen, die als Wissenschaftler arbeiteten, die studiert hatten oder Ingenieure waren, nicht zur Arbeiterklasse, was Marx mehrfach betonte. Die Mehrheit der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert war ungelernt oder angelernt und verfügte über wenig Bildung. Im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus hat sich das gewaltig verändert. Der Bildungsstand der Arbeiterklasse hat sich deutlich erhöht, Techniker und Ingenieure bilden zwar oft noch eine besondere Gruppe innerhalb des Proletariats (ein Teil von ihnen zählt auch nicht zum Proletariat), doch insgesamt hat sich ein Prozess der Proletarisierung der „gehobenen werktätigen Schichten“ vollzogen. Ein großer und weiter wachsender Teil der Lohnabhängigen hat eine höhere oder akademische Bildung – sie sind aber ansonsten „normale“ Beschäftigte ohne besondere soziale Privilegien. Hier zeigt sich, dass Marx´ Einschätzung der Arbeiterklasse nicht eine Momentaufnahme war, sondern mit der historischen Entwicklungstendenz des Kapitalismus und der Arbeiterklasse übereinstimmt.
Die enge Verbindung der Arbeiterklasse mit den modernen Produktivkräften ermöglicht es ihr nicht nur, die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen und zu gestalten, sie bedeutet darüber hinaus auch, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, eine andere Gesellschaft aufzubauen.
Die zweite wichtige Eigenschaft des Proletariats ist ihre große Zahl. Dadurch, dass sie eine Millionen starke Klasse ist, die heute in vielen Ländern, v.a. in den hochentwickelten, die Mehrzahl der Bevölkerung stellt, ist sie objektiv ein wichtiger Faktor. Nur aufgrund ihrer großen Zahl verfügt die Arbeiterklasse in der Summe auch über große organisatorische und finanzielle Möglichkeiten, z.B. als Konsumentengruppe, um dem Kapital wirksam entgegentreten zu können. Kleinere soziale Gruppen können hingegen viel leichter unterdrückt oder korrumpiert werden als eine große. Die Größe und die zentrale Stellung im Produktionsprozess ermöglicht es dem Proletariat, sich im Klassenkampf durchzusetzen und andere Schichten mitzureißen.
Methode
Marx´ Auffassung von der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse beruht auf einer materialistischen Methode. Was die Arbeiterklasse ist, ergibt sich nicht aus ihrem Bewusstsein, aus dem, als was sie sich selbst dünkt, sondern aus ihrer objektiven sozialen Lage, insbesondere aus ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln. Ob sich also der Arbeiter als Arbeiter und Angehöriger der Arbeiterklasse oder aber als Angestellter oder als Bürger versteht, hat damit, was er objektiv ist, zunächst nichts zu tun. Marx leitet seine Auffassung von Arbeiterklasse auch nicht nur mechanisch davon ab, dass der Arbeiter keine Produktionsmittel besitzt und dass er lohn- oder gehaltsabhängig ist. Diese Merkmale treffen auch auf andere Schichten zu, die nicht zur Arbeiterklasse gehören. Dazu zählen etwa ein Bundeskanzler, der Chefarzt einer Klinik, Polizisten oder Beamte. Sie alle erhalten Lohn oder Gehalt und besitzen keine Produktionsmittel, doch sie sind Teil des Herrschafts- und „Verwaltungs“apparats des Kapitalismus und somit objektiv Gegner oder Helfer der Gegner des Proletariats.
Marx definiert die Arbeiterklasse nach ihrer Stellung im Gesamtsystem der kapitalistischen Produktion und Reproduktion. Diese ist damit verbunden, dass das Proletariat eine wesentlich macht- und einflusslose Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Das ist oft, aber nicht immer und in unterschiedlichem Maße damit verbunden, dass die Arbeiterschaft arm ist – absolut oder relativ – und sozial und politisch unterdrückt wird. Diese Lage bezeichnet Marx wiederholt als „Entfremdung“ – eine für Marx zentrale Kategorie.
