Hannah Behrendt
In diesem Beitrag setzen wir uns mit dem strategischen Denken Putins auseinander. Dabei nehmen wir Bezug auf einen Artikel des US-Militäranalysten und Friedensaktivisten Paul Craig Roberts.
Putin ist sicher aktuell eine der Personen, die am stärksten polarisiert. Die Einen sehen ihn als Inkarnation des Bösen schlechthin, Andere halten ihn für einen Antiimperialisten, der sich der Aggression der NATO entgegenstellt.
Roberts betont zu Beginn seines Artikels: „Ich war immer ein Verteidiger Putins, weil ich der Meinung war, dass die Aggression von Washington in Richtung Russland geht und nicht umgekehrt, und dass Washington und nicht Putin für den Konflikt in der Ukraine verantwortlich ist. Dennoch hatte ich anfangs Zweifel an Putins strategischer Vision. Er sprach, als ob er eine Vision hätte, aber er handelte, als ob er keine hätte.“
Roberts bringt eine Reihe von Beispielen, die zeigen sollen, dass es Putin an strategischem Denken mangelt und Russland deshalb dem Westen nicht effektiv entgegentreten könne.
Roberts führt dazu an: „Als die von den Amerikanern ausgebildete georgische Armee in Südossetien einmarschierte und die Bevölkerung und die russischen Friedenstruppen tötete, befand sich Putin bei den Olympischen Spielen in Peking, offenbar völlig ahnungslos und völlig unvorbereitet. Wie konnte Putin nicht wissen, dass die USA und, wie manche behaupten, auch Israel eine georgische Armee ausbildeten?“
Und weiter: „Als Nächstes fiel mir auf, dass Putin nichts von dem Putsch wusste, den Washington in der Ukraine vorbereitete, oder dass er keine strategischen Überlegungen dazu anstellte. Dem russischen Geheimdienst muss klar gewesen sein, dass Washington seit Jahren Milliarden von Dollar – laut Victoria Nuland fünf Milliarden – in vom Westen unterstützte NRO (NGOs, d.A.), Studentengruppen und bestechliche Politiker fließen ließ, um einen Putsch vorzubereiten.“
Zum Ukraine-Krieg stellt Roberts fest: „Es war Putins Nachlässigkeit, die den sich immer weiter ausbreitenden Krieg in der Ukraine verursachte. Putin zeigte seinen Mangel an strategischem Weitblick, als er 2014 das Votum des russischen Donbass ablehnte, zusammen mit der Krim wieder in Russland eingegliedert zu werden. Dies war eine katastrophale Entscheidung“. Roberts fährt fort: „Putin brachte den Donbass und die Ukrainer dazu, dem (Minsker) Abkommen zuzustimmen (…) Putins Minsker Plan beließ das russische Donbass in der Ukraine, räumte den Russen im Donbass aber eine gewisse Autonomie ein, um sie vor Verfolgung und Abschlachtung zu schützen.“
Zu den Minsker Verhandlungen führt er weiter aus: „Nach Abschluss dieser Vereinbarung, von der die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident später öffentlich erklärten, sie sei vom Westen benutzt worden, um den unschuldigen Putin zu täuschen, stand Putin acht Jahre lang abseits, während Washington eine große, schlagkräftige ukrainische Armee aufbaute, ausbildete und ausrüstete.“
Obwohl wir Roberts hier in zentralen Punkten zustimmen, übersieht er, dass Minsk letztlich von der Ukraine auf Druck des Westens, v.a. von Britannien, nicht unterzeichnet wurde. Die deutsche Kanzlerin Merkel trägt eine Mitschuld daran, weil sie als Vertreterin der stärksten Macht in Europa diesen Betrug mitmachte und damit zuließ, dass der Konflikt schließlich in einen offenen Krieg mündete.
