Schwanebecker Elegie I

Hanns Graaf

Rostloks durchkreuzen den Ostblock. Elektrifizierteste Länder
Minus die Kommune. Gleisbetten, Lüste versteint.
Linientreu, unantastbar die Drähte der Leitungen oben.
Umgeformter Strom. Nahverkehr pendelt sich ein.

Rötliches Preußen. Schwellenland. Gleise verlaufen im Sande.
Reichsbahnstahl von Krupp. Festestes Volkseigentum.
Wälder kuschen. Wartburgs am Schlagbaum warten auf Öffnung.
Übergang beschrankt. Wieviele Wagen im Stau?

FAHRAUSWEISE! Flink geht das Einlochen. Wegen der paar
Märker soviel Streß? MUSS SEIN, WO KÄMEN WIR HIN?Schaffnergemuffel. ES GEHT UMS PRINZIP. Oder ums Ganze,
Denke ich halblaut. Pst! Der da hinterm ND.

REVOLUTIONEN SIND DIE LOKOMOTIVEN DER stehet
Groß am Abstellgleis. AUSSTEIGEN! ZUG ENDET HIER.
ALLE TOILETTEN les ich VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN.
STERNBURG, HALB UND HALB pisse ich illegal hin.

ALLES UMSTEIGEN! WEITERFAHRT NACH Ist das noch unsere Richtung?
Letzter Mohn verglüht zwischen dem Schotter am Damm.
Dornenhecken wuchern am altroten Backstein des Bahnhofs.
Aufgegeben längst. Hier hält schon lange nichts mehr.

Haben wir alles? Irgendwas fehlt uns doch! Ringsherum Schweigen.
Nichts erhebt sich hier. Ebenen, sandig und flach.
Zugdurchfahrt. TRETEN SIE ZURÜCK Schneidende Stimme
VON DER BAHNSTEIGKANTE! Hör oder träume ich das?

Dickicht. Spärliche Schneisen. Flachwurzler. Einsame Spitzen
Oben über uns. Honnimoon Abendgestirn.
Schienenstoßstaccato. Die Lichtungen schwinden. Im Dämmer
Bleibt das Land zurück. WANDLITZ. Letzte Station.

1989

Nachtvision

Hanns Graaf

Schwarze Alleen mit Peitschenmasten.
Stacheldraht quer über Straßen gespannt.
Scheinwerferfinger durchs Nachtdunkel tasten.
Ertrunkene Schwimmlehrer treiben zum Strand.

Ein Fernzug mit Schlafwagen springt aus den Gleisen.
Ein Brückentorso ragt übern Schlund.
Helikopter, die über uns kreisen.
Gerüchte gehn von Mund zu Mund.

Pausenlos klingeln die Faxtelefone.
Vereinszimmer brüten an einem Pogrom.
Ein Chor von Knaben probt eine None.
Im stählernen Stuhl stirbt einer an Strom.

Vorm Marmorportal hocken Banker und wimmern.
Vier Verse von Trakl, die irgendwer spricht.
Ein Dauertonsummen. Testbilder flimmern.
Die Mauern der Staudämme halten noch dicht.

Ein Hoftor fällt zu, als hätt wer geschossen.
Ein Aufruf kursiert auf zehntausend Blatt.
Die Börsen bleiben auch morgen geschlossen.
Ein blutiger Mond hängt über der Stadt.

Davids Enkeln

Hanns Graaf

Festgeschnallt Ihr in F 16-Maschinen.
Rasend. Ein Davidstern, den man erkennt.
Ihr kreist über Häusern mit steinernen Minen.
Unter Euch Gaza: ´s Schtetele brennt!

´s brennt wie der Leuchter mit sieben Armen.
So hat das Warschauer Ghetto gebrannt.
In Glaskanzeln hockt ihr ohne Erbarmen,
Ohne Erinnern an Widerstand.

Zertrümmern und töten. Rauchschwaden ziehen
Wie über die Lager einst: gelblich und bleich.
Ummauert, umdrahtet. Es gibt kein Entfliehen.
Heiliges Land – der Hölle gleich.

Ihr, die Vertriebenen, wurdet Vertreiber.
Blutrote Rosen – so keimt Eure Saat!
Städte verschlingend und Gärten und Leiber:
So nährt sich Goliath – Israels Staat.

Anmerkung:

Das Gedicht entstand im Januar 2009 während des Krieges Israels gegen Gaza. „´s Schtetele brennt“ ist jiddisch und kommt im Lied „s brennt“ von Mordechaj Gebirtig (1877-1942) vor, das er 1938 nach einem Pogrom in Przytyk schrieb.

Berlin. Friedhof Friedrichsfelde

Hanns Graaf

Schnee,
Ein Schleier, über euch.
Zwei Meter Erde und darauf-
Gewälzt ein Felsen
Noch von

Denen.

Schleifen,
Wo geschleift einst
Van der Rohes
Barrikade: Vor-
Standskränze.

Alles habt ihr
Abgelegt
Längst:
Alles.

Langer
Abmarsch. Rückzug

Vor
Visieren: dünne
Weiße Atem-
Fahnen.