Als sehr bedeutend dafür, ob die Arbeiterklasse revolutionär handeln kann, sieht Marx die Kombination der großen Zahl der Klasse mit dem ihm adäquaten Klassenbewusstsein an. Nur wenn die Klasse ein Verständnis ihrer Aufgabe, ihrer „historischen Mission“ hat, nur wenn sie sich entsprechende Strukturen schafft und sich eine Programmatik erarbeitet, kann sie revolutionär handeln. Damit macht Marx schon klar, dass das Revolutionäre am Proletariat sich nicht automatisch aus ihrer sozialen Lage ergibt, sondern erarbeitet werden muss – ein Prozess, der sich sowohl aus theoretischer Arbeit als auch aus der Verarbeitung der praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes ergibt. So ist auch Marx´ Satz zu verstehen, dass „jeder Schritt wirklicher Bewegung (…) wichtiger (ist) als ein Dutzend Programme.“ (Brief an Bracke 1875). Das ist nicht nur eine Absage an jeden Dogmatismus, sondern auch daran, ohne Verarbeitung von Erfahrungen aus der Praxis, aus der Geschichte des Klassenkampfes eine revolutionäre Programmatik entwickeln zu wollen.
Von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“
Die Arbeiterklasse ist zunächst nur die Summe der Lohnabhängigen, die untereinander auch in Konkurrenz um Arbeitsplätze und Löhne stehen. Sicher werden diese Individuen durch den industriellen Arbeitsprozess und die sehr ähnliche Lebenslage zusammengeführt und dazu gezwungen, sich gegen die Zumutungen des Kapitals zur Wehr zu setzen und sich zu organisieren. Doch das Bewusstsein und das Organisationsniveau verbleiben in aller Regel auf einem bürgerlichen Level. So prägt z.B. oft die Vorstellung eines „gerechten Lohns“ das Denken der Arbeiter – jedoch nicht die Vorstellung der Überwindung des Lohnsystems. Entsprechend hat die ursprüngliche, „normale“ Form der Organisierung der Lohnabhängigen – die Gewerkschaft – fast nie eine revolutionäre Ausrichtung.
Hinsichtlich des Bewusstseins ist es in der Politik nicht sehr anders als in der Wissenschaft. Die Wissenschaft ist gerade deshalb nötig, um die Welt zu verstehen und zu verändern, weil man aus der Erscheinung der Dinge nicht automatisch auf deren Wesen schließen kann, sondern dieses erst durch wissenschaftlich-analytisches Bemühen verstehen kann. Das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung ist – im Unterschied etwa zu der im Feudalismus – durch die Waren- bzw. Lohnform verschleiert. Nur die wissenschaftliche Durchdringung und nicht nur der Augenschein ermöglicht es, das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung – i.w. die unbezahlte Aneignung der Mehrarbeit des Arbeiters – zu erkennen und den Weg zu deren Überwindung zu finden.
Marx benutzt die Begriffe „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“. Mit dem ersten Begriff meint er das Vorhandensein der Millionen starken Klasse von Lohnabhängigen. Der zweite Begriff meint die Arbeiterklasse, die ein Verständnis ihrer historischen Rolle hat, die im Klassenkampf für ihre eigenen Interessen kämpft und dabei einem System von Strategie und Taktik folgt.
Die Klasse ist natürlich nie homogen, sondern besteht aus verschiedenen, sich wandelnden Milieus: Jung und Alt, Männern und Frauen, verschiedenen ethnischen Gruppen, Facharbeitern und Ungelernten, Organisierten und Unorganisierten usw. Deren soziale Lage und deren Bewusstsein können stark differieren. Diese Spaltung der Klasse wird vom Kapital oft angefacht und immer ausgenutzt, um den Klassenkampf zu unterminieren. Es ist daher ein zentrales Ziel für Revolutionäre, diese Spaltungen zu minimieren und alle Schichten der Klasse in den Kampf einzubinden. Trotzdem wird es immer so sein, dass das revolutionäre Bewusstsein nur Teile der Klasse dominiert. Letztlich geht es im Klassenkampf und in der Revolution darum, dass die organisierte revolutionäre Vorhut das Gros der Arbeiterklasse führt. Um dazu in der Lage zu sein, muss die Vorhut organisiert sein, diese Organisation ist die Partei.
