Hanns Graaf
Die aktuelle, jedoch schon lange anhaltende Krise der SPD wirft auch die Frage auf, welche historischen Ursachen sie hat, welche grundsätzlichen Entwicklungen zu der jetzigen prekären Situation geführt haben. Mit diesem Beitrag wollen wir die „besseren Zeiten“ der SPD von ihrer Gründung bis 1914 betrachten und dabei v.a. die Frage beleuchten, was die SPD damals hinsichtlich ihrer Programmatik und Praxis war.
Als die SPD (damals hieß sie noch Sozialistische Arbeiterpartei) 1875 in Gotha aus der Vereinigung der Lassalleaner (ADAV) und der Eisenacher (SDAP) hervorging, war sie noch keine Massenpartei. Doch bis 1914 erlebte sie – wie auch die Gewerkschaften – einen steilen Aufstieg. Die SPD wurde zur größten Partei Deutschlands, sie hatte die meisten Mitglieder, war noch dazu sehr eng mit den Gewerkschaften u.a. proletarischen Strukturen (Kultur-, Bildungs-, Sportvereine, Genossenschaften) verbunden. Diesen Aufstieg der Sozialdemokratie konnte auch Bismarcks Sozialistengesetz (1878-90) mit seinen Repressionen nicht verhindern. Die SPD war zudem die stärkste und einflussreichste Partei der II. Internationale.
Der Aufstieg der SPD zeigt sich auch in den Wahlergebnissen: 1871: 3,2% (ADAV und SDAP), 1887: 10,1%, 1890 (am Ende des Sozialistengesetzes): 19,8%, 1912: 34,8%. Ab 1898 war die SPD immer stärkste Partei hinsichtlich ihres Stimmenanteils, doch aufgrund des undemokratischen Wahlsystems stellte sie erst ab 1912 die stärkste Reichstagsfraktion.
Das gleiche Bild des permanenten Aufstiegs der SPD liefern auch die Mitgliedszahlen: 1906: 384.000, 1910: 720.000, 1914: fast 1,1 Millionen. Eine ähnliche Entwicklung zeigen die Gewerkschaften, deren Mitgliedschaft von 277.000 (1891) über 680.000 (1900) auf 2,5 Millionen (1914) stieg. Die große Masse der SPD-Mitglieder waren ArbeiterInnen, v.a. aus dem Milieu der Facharbeiter und (lohnabhängigen) Handwerker. Der übergroße Teil der SPD-Mitglieder war zugleich gewerkschaftlich organisiert, was umgedreht bedeutet, dass der Einfluss der SPD auf die „freien“, sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften sehr stark war. Dies nicht nur rein zahlenmäßig, sondern umso mehr, da deren Funktionsträger fast immer auch SPD-Mitglied waren. Es gab also eine personelle, strukturelle und politische Verquickung von SPD und „freien“ Gewerkschaften.
Ab 1890, nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, wurden die „freien“ Gewerkschaften zu einer Massenorganisation. Die Einzelorganisationen schlossen sich 1890 zur „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ zusammen. Die „freien“ Gewerkschaften entwickelten sich darin zur stärksten Gewerkschaftsrichtung. Daneben gab es die christlichen und die Hirsch-Dunckerschen links-liberalen Verbände.
1906 setzten die „freien“ Gewerkschaften gegenüber der SPD eine größere Selbstständigkeit bzw. „Gleichberechtigung“ durch. Das war einerseits notwendig, da Partei und Gewerkschaft andere Strukturen aufwiesen und tw. andere Funktionen hatten. Andererseits führte es dazu, dass es bei Konflikten – z.B. in der Generalstreikdebatte – eine Art „Nichtangriffspakt“ gab, d.h. jede Seite die Position der anderen „hinnahm“, ohne große politische Konsequenzen für sich daraus abzuleiten und eine Klärung herbei zu führen. Damals bildete sich die auch heute noch bestehende typische „Arbeitsteilung“ im Reformismus heraus: die SPD ist für die „große Politik“ zuständig, die Gewerkschaft für die tariflichen und betrieblichen Fragen. Ein fatales Ergebnis dessen ist die Tendenz der Entpolitisierung der Gewerkschaften.