Roberts konstatiert: „Als Putins und Lawrows verzweifelte Versuche, im Dezember 2021 und Februar 2022 einen gegenseitigen Verteidigungsvertrag abzuschließen, brutal abgeschmettert wurden und die ukrainisch-amerikanische Invasion der beiden abtrünnigen russischen Donbass-Republiken bevorstand, griff Putin, unvorbereitet wie immer, mit unzureichender Gewalt ein.“
Worin sieht Roberts die Ursachen für das aus seiner Sicht mangelhafte strategische Denken Putins? Er fragt sich, „wie es möglich ist, dass Putin und Lawrow einerseits klar und deutlich erklären, der Westen wolle Russland zerstören, und andererseits Russlands anerkannte Feinde als ´unsere westlichen Partner´ bezeichnen.“ Roberts führt als Erklärung die Einschätzung von Helmer an: „Helmer sagt, dass Putin nie eine gute Entscheidung trifft, weil Putin ein ´Balancierer´ ist. Er wägt jede Ansicht gegen die andere ab und trifft nie eine unabhängige Entscheidung auf der Grundlage der realen Umstände.“ Da ist sicher etwas dran, aber eine Erklärung ist es nicht.
Der Hauptgrund dafür, dass Roberts keine Antwort darauf weiß, warum Putin zu wenig strategisch denkt oder zumindest nicht adäquat handelt, ist, dass Roberts in den Schemata bürgerlicher „Staatspolitik“ denkt. Für ihn besteht die Lösung von zwischenstaatlichen Problemen grundsätzlich nur darin, der Machtpolitik der anderen Seite mit einer ebensolchen Machtpolitik zu begegnen. Dass die tiefere Ursache von Konflikten und Kriegen in der kapitalistischen Produktionsweise liegt, sieht er nicht. Insofern ist für ihn auch der Kampf gegen dieses System keine Option.
Roberts Perspektive für die Ukraine läuft deshalb auch nicht auf Frieden hinaus, sondern nur darauf, dass Putin schon weit früher hätte massiv militärisch eingreifen müssen: „Was Putin hätte tun müssen, war, die Ukraine sofort auszuschalten. Aber entweder aus mangelnder Vorbereitung oder aus Mangel an strategischem Weitblick erklärte Putin eine vorübergehende Militäroperation, um den Donbass von ukrainischen Kräften zu säubern. Es ist schwer, sich eine dümmere Entscheidung vorzustellen, eine Entscheidung, die völlig ohne strategischen Weitblick ist.“ Was hier „die Ukraine sofort auszuschalten“ genau bedeuten soll, lässt Roberts offen.
Roberts geht auch nicht darauf ein, dass Putin mit dem Anschluss der Krim an Russland 2014 – was der seit 1991 mehrfach geäußerten Mehrheitsmeinung der Bevölkerung und den Beschlüssen des Regionalparlaments der Krim entsprach – sehr schnell und konsequent reagiert hat. Er hätte bereits 2014 den Donbass genauso als autonom anerkennen oder ihn sogar Russland angliedern können. Putin hätte zumindest Kiew unmissverständlich klar machen können, dass es sein aggressives Vorgehen gegen den Donbass sofort beenden muss und Russland sich andernfalls alle militärischen Optionen offen hält. Das hätte evtl. den nun schon drei Jahre dauernden blutigen Krieg verhindern können, da die Ukraine 2014 noch nicht so aufgerüstet war wie 2022.
Doch warum handelte Putin nicht so? Zunächst einmal war es weniger die Schwäche des strategischen Denkens Putins, sondern die ökonomische und militärische Schwäche Russlands, das sich nach den ruinösen Jahren unter Jelzin erst wieder berappeln musste. Nach dem Kollaps des Warschauer Pakts und dem Schrumpfen Russlands war das Land – genau wie heute – völlig außerstande, einen Großkonflikt mit der NATO zu riskieren. Putins Modell, Russlands Staatsapparat zu stabilisieren, die Wirtschaft zu sanieren und den Einfluss der Oligarchen zu begrenzen, brauchte Zeit – und möglichst keine Konflikte, denn Russlands „Erneuerung“ beruhte auf den Erlösen aus dem Export von Öl und Gas nach Westeuropa. Damit wollte er den Westen auch zu einem zuverlässigen Partner machen. Das hat auch funktioniert, bis die USA diesen Deal torpediert haben – mit kräftiger Mitwirkung der Merkel-Regierungen, die – anders als zuvor der klügere Schröder – sich wieder stärker an die USA angelehnt haben.
Natürlich war Putin nie so naiv zu glauben, dass sein Projekt von den USA einfach so toleriert würde. Doch er hatte wenig Mittel dagegen. Hinter dem größeren Einfluss der USA auf die Politik Europas steht v.a. die wiedergewonnene Stärke der USA in einigen zentralen Bereichen der Ökonomie (IT-Sektor, Plattformökonomie, Finanzmarkt) und die zunehmende Schwäche und Krise der EU. Auch das ist ein Ergebnis der kurzsichtigen Merkel-Politik (Klima- und Energiepolitik, EU-Krise).