Nur dann, wenn die Arbeiterklasse bzw. ihre politische Vorhut sich organisiert, wenn sie die Erfahrungen der Klassenkämpfe systematisch verarbeitet und daraus eine revolutionäre Programmatik ableitet, ist sie eine revolutionäre „Klasse für sich“. Der Arbeiter und die Arbeiterin haben ansonsten keine besonders „positiven“ persönlichen Eigenschaften, die sie gegenüber nichtproletarischen Menschen hervorheben würden.
Wie entsteht Klassenbewusstsein?
Zunächst muss der Begriff „Klassenbewusstsein“ geklärt werden. Im weiteren Sinn und bei Marx ist damit das Denken der Klasse gemeint, das auf die Revolution und die Eroberung der Macht und auf den Aufbau des Kommunismus zielt. Dieses revolutionäre Bewusstsein stellt keine absolute Wahrheit dar, es wird stattdessen immer mehr oder weniger auch zeit- und situationsbedingt sein und provisorischen Charakter haben. Es wird sich unter dem Einfluss von Klassenkämpfen, politischen und ökonomischen Umständen ändern und entwickeln. Keine Partei und kein Denker haben die absolute Wahrheit gepachtet, Marx selbst hätte über eine solche Auffassung, wie sie später v.a. vom Stalinismus verbreitet wurde, gelacht.
Revolutionäres Klassenbewusstsein bedeutet nicht nur, in einem bestimmten Moment für revolutionäre Maßnahmen einzutreten. Auch Bauern oder die Mittelschichten können in diesem Sinn revolutionär sein. Doch zum revolutionären Klassenbewusstsein gehört auch, für eine Gesellschaftsentwicklung Richtung Kommunismus einzutreten. Da diese aber mit der Lage und den Interessen nicht-proletarischer Schichten zumindest partiell kollidiert oder kollidieren kann, können diese Schichten an bestimmten Wegmarken in Widerspruch mit der Arbeiterklasse geraten. Mit diesem Problem richtig umzugehen und auch Kompromisse einzugehen, ist eine wichtige Frage des Agierens der Klasse und ihrer Partei. Wird man z.B. die Bauernschaft in Genossenschaften hineinzwingen, wie es unter Stalin geschah, wird man sich die Bauernschaft zum Feind machen und damit unnötige wirtschaftliche Probleme erzeugen.
Für Marx war die revolutionäre Doktrin einerseits Ergebnis theoretischer Arbeit und andererseits abgeleitet aus den praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes. Eine Präzisierung der Auffassung von der Entstehung von Klassenbewusstsein – Marx selbst hat dazu keine umfassende theoretische Konzeption entwickelt – erfolgte nach dem Tod von Marx durch die Sozialdemokratie. Sie sah die Partei als Träger des sozialistischen Bewusstseins an. Das war nicht falsch, aber einseitig. Als um die Jahrhundertwende die Arbeiterschaft zunehmend in Massenaktionen (Massen- und Generalstreiks, Revolution in Russland 1905) aktiv wurde, entstanden damit die Möglichkeit und die Notwendigkeit, dass die Partei die Erfahrungen der Massen aufgreift und ihre Programmatik weiterentwickelt. Das forderte u.a. Rosa Luxemburg. Doch daran scheiterte die Sozialdemokratie der II. Internationale, weil sich zu dieser Zeit der Apparat schon tw. verselbstständigt hatte und sich zunehmend reformistische Auffassungen durchgesetzt hatten. Die Debatten über den Generalstreik und über die Revolution von 1905 sind vom Streit zwischen Luxemburg und der revolutionären Linken einerseits und den Reformisten und den Zentristen (Bebel, Kautsky) andererseits geprägt. Luxemburg plädierte dafür, die neuen Kampftaktiken und -strukturen (Massenstreik, Räte) in die politische Konzeption der SPD aufzunehmen, was von den Rechten abgelehnt und von den Zentristen durch Formelkompromisse mit den Reformisten verhindert wurde.
