Hanns Graaf
Angesichts der Krise der Linkspartei und der Gründung der Wagenknechtpartei BSW kursieren zunehmend Meinungen, die die Krise der LINKEN erklären sollen. Es ist nicht neu, dass reformistische oder stalinistische Organisationen ihre Fehler und Probleme gern damit erklären, dass es „feindliche Kräfte“ gebe, die eine erfolgreichere Politik verhindern würden. Nun soll damit auch der Niedergang der LINKEN und von „Aufstehen“ erklärt werden. Überraschend ist dabei allenfalls, dass „die Trotzkisten“ – frei nach dem Motto „Das Unterwandern ist des Trotzkisten Lust“ – daran schuld wären. Das ist schon deshalb ziemlich absurd, weil „der Trotzkismus“ in Deutschland viel zu schwach, politisch impotent und zersplittert ist, um eine Massenpartei aus der Bahn werfen zu können.
Hintergrund
2005 entstand die „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) als Reaktion auf die Agenda-Politik der SPD/Grünen-Regierung unter Schröder und Fischer. Die WASG stand kritisch zu deren besonders rechter reformistischer Politik, verblieb konzeptionell aber vollständig im Rahmen des Reformismus. Trotzdem war die WASG die erste und bedeutendste Absetzbewegung von der SPD nach 1945 und ein Ausdruck ihrer zunehmenden Krise, durch die sich deren Mitgliedszahl von einer Million (1990) auf gegenwärtig unter 400.000 verringert hat. Arbeiterinnen und Arbeiter haben sich als Mitglieder und Wähler weitgehend von der SPD abgewandt.
Anstatt aber mit dem Reformismus grundsätzlich zu brechen und eine neue kämpferische Arbeiterpartei aufzubauen, fusionierte die WASG mit der PDS zur LINKEN, was der PDS die lang ersehnte Westausdehnung brachte. Vom rechten Schröder-Reformismus bewegte man sich zum etwas linkeren Reformismus a la Gysi und Lafontaine. 2009 erreichte die LINKE mit 11,9% bei der Bundestagswahl ihr bestes Ergebnis. Doch wie schon Goethe feststellte: „Getretner Quark wird breit, nicht stark“. So dauerte es nicht lange, bis sich die fatalen Ergebnisse des Mitregierens und Mitverwaltens des Kapitalismus auch bei der LINKEN zeigten: vom Durchsetzen von fortschrittlichen Reformen war nichts zu merken, von Mobilisierungen oder gar einem konsequenten Oppositionskampf gegen die Dominanz der SPD in den Gewerkschaften war nichts zu spüren. Selbst eine starke Bewegung „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ wurde, anstatt sie voran zu treiben, in parlamentarischen Gremien „entsorgt“. Das äußert sich auch in den Wahlergebnissen der LINKEN, die immer schlechter wurden, bis sie bei der Bundestagswahl 2021 sogar unter 5% rutschte.
Politisch-programmatisch der LINKEN sehr ähnlich wurde dann 2018 „Aufstehen“ gegründet. Die Initiatorengruppe um Wagenknecht erwies sich aber als unfähig, organisatorisch wie inhaltlich die Bewegung aufzubauen, so dass diese zerfiel. WASG und „Aufstehen“ waren Ansätze zur Umgruppierung und Erneuerung der Linken und der Arbeiterbewegung, die letztlich aber versandeten, weil a) kein Bruch mit dem Reformismus erfolgte und b) die „radikale Linke“ fast durchweg dabei versagte, in diese Prozesse einzugreifen.
Das Agieren der Trotzkisten
Welche Rolle spielten Trotzkisten in diesen Entwicklungen? Vorausgeschickt sei hier zunächst, dass es „die Trotzkisten“ nicht gibt. Die sich auf „den Trotzkismus“ berufende Szene unterteilt sich in diverse Gruppen und „Internationalen“, die tw. große programmatische Unterschiede aufweisen. Wer also von „den Trotzkisten“ spricht, erweist sich damit schon von vornherein als unwissend und demagogisch.