Ausgrenzung
Die Größe und Stärke der Sozialdemokratie kontrastierte jedoch stark mit ihrer marginalen Rolle in den gesellschaftlichen Strukturen. Sie war bis 1918 in keiner Regierung vertreten, verfügte über keine Positionen im Staatsapparat und hatte auf Strukturen und Entwicklungen in der Gesellschaft nahezu keinen direkten, „offiziellen“ Einfluss. Dieter Groh betitelte 1973 sein Buch über die SPD vor 1914 so auch „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“. „Negative Integration“ heißt aber nicht, dass die Sozialdemokratie in ihrer „doppelten Gestalt“ als SPD und „freie“ Gewerkschaften keine Wirkung gehabt hätte. Allein ihre Größe, ihr Einfluss in der Arbeiterklasse, auf die Gesetzgebung und auf die öffentliche Meinung führten dazu, dass ihre Anliegen bzw. die Interessen der Arbeiterklasse berücksichtigt werden mussten. Auch Bismarcks Sozialgesetzgebung diente nicht nur dazu, das kapitalistische Lohnarbeitssystem zu regulieren, sondern sollte die System-feindliche Sozialdemokratie befrieden und einbinden. Dieses Unterfangen ging auch weitgehend auf – nicht in dem Sinn, dass die SPD und die Gewerkschaften geschwächt wurden, aber dahingehend, dass sie sich zunehmend ins System integrierten, sich von der Idee des Sturzes des Kapitalismus abwandten und sich stärker auf dessen Reformierung und Transformation zum Sozialismus orientierten.
Ein Ausdruck des Widerspruchs zwischen der gewachsenen Stärke der SPD und ihrer Randständigkeit, ihrer Paria-Existenz war der Revisionismus-Streit, der in den 1890ern begann und tw. bis heute anhält. Dabei ging es wesentlich um die Frage, welche Strategie – Reform des Kapitalismus oder dessen revolutionärer Sturz – die SPD verfolgen sollte. Hier ist nicht der Ort, um auf diesen Konflikt genauer einzugehen (das wird demnächst Thema bei Aufruhrgebiet sein). Doch so viel kann schon jetzt gesagt werden: weder den „Revisionisten“ (Bernstein u.a.) noch deren linken KritikerInnen (Luxemburg, Kautsky) gelang es, den Dualismus zwischen Reform und Revolution aufzulösen.
Mit seinem Begriff des „revolutionären Attentismus“ verweist Groh darauf, dass die SPD einerseits in Programmatik und Propaganda einer grundsätzlichen, allerdings auch weitgehend abstrakten Systemopposition verpflichtet blieb, andererseits jedoch diese Haltung fast überhaupt keine Auswirkung auf die Praxis der SPD hatte. Letztlich kreiste die SPD-Politik um tagesaktuelle soziale Verbesserungen, das Wachstum der Partei und stärkere parlamentarische Präsenz. Damit verbunden war die zunehmende Vorstellung von einem Hineinwachsen in den Sozialismus durch immer stärkere Positionen der Sozialdemokratie, die letztlich die Parlamentsmehrheit stellen und den Staat dafür benutzen könnte, den Kapitalismus so lange zu sozialisieren, bis der Sozialismus erreicht wäre.
Dabei glaubten Bebel, Kautsky, Hilferding u.a., dass bestimmte Entwicklungen des Kapitalismus (Zentralisation und Konzentration des Kapitals, wachsender Einfluss des Finanzkapitals und des Staates) „von sich aus“, quasi automatisch einen inhärenten „Trend zum Sozialismus“ aufweisen würden. Insofern müsste diese Entwicklung nur unter der Dominanz des Proletariats weiter- und zu Ende geführt werden. Selbst Lenin, der „konsequente“ Revolutionär und Kritiker der Sozialdemokratie (wohlgemerkt erst ab 1914) hing in gewissem Maße einigen dieser „staatssozialistischen“ Vorstellungen an. Wer an diesem „Automatismus“ zweifelte, war u.a. Bernstein. Dessen Reformismus – der in vielen, aber nicht in allen Punkten von Luxemburg und Kautsky zu recht kritisiert wurde – war nämlich auch damit verbunden, dass die Arbeiterklasse durch beständigen Kampf, durch den Auf- und Ausbau der Gewerkschaften, der SPD und eines großen Genossenschaftssektors dem Kapital immer mehr Zugeständnisse und soziale Areale abtrotzen könne und müsse.