In diesen Debatten spielten auch verschiedene Auffassungen davon, wie sich Klassenbewusstsein und Programmatik bilden, eine Rolle. Luxemburg betonte, dass die Partei von den Erfahrungen des Klassenkampfes lernen solle, überbetonte dabei aber den Faktor Spontaneität. Auch sie übersah weitgehend, dass gerade 1905 in Russland die Räte (Sowjets) eine strukturell wichtige Rolle bei der Organisierung von Kämpfen und bei der Bewusstseinsbildung spielten – eine Tatsache, die 1917 noch weit stärker in Erscheinung trat. Die Mehrheit der SPD-Führung hingegen beharrte auf ihrer Ansicht, dass die Partei die Konzeption „vorgebe“. Damit korrespondierte die Meinung, dass sich auch in der Gewerkschaft, der zweiten großen Klassenstruktur neben der Partei, Bewusstsein bildet, was natürlich richtig ist. Doch sie „übersahen“ dabei, dass in den Gewerkschaften als Einheitsfrontstrukturen, die verschiedene Milieus und Ideologien vereinen können und sollen, eben auch ein „durchschnittliches“ Bewusstsein und kein originär revolutionäres entsteht. Schon Lassalle hatte das erkannt und folgerte daraus (allerdings sehr mechanisch), dass die Partei die Generallinie der Gewerkschaften bestimmten müsse. Das lehnten Bebel und Co. ab und strebten einen Kompromiss zwischen Partei und Gewerkschaft bzw. der Gewerkschaftsführung an. Einen Fraktionskampf, ja die Formierung einer SPD-Fraktion im ADGB lehnten sie ab. Diesem Prinzip folgen SPD und die LINKE noch heute. Praktisch sah das zu Bebels Zeiten so aus, dass die SPD nur dann für den Generalstreik eintreten wollte, wenn auch der Generalrat der Gewerkschaften dafür wäre.
Der Bolschewismus
Eine besondere Variante der Überbetonung der Partei für die Ausbildung von Klassenbewusstsein und die Führung der Klasse vertrat Lenin. Für ihn und die Bolschewiki insgesamt konnte das Klassenbewusstsein nur „von außen“, d.h. von der Partei in die Klasse getragen werden. Räte, Genossenschaften u.a. Basisstrukturen der Klasse spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Damit korrespondierte die Auffassung, dass die Vorhut des Proletariats identisch sei mit der Partei. Doch schon 1917 zeigte sich, dass Bewusstsein und Aktion der Arbeiterklasse sich wesentlich in den Basisorganen der Klasse (Sowjets, Betriebskomitees) entwickelten und umwälzten, und nicht nur in der Partei, die tw. sogar (v.a. der Parteiapparat) mitunter den Ereignissen hinterher hinkte. Erst das Eingreifen Lenins brachte die Partei 1917 von ihren alten, unzureichenden Konzepten ab. So trat die Führung der Bolschewiki um Stalin noch im März 1917 dafür ein, dass sich Bolschewiki und Menschewiki vereinigten, was praktisch sogar mancherorts schon geschehen war. Auch die Konzeption der Partei für die Revolution wurde erst mit Lenins „Aprilthesen“ revolutionär. Ohne Lenin hätten die Bolschewiki die Revolution nicht zum Sieg führen können. Der Apparat lehnte die „Aprilthesen“ ab, erst die revolutionär gestimmte Basis der Partei sorgte für deren Annahme als programmatische Leitlinie. Doch auch Lenins Agieren enthielt sektiererische Elemente. So trat er angesichts der noch (!) fehlenden bolschewistischen Mehrheit in den Sowjets im Sommer 1917 dafür ein, dass die Partei den Aufstand auch ohne und gegen die Mehrheit in den Sowjets durchführen sollte, um den Moment nicht zu verpassen. Auch hier war es die Parteibasis, die aufgrund besserer Kenntnis der Verhältnisse vor Ort (Lenin war im Exil) und der pro-bolschewistischen Dynamik in den Sowjets, einen putschistischen Fehler vermied.