2005 waren es fast nur (einige) trotzkistische Gruppen, die in der WASG mitarbeiteten: Linksruck (heute Marx21), die SAV (inzwischen in zwei Teile gespalten) und die Gruppe Arbeitermacht, die es auch heute noch gibt. Sie alle wandten – wenn auch in unterschiedlicher Weise – die Taktik des Entrismus an (she. dazu: https://aufruhrgebiet.de/2017/10/abc-des-marxismus-xxiii-was-bedeutet-entrismus/). Nach dieser ist es unter bestimmten Umständen sinnvoll, dass Revolutionäre in nichtrevolutionären Gruppierungen arbeiten, um dort einen offenen (!) Fraktionskampf zu führen und auf Basis eines revolutionären Programms nach links gehende Menschen zu gewinnen. Hier ist nicht der Platz, diese Taktik genauer zu erläutern, doch so viel kann gesagt werden: eine korrekte Anwendung des Entrismus kann damals nur der GAM attestiert werden. Linksruck und SAV hingegen agierten auf zentristischer Grundlage und traten schließlich der LINKEN bei. Das begründeten sie damit, dass deren Charakter noch „offen“ wäre, sie nach links gedrängt werden könne und der Aufbau einer alternativen revolutionären Organisation deshalb aktuell nicht auf der Tagesordnung stünde. Inzwischen zeigt sich, dass ihre Einschätzungen falsch waren und sie nicht nur die LINKE nicht verändern konnten, sondern sich dabei sogar selbst geschwächt haben.
Anders als noch bei der WASG weigerte sich im Fall von „Aufstehen“ die gesamte „radikale Linke“, darin zu intervenieren. Das wurde mit falschen und einseitigen Vorwürfen wie „Aufstehen ist eine etwas linkere AfD“ oder „Aufstehen dient der Spaltung der LINKEN“ begründet. Diese Thesen wurden v.a. den „Linken“ in der LINKEN (darunter SAV und Marx21) verbreitet – offenbar, weil diese jede Kritik und jede alternative Dynamik in Bezug auf die LINKE fürchteten, denn eine solche hätte ja auch ihre eigene falsche Taktik desavouiert. Auch die GAM lehnte einen Entrismus in „Aufstehen“ ab. Das ist taktisch umso bizarrer, als „Aufstehen“ sich politisch fast überhaupt nicht von der WASG unterschied – im Gegenteil: in Aufstehen waren anteilig mehr Menschen als in der WASG aktiv, die den Kapitalismus überwinden wollten. Die Ignoranz der Linken gegenüber „Aufstehen“ bedeutete zum einen, dass Wagenknecht und Co. ungestört agieren (und „Aufstehen“ ruinieren) konnten; zum anderen, dass damit erneut eine Chance vergeben wurde, eine linke „Umgruppierung“ dafür zu nutzen, Menschen für antikapitalistisch-revolutionäre Positionen zu gewinnen. Diese Haltung ist ein Ausdruck des Sektierertums und der mangelhaften Analysefähigkeit der „radikalen Linken“.
Die „Unterwanderer“ in der LINKEN
Die Mitwirkung von „Trotzkisten“ in der LINKEN wird nun zum Anlass genommen, von einer politischen Unterwanderung zu sprechen, welche die LINKE von ihrem bis dahin erfolgreichen Kurs abgebracht hätte.
Wie sah die „Unterwanderung“ aus? In der LINKEN waren bzw. sind etwa 500-800 „Trotzkisten“ aktiv, das entspricht etwa einem (!) Prozent der Mitglieder. Allerdings stellen sie mit Janine Wissler (früher Linksruck) eine Vorsitzende und einzelne Linksruck-Mitglieder (z.B. Christine Buchholz) hatten Posten im Apparat. Von einer Unterwanderung oder auch nur von einer starken Einflussnahme auf die Politik der LINKEN kann jedoch nicht die Rede sein. Dafür gibt es mehrere Gründe:
- erfolgte der Eintritt der „Trotzkisten“ nicht geheim. Jeder wusste, wo z.B. Wissler politisch herkam.