Letztlich zeigt Putins Vorgehen gegenüber der Ukraine, dass ihm seine imperialistischen Ambitionen wichtiger waren als die Liebe zu seinen Landsleuten im Donbass. Natürlich kam Putin auch nie auf die Idee, die Massen in der Ukraine dazu aufzurufen, sich dem Maidan-Putsch und dem danach folgenden faschistoiden Regime entgegenzustellen.
Illusionen
Auch die deutsche Linke hatte und hat diverse Illusionen in Putin. Ein Teil von ihr sieht Russland (und China) absurderweise gar als sozialistisch an (worauf wir hier nicht eingehen wollen). Ein Teil, zu dem auch Sahra Wagenknecht gehörte, sah Putin als „positiven“ Faktor, dem man einen Krieg nicht zutraute – obwohl Russland auch schon vor und unter Putin Krieg geführt hat, z.B. in Afghanistan, Tschetschenien oder in Syrien. Sie waren „total überrascht“, als Putin dann im Februar 2022 die Ukraine angriff. Zu einer seriösen Einschätzung der Rolle Russlands kommt dieses reformistische Milieu kaum. Wagenknecht bezeichnet Putin heute immer wieder als „Aggressor“ und spricht vom „verbrecherischen Krieg“ Russlands. Die treibende Rolle des Westens mit seinem Kettenhund Selensky wird dabei unterschätzt oder relativiert.
Ein anderer Teil der Linken stellt sich mehr oder weniger auf die Seite des Westens und folgt weitgehend unkritisch den Thesen des „Wertewestens“. Ein kleiner Teil der Linken, z.B. die Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM), positioniert sich „ganz ausgewogen“ zwischen allen Stühlen. Die GAM lehnt die NATO ab, plädiert aber – freilich etwas verschämt – für Waffenlieferungen an die Ukraine, um den Aggressor Putin zu stoppen. Die Begründung ihrer seltsamen Position ist, dass die Ukraine ja auch für ihre nationale Souveränität kämpfen würde. Das ist doppelt absurd. 1. wird dabei der legitime Kampf der russischen Mehrheitsbevölkerung im Donbass gegen den Staatsterror Kiews ignoriert (obwohl die GAM diesen Kampf 2014 noch als berechtigt dargestellt hatte). 2. würde ein Sieg der Ukraine auch und v.a. ein Sieg der NATO und des westlichen Imperialismus sein, der die Ukraine bereits heute schon hemmungslos ausplündert. Eher wäre ein Sieg Russlands für die Souveränität der Ukraine besser als ein Sieg des Westens.
Pazifismus
Sehr verbreitet in der Linken und in der Friedensbewegung ist eine rein pazifistische Haltung. Diese richtet sich korrekt gegen die NATO, gegen Waffenlieferungen und gegen Aufrüstung. Doch sie orientiert zugleich auch oft auf ein neues „Sicherheitssystem“ unter Einschluss Russlands. Damit legt sie die Frage von Krieg und Frieden wieder in die Hände der imperialistischen Mächte, ihrer Diplomaten und Verträge – als ob diese schon irgendwann einmal einen Krieg verhindert oder „vorfristig“ beendet hätten. Vergessen wir nicht, dass etliche imperialistische Aggressionen mit der Zustimmung der UNO und der EU erfolgten, z.B. gegen Serbien. Hinter der Haltung dieser Linken steht oft die Ansicht, dass Kriege nur Ergebnis „falscher Politik“ oder des Einflusses der Rüstungsindustrie wären, anstatt zu sehen, dass sie letztlich aus der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Krisen und der Konkurrenz entspringen.
Ein anderer Haken am Pazifismus ist, dass er immer auf bürgerliche Institutionen und Verfahrensweisen (Parlamentarismus, Diplomatie usw.) setzt und an „bessere“, „friedlichere“ Teile der Bourgeoisie appelliert – anstatt auf die Arbeiterbewegung und auf klassenkämpferische Methoden zu orientieren. Das Mitregieren des BSW und ab und zu eine Demo ist so ziemlich alles, was den Pazifisten einfällt.