Die Bolschewiki sahen die Sowjets, aber auch andere Organe der Arbeiterklasse wie Betriebskomitees, Streikkomitees, Genossenschaften und Selbstverwaltungsstrukturen v.a. als Kampforgane an, unterschätzten jedoch ihre grundsätzliche Bedeutung für die Entwicklung des Klassenbewusstseins. Als zentral sahen sie die Partei an. Die Sowjets betrachteten sie tw. als Konkurrenz, als Blackbox, bei der man nie wusste, was aus ihr werden würde. Natürlich stimmt es, dass Sowjets u.a. Organe der Klasse nie a priori revolutionär-sozialistisch orientiert sind und erst durch die Einwirkung der revolutionären Partei zu revolutionären Organen werden können. Genauso ist es aber umgekehrt so, dass auch die Partei nur revolutionär agieren kann, wenn sie eng mit den Basisorganen der Klasse verbunden ist. Letztlich kulminiert alles in der Frage, ob die Partei die Räte bestimmen, ja beherrschen soll, oder aber die Räte die zentralen und höchsten Organe der Klasse sein sollen. Lenin und die Bolschewiki neigten dazu, die Sowjetorgane – d.h. „den Staat“ – der Partei zu unterstellen. War das in bestimmten „zugespitzten Momenten“ im Bürgerkrieg, in der Wirtschaftskrise, als die Rätedemokratie weitgehend kollabiert war, noch alternativlos, so erwies sich die Weiterführung dieses Prinzips als ruinös für den Arbeiterstaat. Letztlich knüpfte Stalin an diese fragwürdige, ja falsche Vorstellung von „Macht“ an und überspitzte sie total. Die Diktatur des Proletariats, die ohnehin erst nur in bescheidenen Ansätzen realisiert war, wurde zur Diktatur der Partei bzw. der Bürokratie über die Klasse.
Viele Linke, v.a. trotzkistischer Provenienz, sehen die äußeren Umstände – Rückständigkeit, Bürgerkrieg, Steckenbleiben der Weltrevolution, Isolation – als wesentlich für die Degeneration Sowjetrusslands an. Sie unterschätzen dabei aber den „inneren Faktor“, die fehlerhaften Konzeptionen der Bolschewiki hinsichtlich des Verhältnisses Partei-Klasse und hinsichtlich der Struktur der nachkapitalistischen Übergangsgesellschaft, die eben nicht auf Verstaatlichung, sondern auf Selbstverwaltung und Rätedemokratie beruhen muss.
Partei und Programm
Alle großen Marxisten haben sich auch als Parteigründer und Parteipolitiker betätigt. So war Marx Mitglied des „Bundes der Kommunisten“ und der „Internationalen Arbeiterassoziation“ (IAA, Erste Internationale). Dieses Engagement folgte aus der Einschätzung, dass die wissenschaftliche Erarbeitung und Weiterentwicklung einer revolutionären Doktrin, d.h. eines Systems von Strategie und Taktik des Kampfes zur Machtergreifung der Arbeiterklasse, auch eine geeignete Struktur erfordert. Diese kann nur die Partei sein, denn nur sie verfügt über ein Kaderpotential, das auf einer vereinheitlichten Methode arbeitet. Nur die Partei ist auch auf allen Gebieten des Klassenkampfes tätig. Gewerkschaften, Bewegungen oder elitäre Zirkel hingegen erfüllen diese Kriterien nicht – was nicht heißt, dass diese keine Rolle spielen würden.
Die revolutionäre Partei bzw. Internationale ist in erster Linie Träger des Programms – dieses in der Klasse zu verankern ist ihre ureigene Funktion. Ohne ein Programm kann das Proletariat nicht siegen, weil es im Unterschied zu den Herrschenden nicht oder nur unzureichend die gegebenen Strukturen nutzen kann, weil es nicht die gegebene Gesellschaft verteidigen, sondern sie überwinden will. Wie das erfolgen kann, was dazu nötig ist, kann die Arbeiterklasse nicht in der Schule und an der Uni lernen oder den Medien entnehmen. Dazu braucht sie eine eigene Struktur, eben die Partei, in und mit der man den Klassenkampf führt und dessen Erfordernisse und Ergebnisse diskutiert.