Differenzen mit Marx
Viele Ideen der Sozialdemokratie hatten wenig mit dem Konzept von Marx zu tun – selbst wenn wir einräumen, dass Marx und Engels zu vielen, ja zu den meisten Fragen revolutionärer Strategie und Taktik keine systematischen Beiträge geliefert haben.
Worin bestanden die Unterschiede? 1. betonte Marx, dass die Tendenzen der „Vergesellschaftung“ im Kapitalismus eine bürgerliche „Vergesellschaftung“ sind und keine proletarische und daher die Revolution als qualitativer Bruch und dialektische Aufhebung der gesellschaftlichen Strukturen des Kapitalismus notwendig ist. 2. sah Marx den bürgerlichen Staat als Gegner an, der zerschlagen und durch einen proletarischen Rätestaat vom Typ der Commune ersetzt werden muss. Im Kommunismus schließlich sollte dann auch dieser proletarische (!) Staat abgestorben sein. Von einer Benutzung des „renovierten“ bürgerlichen Staates durch das Proletariat für sozialistische Zwecke ist bei Marx und Engels nicht die Rede. 3. nahm Marx an, dass die Krisen und (mindestens) die relative Verelendung des Proletariats und damit der Klassenkampf immer mehr anwachsen und einer revolutionären Lösung zustreben würden. In diesem Kontext ging Marx auch davon aus, dass die Mittelschichten zerrieben und so die beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat immer direkter aufeinanderprallen würden. Diese Prognosen haben sich allerdings so nicht bestätigt, im Gegenteil: die Mittelschichten z.B. sind deutlich angewachsen und ihre Rolle als „Vermittler“, als „Manager“ in der Gesellschaft hat zugenommen. Der Kapitalismus hat auch Methoden des Krisenmanagements entwickelt. Seine Krisen sind in den 150 Jahren des Kapitalismus nach Erscheinen von Marx´ „Kapital“ weder tiefer geworden noch haben sie zu dessen Zusammenbruch geführt. Das heißt allerdings nicht, dass es Krisen, Kriege und damit revolutionäre Chancen nicht mehr geben würde. Jeder Glaube an einen „automatischen“ Zusammenbruch des Kapitalismus ist an der Realität gescheitert: der Kapitalismus muss bewusst revolutionär gestürzt werden: er „geht nicht eher unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die (er) weit genug ist“. (Marx)
Es steht außer Frage, dass die sozialdemokratische Konzeption in wesentlichen Punkten mit Marx über Kreuz lag. Darauf und auf die Gefahren einer zu starken und einseitigen parlamentarischen und legalistischen Orientierung und des fehlenden „außerparlamentarischen Kampfes“ wiesen – auch wenn ihre Kritik Einseitigkeiten und Fehler aufwies – schon Anfang der 1890er die „Jungen Wilden“ in der SPD hin. Doch sie wurden – ohne breitere Diskussion – aus der SPD ausgeschlossen und gingen überwiegend zum Anarchismus.
Natürlich haben sich Marx´ Ansichten auch gewandelt. So ergänzte Marx seine Staatsposition nach der Analyse der Erfahrungen der Pariser Commune 1871. Dazu kommt, dass andere wesentliche Klassenkämpfe, die zu neuen konzeptionellen Schlüssen führen konnten, erst nach dem Tod von Marx bzw. Engels stattfanden, so etwa die Massen- und Generalstreiks Ende der 1880er und v.a. die Revolution von 1905 in Russland.
Für das weitere Schicksal der SPD und der Arbeiterbewegung war also von entscheidender Bedeutung, inwieweit es ihnen gelingt, ihre Konzeption und ihre Praxis den neuen Bedingungen und Erfahrungen anzupassen – und das in doppelter Hinsicht. Einerseits musste der offensichtliche Zwiespalt zwischen der marxschen Theorie und der SPD-Politik überwunden werden, in dem die SPD ihre Strategie und ihre Taktiken ändert; andererseits musste auch der Marxismus selbst historisch-kritisch daraufhin überprüft werden, inwieweit seine Prognosen eingetroffen sind. Um es vorweg zu nehmen: an beiden Aufgaben sind die SPD und die II. Internationale gescheitert.