- agierten die „Trotzkisten“ gar nicht als solche. Was sie politisch vertraten, hatte mit Trotzkismus nichts zu tun. Meist agierten die Trotzkisten linker als der Mainstream der Partei und der Apparat. Bei Mobilisierungen z.B. sah man oft nur die „Trotzkisten“ mit der LINKEN-Fahne, während das Gros der Mitgliedschaft sehr inaktiv war.
- Wen eine Partei als Mitglied aufnimmt, bestimmt die Partei, nicht der Antragsteller. Im Grunde konnte und kann fast jeder ohne Weiteres Mitglied der LINKEN werden. Ob er oder sie deren Programm (das ohnehin wie jedes reformistische Programm sehr verwaschen und unkonkret ist) zustimmt, spielt kaum eine Rolle.
Es ist kein Zufall, dass für die Unterwanderungs-These jede inhaltliche Begründung dafür, dass in der LINKEN trotzkistische Politik vertreten oder gar umgesetzt worden wäre, fehlt. Dafür hätte man sich ja auch genauer anschauen müssen, was Trotzkismus wirklich bedeutet …
Weiter wird behauptet, dass auch andere Kräfte an der Unterwanderung und Veränderung der Politik der LINKEN beteiligt wären: Ex-Mitglieder der Piratenpartei, Studenten, Leute aus der antideutschen Szene und der Antifa sowie LINKEN-Funktionäre, die (angeblich oder tatsächlich) mit der „Atlantik-Brücke“ verbunden wären oder verbunden sind.
Diese Kräfte haben tatsächlich (anders als die Trotzkisten) maßgeblichen Einfluss auf die LINKE genommmen. Doch auch sie waren offiziell aufgenommen worden und jeder wusste, woher sie kamen und wofür sie standen. Diese Leute verkörpern in bestimmten Fragen ein anderes Politikverständnis als das der alten PDS. Sie beziehen sich wesentlich auf die „akademische Mittelschicht“ (in marxistischer Terminologie: „lohnabhängige Mittelschicht“, LMS), was Sahra Wagenknecht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ treffend dargestellt hat. Was Wagenknecht analytisch aber nicht wirklich versteht, ist der tiefere Grund dafür, warum diese Kräfte in der LINKEN so viel Einfluss erlangen konnten. Dafür gibt zwei Erklärungen: 1. haben Größe und gesellschaftliche Bedeutung der LMS bedeutend zugenommen, 2. hat parallel dazu die Attraktivität der Arbeiterbewegung abgenommen. Letzteres – und darüber schweigen alle Reformisten – ist weitgehend der Politik des Reformismus, v.a. der SPD, geschuldet, die über Jahrzehnte fast ohne Alternative die Arbeiterklasse und insbesondere die Gewerkschaften ideell und strukturell geprägt haben. Auch deshalb blieben Klassenkämpfe immer begrenzt, auch deshalb blieben die Linken in den Gewerkschaften marginal. Die politische Unfähigkeit der „radikalen Linken“ kam als Faktor noch dazu.
Wer nach der Fusion zur LINKEN gedacht hatte, dass sich deren Politik gegenüber jener der PDS zum Positiven ändern würde, wurde enttäuscht. Klaus Ernst u.a. westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre in der LINKEN haben z.B. nicht einmal versucht, eine oppositionelle und klassenkämpferische Politik gegenüber dem bzw. im DGB zu praktizieren. Das Ergebnis war, dass die LINKE (und in weit größerem Maße auch die SPD) fast alle ihre proletarischen Mitglieder und Wähler verloren hat. An die Stelle des so zur Impotenz verurteilten Subjekts „Proletariat“ trat nun die Mittelschicht und ihre Interessen (Globalismus, Gender- und Milieupolitik, Multikulti, „Wertedenken“, Zivilgesellschaft usw.) und beeinflusste nun auch die LINKE, nachdem sie vorher schon die Grünen geprägt hatte. Hintergrund und Ziel dieser Politik der PDS wie später der LINKEN war, mit SPD und Grünen die Regierung zu stellen – nicht, um den Kapitalismus zu bekämpfen, sondern um ihn zu verwalten.