Nur eine Partei kann ein konsistentes Programm erarbeiten und auf dieser Grundlage einen Kaderstamm formieren, der bereit und in der Lage ist, es umzusetzen; kein Bündnis, keine Gewerkschaft und keine Bewegung kann das. Natürlich kann eine Partei irren, doch so, wie niemand die Wissenschaft an sich infrage stellt, weil sie sich auch irrt, so sollte auch die Notwendigkeit einer revolutionären Partei des Proletariats anerkannt werden.
Historische Veränderungen
Im Zuge der Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise verändert sich auch die Arbeiterklasse. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich, v.a. in den imperialistischen Zentren bedeutsame Wandlungen in der Lage und den Strukturen des Proletariats vollzogen. Dazu gehören u.a.:
- das Bildungsniveau der Klasse ist deutlich gestiegen;
- die Arbeitszeit (täglich, monatlich, auf die Lebenszeit bezogen) hat anteilig abgenommen, während Schul- und Ausbildungszeit sowie die Rentenzeit zugenommen haben;
- die soziale Lage der großen Mehrheit der Lohnabhängigen ist deutlich besser als vor 1945;
- die lohnabhängige Mittelschicht (lohnabhängig, kein Besitz von Produktionsmitteln, aber Teil des Herrschaftsmechanismus der Bourgeoisie) ist deutlich größer als früher;
- es gibt keine relevante revolutionäre Linke, die Arbeiterbewegung ist weitgehend vom Reformismus beherrscht;
- die Klasse ist internationaler geprägt (Fremdsprachenkenntnisse, Auslandsurlaube, Schüler- und Studentenaustausch, Arbeitsmigration, Medien usw.) – was die temporäre Zunahme von nationalistisch-rassistischen Einstellungen nicht ausschließt;
- Jahrzehnte des Friedens und wirtschaftlicher „Prosperität“ in den imperialistischen Zentren erweckten den Anschein, dass die ärgsten Auswüchse des Kapitalismus überwunden bzw. durch gutes „Management“ eingedämmt werden könnten.
Diese Veränderungen gingen damit einher, dass die absolute (nicht die relative) Verarmung zurückging und als Motiv, sich am Klassenkampf zu beteiligen, schwächer wurde. Aufgrund der (zunehmenden) Schwäche der revolutionären Kräfte konnten Staat und Kapital mithilfe des Reformismus Kämpfe „domestizieren“. Die Lohnarbeit ist als Faktor für die Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins weniger wichtig als früher, wohingegen ideologische, kulturelle, mediale Faktoren wichtiger wurden. Das Bewusstsein des Arbeiters heute wird viel stärker als früher von anderen Einflüssen bestimmt. Als Beispiel sollen hier die Medien angeführt werden. Zu Marx´ oder Lenins Zeiten gab es die meisten der heutigen Medien nicht, d.h. deren Einfluss auf die Lohnabhängigen war sehr gering oder gar nicht vorhanden. Dazu kam, dass die Arbeiterbewegung über eigene, vergleichsweise wirkmächtige Medien (Arbeiterpresse) und eigene Kommunikationsstrukturen (Partei, Gewerkschaften, Genossenschaften, Arbeitersport und -kulturvereine) verfügte. Auch das Lebensumfeld der Arbeiterschaft (Arbeiterwohnbezirke) war proletarisch geprägt, während die Arbeiteraristokratie in Deutschland heute oft im Eigenheim am Stadtrand wohnt. Selbst die Eckkneipe als Treffpunkt der „einfachen Leute“ gibt es immer seltener.
Mit dem stärkeren Einfluss von Faktoren außerhalb des Lohnarbeitsprozesses geht auch einher, dass die Wirkung der bürgerlichen Ideologie größer wird. Die allgegenwärtige Werbung und der Konsumismus sind Beispiele dafür, wie das Denken und Fühlen der Massen beeinflusst werden.