Marx´ Kritik
Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die Kritik von Marx am ersten Programm der (vereinigten) Sozialdemokratie, dem Gothaer Programm von 1875. Diese Programmkritik von Marx gilt als sein wichtigster Text zum Konzept der Sozialdemokratie, obwohl er sie selbst „Randglossen“ nannte und sie tatsächlich weder umfangreich noch – für Marx´ Verhältnisse – sehr tiefgehend sind. Obzwar die Anmerkungen und Kritiken von Marx zum Gothaer Programm durchaus richtig sind, fehlt gerade jener Punkt, der für ein Programm entscheidend ist: die Frage, wie der Klassenkampf geführt werden soll. Dazu sagt das Programm im Grunde nichts, außer dass einige konkrete Reform-Ziele genannt werden. Zwar moniert Marx u.a. die hohle These vom „unabhängigen Volksstaat“, doch auch er nimmt nicht Bezug auf seine eigenen bedeutenden Schlussfolgerungen aus der Pariser Commune bezüglich des Staates. Die zentrale Frage, wie, mittels welcher Methoden und Strukturen das Proletariat den Klassenkampf geführt werden soll, bleibt im Programm wie in Marx´ Kritik unbehandelt. Dafür, dass Marx einer für ein Parteiprogramm letztlich unwichtigen Frage wie der, ob die Natur nun eine Produktivkraft ist oder nicht, relativ viel Platz einräumt, bleiben die wirklich substantiellen Fragen eigenartiger Weise außen vor. Hier ist auch die Haltung von Engels zu kritisieren, weil er zuließ, dass Marx´ Randglossen sehr lange nicht erschienen und so der SPD-Mitgliedschaft unbekannt blieben.
Das Fehlen einer grundsätzlicheren und ausführlicheren Kritik an der Politik der frühen Sozialdemokratie durch Marx und Engels erklärt zum einen die Fehler in der SPD-Programmatik bzw. dass sie immer wieder perpetuiert werden konnten. Zum anderen zeigen aber auch die Konzeptionen sowohl der Lassalleaner wie der Eisenacher als den Vorgängern der SPD und das Zurückhalten einiger ungeliebter Kritik von Marx durch Bebel und Wilhelm Liebknecht, dass diese offenbar wenig Lust verspürten, ihre Ideen einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Auf jeden Fall konnte sich vor diesem Hintergrund jahrzehntelang die Mär halten, dass die SPD auf dem Boden des Marxismus stehe. Während die rechteren Führer von SPD und Gewerkschaften gar nicht genau wissen wollten, in welchem Verhältnis Sozialdemokratie und Marx stehen, gingen die Linken eher von einem „dogmatischen Marxismus“ aus, anstatt die auch historisch bedingten Leerstellen und Fehler bei Marx zu überwinden und den Marxismus weiter zu entwickeln. Am ehesten tat das vor 1914 – bezüglich der Programmatik – von den Linken noch Rosa Luxemburg mit ihren Betrachtungen zum Massenstreik.
Dieses programmatische Manko der Sozialdemokratie wie auch des Marxismus hat verschiedene Ursachen. Eine ist die nach 1848 offene Frage, wie die Arbeiterklasse die Revolution durchbringen will, wenn die traditionelle Form der Insurrektion – der städtische Barrikadenkampf – nicht mehr funktioniert, wie Marx und Engels richtig erkannten. Gerade Engels vertiefte sich deshalb jahrelang in militärtheoretische Studien. Räte bzw. Sowjets, Massen- und Generalstreiks als zentrale Kampfformen und -strukturen der Arbeiterbewegung kamen erst um die Jahrhundertwende auf. Sie konnten deshalb von Marx und Engels kaum gebührend theoretisch verarbeitet werden, umso mehr, als Marx sich weiterhin v.a. darauf konzentrierte, noch der 185. Verästelung der Literatur zur Ökonomie des Kapitalismus nachzugehen, anstatt sich wesentlichen programmatischen Fragen zuzuwenden. So musste es fast zwangsläufig dazu kommen, dass die Stärkung der Organisation und die parlamentarische Arbeit zum fast ausschließlichen Tätigkeitsbereich der SPD wurden und die Programmatik von Gotha und Erfurt bis in die 1920er bestehen blieb und keine Überarbeitung erfolgte. Die inzwischen tiefe Trennung zwischen „marxistischer“ Arbeiterbewegung und Anarchismus, welcher der Selbstorganisation der Massen und der außerparlamentarischen Aktion schon immer viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, wirkte da noch zusätzlich hemmend.