Cui bono?
Die Benutzung der Unterwanderungsthese durch Funktionäre der LINKEN und des BSW verfolgt einen klaren Zweck: sie soll vom Versagen des Reformismus und seiner Protagonisten, darunter auch Wagenknecht, Lafontaine, Klaus Ernst usw., ablenken. Sie soll zugleich eine Warnung an Linke sein, nicht zu radikal, sprich antikapitalistisch aufzutreten. Während Leute, die mit „Links“ wenig am Hut haben und noch vor kurzem als Mitglied der SPD oder sogar der FDP reaktionäre Politik befürworteten, Mitglied des BSW werden durften, werden andere, die dazu 10 Mal mehr geeignet wären, einem empörenden Aufnahme-Ritual unterzogen. Die Mär vor der Unterwanderung wird dazu benutzt, das BSW als Top-Down-Projekt durchzudrücken. Das ist nicht nur beispiellos undemokratisch, es ist auch zutiefst reaktionär, weil so die fatale Politik des Reformismus, der klassenübergreifenden Volksfrontpolitik ohne Debatte und ohne Einfluss der „wilden“ Basis weitergeführt werden kann. Wenn der Klassenfeind versuchen wollte, die Formierung eines linken, kämpferischen Potentials zu verhindern, so könnte er es nicht besser machen, als derzeit Wagenknecht und Co.
Natürlich wäre es leicht, die „falschen Leute“ aus dem BSW heraus zu halten, indem man einfach ein Programm als Maßstab hätte. Doch dieses fehlt, bezeichnender Weise hat Wagenknecht in mehreren Jahren kein solches Programm erarbeitet. Die aktuelle „Programmatik“ ist sehr unkonkret und wesentliche Fragen werden ausspart. Nun sollen also wie auch immer ausgewählte Kader anhand unbekannter Kriterien die Mitglieder-Spreu vom -Weizen trennen. Das kann natürlich gelingen, doch es ist eine Illusion, auf diese Weis auf Dauer eine politisch einheitliche Mitgliedschaft und eine lebendige, kämpferische Organisation zu schaffen. Es geht nicht primär um die Frage, wie eine Partei aufgebaut wird, sondern v.a. darum, was deren Programm ist. Beim BSW ist es ein klar reformistisches und die Art des Parteiaufbaus dient gerade dazu, dieses durchzusetzen und Kritik daran zu verhindern. Das Primat ist nicht die Schaffung aktiver klassenkämpferischer Strukturen, sondern der Aufbau eines Wahlvereins und die Platzierung von Hauptamtlichen im Mechanismus der „Verwaltung“ des Kapitalismus.
Einstein sagte einmal: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Anstatt die Fehler der LINKEN und der SPD zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen, bemüht man Verschwörungstheorien und wurschtelt weiter wie immer. Nach der Tragödie des historischen Niedergangs von SPD und KPD als einst antikapitalistischen Arbeiterparteien und aktuell der LINKEN besorgen Wagenknecht und Co. nun den Niedergang des BSW – in Form einer Farce. Dass ihr das bisher relativ gut gelingt, liegt auch daran, dass die „radikale Linke“ sich in typisch sektiererischer Manier komplett raushält. Es wäre ihr nämlich trotz der rigiden Art der Mitgliederauswahl möglich, in den BSW-Unterstützergruppen mitzuwirken und Druck auf die BSW-Spitze aufzubauen. Sie tut das jedoch nicht und lässt somit zu, dass die Reformisten ungestört arbeiten können.
Schon jetzt wird am Beispiel BSW aber auch deutlich (freilich nur für Jene, die darin mitarbeiten), dass es im und um das BSW ein Milieu von Linken und Antikapitalisten gibt, die für eine originär linke, antikapitalistische Politik offen sind. Diese gilt es aus dem Abwärtsstrudel des BSW mit seinem x-ten Neuaufguss des Reformismus herauszuführen und für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei auf antikapitalistischer Grundlage zu gewinnen!