Weltzustandsbericht

Hanns Graaf

Containerkolosse vor
Rhodos auf leer
Gefischtem
Meer.

Fünfhundertjährige
Riesen im Dschungel: Ge-
Fällt für Fenster mit
Ausblick ins
Grün.

Kontinentale
Verschiebungen.
Klick klick: in Millisekunden
Milliarden.

Raketen,
Irdische, zielen auf
Unsern, uns fernsten
Planeten.

Computer
Der x-ten Generation
Erfassen die
Toten der Sahel-
Zone.

Verhungert
Soeben mit
Sieben ein
Späterer
Nobelpreisträger.

Vor Afrikas
Schulhütten: Kinder-
Soldaten üben das
Killen.

Beton
Stürzt vom berstenden
Welthandelszentrum
Auf hoffende
Bettler.

Grinsender
Gipfel. Zehn-
Tausende Fäuste dagegen
Geballt in Genuas
Gassen.

Ihr widerborstiger
Prophet: verschüttet
In Highgate, nahe dem
Meridian
Null.

2004

Einer vietnamesischen Zigarettenverkäuferin

Hanns Graaf

Kühler Morgen. Grau wie Asche
Stehst du an des Marktes Rand
Mit der Zigarettentasche,
Schachteln in der kalten Hand.

Fragen dich nach Preis und Sorte.
Maskenlächeln. Geld zurück.
Ganze Stangen. Halbe Worte.
Kleiner Handel. Kleines Glück.

Land des Sonnenaufgangs ferne,
Weiter als ein Vogelflug.
Fast verraucht, verglüht wie Sterne,
Wie ein Zigarettenzug.

Zählst die Kunden und die Stunden.
Deine Blicke voller Angst.
Eine Streife zieht die Runden
Und du weißt, worum du bangst.

Hinter dem Gardinengitter
Spüre ich es heiß im Bauch.
Auf der Zunge schmeckt es bitter
Mir, obwohl ich gar nicht rauch.

Jeder Markt ist eine Falle.
Leben hat den kleinsten Preis.
Siehst nicht, wie die Faust ich balle,
Bis die Knöchel werden weiß.

Austreibung Trotzkis

Hanns Graaf

I

Was noch
Gilt der Ausgewiesne, der
Prophet dem weitren
Russland?

Postenwechsel an der
Frostverworfnen
Strecke. Unterm
Schnee stockt das
Oktoberlaub.

An der Böschung
Wachsen Reste von
Konserven. Drum
Schmarotzer raufen sich:
Die Krähen. Im Dickicht
Schnürt abseits der
Rotfuchs.

Um nicht
Einzufrieren,
Dampft die Rostlok
Hin und her
Auf totem
Gleis.

Frostzerknirschte
Wachen draußen. Drinnen
Lew, mit Grippe, spielt alleine
Schach.

Moskau bringt sich um
Die Türme. Bauernopfer.
Winkelzüge, die
Rochaden.

Draußen
Donnert es: Mein
Panzerzug!
Ihm glüht der
Kopf. Kein Wasser? Ist auch das
Versiegt.

Und ich, in dem
Verdammten Zuge,
Ich bin nicht am
Zug!

II

An den Rand getrieben
Triffst Du mich,
Odessa,
Wieder.

Meine Schule.
Klassen, die ich
Durchging. Zirkelarbeit,
Das Theater. Einem
Zuckt die illegale
Hand zum Gruß.

ILJITSCH liegt
Vertäut. Da tönt die
Pfeife. Stalin lässt
Abdampfen. Abfuhr ins
Schwarzmeer
Vergessen.

Kalte Krim.
Erblasste Küste. Brüder,
Unser Land treibt
Ab.

Verschollne
Wogen. Hinter uns die
Rinne, wie sie
Zufriert!

Doch,
Wo immer ich
Hinfahre, fahre ich
Fort.

Anmerkung:

Im Januar 1929 wurde Leo Trotzki von Stalin des Landes verwiesen. Während man überlegte, wie seine Vertreibung ohne Aufsehen erfolgen könnte, wartete der Zug, der Trotzki nach Odessa brachte, auf der abgelegenen Station Rjaschk. Von Odessa, wo Trotzki seine Jugend verlebte, wurde er mit dem Dampfer ILJITSCH in die Türkei gebracht. Vgl. Trotzkis Autobiographie „Mein Leben“.

Berlin. Marx-Engels-Forum

Hanns Graaf

Stille Spree.

Gesteinigte Skylla. Gezähmte
Charybdis.

Chairman Marx als
Biedermeier. Der Geniale, der
Beweger, der Besessene –
Gesetzt.

Engels,
Der Entdecker,
Forsche Kritiker –
Im Knitterfreien
Frack.

Als Alibis: gestellte
Stelen, Bilderchen
Von Klassenkämpfchen.

Bleiben die
Versteinert,
Läuft sichs Neue
Wiederwiederwieder
Tot.

1988

Entree

Hanns Graaf

Was wollt ihr hier? Was hat euch grad zu mir verschlagen?
Seid ihr von Welt-Erklärern nicht bedient?
Der Zeiten Gang schlägt, unverdaut, uns auf den Magen.
Wisst: Wenn es um den Kopf geht, geht es um den Kragen,
Sind Orden oder Narben schnell verdient.

Soll ich euch maln ein Weltbild für den Wechselrahmen?
Sucht ihr nach paßgerechten Idealn?
Ein Notausgang fürs Publikum nach all den Dramen?
Oh, blinde Hoffnung, die wir stets umsonst bekamen.
Doch wer auf mich hört, muss dafür bezahln.

Historia verkehrt noch auf den alten Trassen.
Ob künftig dieser Weg den Wagen trägt?
Sagt, wollt ihr die Geschichte einfach fahren lassen?
Und bleibet hocken? Wollt nicht in die Speichen fassen
Dem Karren, der uns in den Abgrund schlägt?

Habt ihrs euch überlegt? Wollt ihr noch länger bleiben
Im Saal, in dieser engen, dunklen Welt?
Von meinem Singen zittern nicht die Fensterscheiben.
Was ich umschreib, das ist nicht einfach umzuschreiben.
In Ewigkeit bleibt alles – bis es fällt.

1988