Revolutionäre Partei?
Wie verfestigt der programmatische Zentrismus und der praktische Reformismus der Sozialdemokratie schon vor 1914 waren, zeigt auch ihr „Erfurter Programm“ von 1891, das qualitativ eben nicht über das „Gothaer Programm“ hinausging und durchaus zu Unrecht ein sozialistisches, revolutionäres oder marxistisches Programm genannt wurde. Diese Urteile treffen schon deshalb nicht zu, weil auch das „Erfurter Programm“ nichts Substantielles zum Klassenkampf aussagt.
Das völlige Versagen der Sozialdemokratie insgesamt – der SPD und der II. Internationale wie auch der Gewerkschaftsbewegung – angesichts des Kriegsausbruchs 1914 und umso mehr ihre offen konterrevolutionäre Rolle 1918 war insofern kein Zufall, sondern auch Ausdruck der politischen Methode, der sie von Anfang an folgte, die 1914 aber einer besonderen historischen Bewährung unterzogen wurde.
War die SPD bis 1914 nun eine reformistische oder eine zentristische Partei – denn revolutionär war sie auf keinen Fall? Streng genommen war sie reformistisch, da ihre ganze Politik, das Programm wie ihre Praxis sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen bewegten und alle Strukturen und Taktiken fehlten, die unabdingbar sind, um den Kapitalismus effektiv bekämpfen und überwinden zu können. Das sozialistische Endziel der Sozialdemokratie, das weitgehend jedoch eher einem sehr gut ausgestatteten bürgerlichen Sozialstaat glich, war nur ein abstrakter Zusatz zu einem sonst überwiegenden Reformprogramm. Das galt auch für die Forderung nach Überwindung des Privateigentums, das eben nicht auf eine wirkliche Vergesellschaftung zielte, sondern auf eine Verstaatlichung. Begriffe wie Massenstreik, Räte, Arbeiterkontrolle oder proletarische Selbstverwaltung fehlten meist im sozialdemokratischen Denken – und umso mehr damit verbundene taktische Konzeptionen.
Wir müssen andererseits aber bedenken, dass es erst ab Ende des 19. Jahrhunderts – nach dem Tod von Marx und Engels – Klassenkämpfe gab, die eine neue Qualität auszeichnete: Massenstreiks und Räte (Sowjets). Es darf deshalb nicht verwundern, dass die Erfahrungen daraus nicht sofort und umfänglich Berücksichtigung fanden. Marx und Engels und darüber hinaus die gesamte Linke des 19. Jahrhunderts zogen ihre Konzeptionen aus einer Arbeiterbewegung, die – wie auch der Kapitalismus insgesamt – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch am Anfang stand, also wesentliche Strukturen und Kampfformen kaum kannte. Gerade der Vergleich mit der späteren Programmatik etwa der Komintern oder der IV. Internationale (Übergangsprogramm) zeigen den deutlichen Unterschied in der politischen Reife und dem Fundus an Erfahrungen.
Insofern spricht viel für die Einschätzung der Vorkriegs-SPD als einer zentristischen Formation mit reformistischer Praxis. Wie tief dieser „Reformismus im zentristischen Gewand“ in der Mitgliedschaft verbreitet war, zeigt sich auch daran, dass die Linken um Luxemburg zwar einige Sympathien genossen, ihre radikaleren politischen Vorschläge jedoch in der Mitgliedschaft kaum praktische Unterstützung fanden. Der später Luxemburg und Co. oft gemachte Vorwurf, sich nicht früher als Fraktion oder gar selbstständige Formation konstituiert zu haben, unterschätzt einerseits die reale politische „Unreife“ der SPD-Mitgliedschaft, andererseits verkennt er, dass auch Luxemburg, geschweige denn Liebknecht keine systematische programmatische und taktische Alternative zum „marxistischen“ Zentrum um Kautsky, das die „offizielle“ SPD-Politik bestimmte, hatte.