Trotz dieser veränderten Umstände, Strukturen und Mechanismen ist der grundsätzliche Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht verschwunden. Das zeigt sich in immer wieder aufbrechenden Konflikten wie Streiks und Protesten. Mit dem Übergang zum Spätimperialismus in den 1990ern ist der Aufstieg (Langer Boom) bzw. die stabile „Plateauphase“ (1970er-90er) des Imperialismus vorbei. Immer häufiger treten Krisen auf, immer mehr Kriege toben, die Konflikte zwischen dem westlichen imperialen Block um die USA und dem östlichen um China und Russland (BRICS) nehmen zu, der Sozialabbau wird stärker und der Zugriff des Reformismus erodiert.
Das alles wird zu einer Zunahme von Klassenkämpfen und der politischen Polarisierung, die sich schon heute auch im Aufstieg rechter Formationen zeigt, führen – birgt aber auch die Möglichkeit der Neuformierung der revolutionären Linken.
Die veränderten Umstände, unter denen sich Klassenbewusstsein bildet (oder sich eben nicht bildet), und die modifizierten Klassenstrukturen erfordern auch ein aktualisiertes Verständnis davon, wie Revolutionäre agieren müssen. Viele Linke haben einen Blick auf die Arbeiterklasse, als ob wir uns noch im 20. Jahrhundert befinden würden. Statt fast nur wie ein Kaninchen auf die Schlange auf die gewerkschaftlichen Strukturen zu schauen, um an die betriebliche Arbeiterklasse „ranzukommen“, muss der Blick auch auf andere Bereiche, deren Bedeutung in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, gerichtet werden. Dazu gehören die schulische, berufliche und universitären Bildung, wo in starkem Maße die ideologische Prägung der Jugend erfolgt. Schulpolitik, Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft – nicht nur an den Institutionen sondern v.a. an den Inhalten – müssen zu wichtigen Aktionsfeldern der Linken werden. Ein weiteres Feld sind die Medien. Hier versagt die „radikale Linke“ bei der Schaffung einer alternative Medienszene weitgehend. Es reicht bei ihnen allenfalls dazu, links-bürgerlich-reformistische Medien zu schaffen (Nachdenkseiten u.ä. Formate). So nützlich diese als alternative Stimmen gegen die „Staatsmedien“ auch sind – als Stimmen gegen den Kapitalismus und als organisierende und mobilisierende Faktoren sind sie weitgehend unbrauchbar. Von den lächerliche Versuchen kleiner linksradikaler Gruppen, ihre Zeitung mit wenigen hundert Exemplaren zu vertreiben, ganz abgesehen. Anstatt für schlagkräftige Medienprojekte zu kooperieren, wurschtelt jede Mini-Gruppe für sich.
Ein weiterer Bereich ist die Kultur. Gerade für Jugendliche spielen kulturelle Fragen eine sehr wichtige Rolle. Auch hier mangelt es fast komplett an Aktivitäten der Linken, um sich bewusst vom bürgerlichen Kulturbetrieb abzuheben. Ein paar linke Sänger und Rapper reichen dazu sicher genauso wenig wie anarchistisch-autonome Szene-Projekte.
Ein sehr großes Feld von Möglichkeiten zur Selbstorganisation bietet neben der „Kultur“ auch das soziale Leben. Hier ist fast die gesamte linke Szene weder bereit noch in der Lage, alternative Strukturen ohne bzw. gegen Staat und Kapital aufzubauen – obwohl es dazu viele praktische, gut funktionierende Beispiele gibt – allerdings haben diese mit der linken Szene meist wenig zu tun. Wo es selbstverwaltete Projekte gibt, sind sie kaum mit der Arbeiterbewegung und der „radikalen“ Linken verbunden.
All diese Bereiche zusammengenommen ergeben ein großes Portfolio von Möglichkeiten, etwas für den Aufbau proletarischer Strukturen, die Förderung des Klassenkampfes und die Entwicklung von alternativem und antikapitalistischem Bewusstsein zu tun.