Hier treffen sich die Auffassungen vieler Linker mit denen von Roberts. Letztlich eint sie die Illusion, den Kapitalismus befrieden oder wenigstens etwas friedlicher machen zu können. Viele sehen zwar zu recht wie Roberts den Westen, die USA und die NATO als Hauptgefahr an, doch sie unterschätzen, dass die neue Polarisierung der Welt in einen West- und einen Ostblock (BRICS) einen neuen Kalten Krieg erzeugt, der auch schnell in heiße Kriege umschlagen kann. Die Frage ist nicht ob, sondern wann und wie.
Ein historischer Vergleich
1939 war zwar Nazi-Deutschland jene Macht, die den Krieg begonnen hatte, doch die westlichen Demokratien waren wie Deutschland auch imperialistische Länder, die durchaus mitverantwortlich dafür waren, dass Hitler an die Macht kam, aufrüsten und schon vor dem 1. September 1939 anderen Staaten Gewalt antun und sie annektieren konnte.
Es war die falsche Politik von ADGB, SPD und KPD vor 1933, die die Machtübernahme Hitlers ermöglichten, indem sie die antifaschistische proletarische Einheitsfront unmöglich machten. Doch auch danach wäre es noch möglich gewesen, den Siegeszug Hitlers durch Europa zu verhindern. 1934 gab es in Frankreich die Möglichkeit, den Kapitalismus zu stürzen. Doch wieder waren es die reformistischen Sozialisten und die stalinisierte KP, die das verhinderten, indem sie die „Volksfront“ bildeten und damit die revolutionäre Dynamik stoppten. 1936 begann in Spanien die Revolution. Dort war es v.a. die moskautreue KP, die die revolutionäre Entwicklung in ein bürgerlich-demokratisches Korsett zwang. Die stärkste linke Kraft waren damals die Anarchisten, die zwar die Revolution wollten, dafür aber keine geeignete Konzeption hatten.
Erst diese Niederlagen aufgrund des Fehlens einer revolutionären Führung, wie es sie 1917 mit den Bolschewiki in Russland gab, ermöglichten Hitler seinen anfangs erfolgreichen Vernichtungsfeldzug quer durch Europa.
Die Lehre, die daraus gezogen werden sollte, ist, dass der Kampf für den Frieden nur erfolgreich sein kann, wenn er mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden ist, anstatt auf die Verhandlungen und Verträge imperialistischer Akteure zu setzen. Aktuell ist Putin der wichtigste militärische Gegenpart der NATO und möglicherweise in der Lage, deren Ausweitung gen Osten zu stoppen. Doch es wäre ein fataler Fehler, sich auf Putin zu verlassen oder gar dessen Politik zu unterstützen. Auch Russland ist eine reaktionäre, aggressive imperialistische Macht und kein Hort für Frieden und Fortschritt – trotz seiner aktuellen Rolle im Ukrainekrieg.
Der einzige Weg, die drohende Kriegsapokalypse zu verhindern und wenigstens Teilerfolge zu erreichen, z.B. die Beteiligung einzelner Länder an Kriegen zu verhindern, ist der Klassenkampf. Dieser setzt aber voraus, dass die Kontrolle der Reformisten (SPD, DGB, LINKE, BSW) über die Arbeiterklasse attackiert und gebrochen wird. Das wiederum bedeutet auch, eine politische Kraft aufzubauen, die sich dafür engagiert, die stark genug ist und eine Alternative zu den Reformisten aller Couleur darstellen kann: eine neue antikapitalistische Arbeiterpartei!
Diese müsste u.a. für folgende zentrale Forderungen eintreten:
- Deutschland raus aus der NATO! NATO raus aus Deutschland!
- Keinen Menschen, keinen Cent für Rüstung, militärische Ukrainehilfe und Bundeswehr!
- Enteignung der Rüstungsindustrie und deren Konversion – unter Kontrolle der Arbeiterklasse!
- Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr!
- Verwendung der eingesparten Gelder für soziale Zwecke!
- Weg mit den Sanktionen gegen Russland!
- Für eine antimilitaristische und antiimperialistische Politik mit klassenkämpferischen Methoden! Schluss mit der reformistischen Anpassungs- und Duldungspolitik der Gewerkschaftsbürokratie, der SPD, der LINKEN und des BSW!