August 1914: die Stunde der Wahrheit
Als Deutschland im August 1914 aktiver Teilnehmer am Ersten Weltkrieg wurde, offenbarte sich das Wesen der Sozialdemokratie – sowohl der SPD und der II. Internationale wie auch der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Zwar sah man den Krieg heraufziehen und man beschloss einige Anti-Kriegs-Resolutionen, doch was dabei fast immer fehlte, war die Erkenntnis, dass der kommende Krieg ein imperialistischer sein würde. D.h. keine Arbeiterbewegung eines imperialistischen Landes hätte die eigene Regierung unterstützen dürfen. Der revolutionäre Defätismus (keine Unterstützung der eigenen Regierung, keine Aufgabe des Klassenkampfes) wäre die notwendige Minimal-Taktik gewesen, die Umwandlung des Kriegs in einen revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des Systems (wie es am konsequentesten Lenin vertrat) das Optimum.
Der Sozialdemokratie fehlte auch ein klares Konzept, wie man auf den Kriegsausbruch reagieren sollte (Massendemonstrationen, Dienstverweigerung, Generalstreik, Verkehrsblockaden usw.). Dieses Versagen ist aber nur Ausdruck dafür, dass die Sozialdemokratie bereits vorher diesen Fragen des außerparlamentarischen Kampfes wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat oder – wie am Beispiel der Massenstreik-Debatte ablesbar – diese militanten Kampfformen abgelehnt hat. Auch die Tatsache, dass das in dieser Hinsicht absolut unzureichende „Erfurter Programm“ nicht im Lichte der Erfahrungen etwa von 1905 durch ein neues abgelöst wurde, zeigt, dass die SPD unfähig und unwillig war, ihre politische Konzeption den Bedingungen der imperialistischen Ära anzupassen. Auch die deutsche Kolonialpolitik wurde in weiten Teilen unterstützt bzw. „toleriert“, weil Deutschland angeblich einen progressiven Entwicklungs- und Kulturauftrag hätte. Das alles deutete schon lange vor 1914 darauf hin, dass die SPD, wenn es darauf ankäme, umfallen würde.
Das Ergebnis der mangelhaften, ja falschen Konzeption der SPD-(Führung) war die Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten (auch Liebknecht hatte zunächst aus Gründen der Fraktionsdisziplin zugestimmt). Es gab zwar einzelne Proteste der sozialdemokratischen Basis gegen den Kriegseintritt Deutschlands, doch es gab keine Bemühungen der SPD, breite Proteste u.a. Kampfformen oder gar einen Generalstreik zu organisieren. Im Gegenteil: man argumentierte, dass Deutschland ein „progressives Kriegsziel“ hätte, weil es gegen den reaktionären Zarismus kämpft. Um den Krieg im Interesse des nationalen Kapitals zu ermöglichen, verpflichtete sich die SPD zu einem Burgfrieden, d.h. man verzichtete darauf, die Kriegs- und Rüstungsanstrengungen der Regierung zu bekämpfen. Schon der alte Bebel, der 1913 starb, hatte verkündet, dass er der Erste wäre, der zur Waffe greifen würde, wenn Deutschland bedroht wäre.
Wie anders dagegen die konsequente Kriegsgegnerschaft von Luxemburg, Liebknecht und der Spartacus-Gruppe! Ihre Politik führte (über den Zwischenschritt der 1917 entstandenen USPD) zum Bruch mit der SPD hin zur Gründung der KPD Ende 1918. Doch es bedurfte leider erst der Katastrophe von 1914, bevor dieser qualitative Sprung für die Arbeiterbewegung erfolgen konnte. Doch die Fülle ungelöster Probleme und mangelhafter politisch-programmatischer Fähigkeiten belastete auch die KPD. Bevor sie diese lösen konnte, versank sie aber im Sumpf des Stalinismus.