Anmerkung:

Der Text entstand 1993 nach der Teilnahme an der Ehrung für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vor ihren Gräbern in Berlin-Friedrichsfelde. Ursprünglich stand dort ein von Mies van der Rohe im Stil einer Barrikade entworfenes und aus Spenden von Arbeitern finanziertes Denkmal. Es wurde von den Nazis zerstört und von den Stalinisten nicht wieder aufgebaut. Während der Demonstration kam es zu Angriffen durch die Polizei.

Alten Freunden

Hanns Graaf

Wisst ihr noch, wie oft wir warn gesessen
Hier im grauen Hof, im gelben Licht?
Hatten alle Zeit im Kopf durchmessen
Bis zum Dämmern. Habt ihr das vergessen?
Sagt, warum erinnert ihr euch nicht?

Spürt ihr noch das rauhe Holz, ihr Hände?
Wie viel Gläser sind uns drauf zerschellt!
Ob die derben Sprüche ich noch fände,
Die wir eingekratzt in blasse Wände,
Denen nun der letzte Putz abfällt.

Wisst ihr noch: die dunkelroten Weine
Stiegen uns zu Kopf. Ein Taumel Glück.
Wälzten Theorie wie schwere Steine,
Stritten uns und kamen nie ins Reine.
Nein, ich nehm noch heut kein Wort zurück!

In den kahlen Ranken der Taverne
Grinsen im Gezweig wie Ironie
Bleiche Lampions wie fahle Sterne.
Dass wir einig wärn in Zukunftsferne,
War wohl unsre größte Utopie.

Seid zu Haus in andrer Herren Länder,
Wo ich euch bis jetzt nicht wieder fand.
Tragt die Haare anders, die Gewänder.
Fremd klingt euer Wort im fremden Sender.
Hab euch nur am Namen noch erkannt.

Kies zerknirscht mir unter meinen Sohlen.
Schnellbahnlärm. Ein Hund, der Reste frisst.
Hab nichts zu bestellen. Unverhohlen
Schaut der Kellner. Will den Mantel holen,
Den der Kleiderständer schwarz gehisst.

Später September

Hanns Graaf

Müde tanzt der Sommer sich
Fort aus diesem Jahre.
Webt nur den Holunder noch
Schwarz sich in die Haare.

Regenharfe tönt in Moll.
Früher wird es dunkeln.
Still im weiten Himmelsmeer
Wird das Mondboot schunkeln.

Eine Aster ockergelb.
Leere Apfelzweige.
Fort die Freunde. Mir wird kühl,
Wenn ich einsam schweige.

Wieder sind die Felder leer,
Werden umgebrochen.
Hatten von der Ernte uns
So viel mehr versprochen.

Schüttelt seine Vögel ab,
Schenkt sie kühlren Winden.
Ziehen dorthin, wo sie noch
Jung den Sommer finden.

Wie die Krähen bleib ich hier,
Weiß: die Kälten kommen.
Harre aus bis übers Jahr
Trotzig und beklommen

1988

Franz Marc I

Hanns Graaf

Zu seinem Bild „Reh im Walde II“ (1912)

Franz Marc - Reh im Walde II (1912)
Quelle: Wikimedia Commons

Reh,
  Wie ruhen wir
    Schlaflos
      Im wölfischen Wald.
        Verbirgt uns
          Unser helles dünnes
            Fell, das uns verrät?
              Verwundet
                Sind wir schon von
                  Ängsten.
                    Feuerhorizonte
                      Züngeln näher.
                        Bäume fackeln.
                          Lodernd Gras.
                            Mond,
                              Scheinst uns
                                Leichengesichtig.
                                  Düstere Schatten
                                    Fallen uns
                                      An.

Heimatkunde

Hanns Graaf

Reiches Land mit armen Hunden.
Noch gilt lockrer Leinenzwang.
Martinshörner jauln seit Stunden.
Aus den Stadien dröhnt Gesang.

Schuss um Schuss zerreißt die Netze.
Und das Spiel fängt grad erst an.
Regen strömt auf alle Plätze.
Eine Sturmfront zieht heran.

Die Kurse falln. Tiefrot die Zahlen.
Unterm Rad quietscht eine Maus.
Durch das Glas der Bankzentralen
Stürzt zuweilen einer raus.

Vor dem Leihhaus eine Schlange.
Noch gibt man sich unbeschwert.
Doch so langsam wird uns bange!
Vorm Reformhaus kotzt ein Pferd.

Hiob schreibt die halbe Zeitung.
Lautlos tickt die Schuldenuhr.
Etwas ist in Vorbereitung.
Acht Minister fahrn zur Kur.

Flammen züngeln hoch aus Tonnen,
Wo der erste Streik begann.
Aus der Ferne Marschkolonnen.
Irgendetwas bahnt sich an.

Losungsweiß prangt an Fassaden.
Durch den Bannkreis schlägt die Wut.
In der Stadt blühn Barrikaden,
An den Rändern steigt die Flut.

Berlin. Reichstag

Hanns Graaf

Auferstandene
Ruine: Deutschlands alter
Geierkäfig.

Fledderer, die
Zogs gen Osten, als der
Abtrieb in den
Westen.

Glasgewölbe überm
Hohen Hause, dem
Palaver.

Volksvertreter:
Voll versorgt und ganz
Verkuppelt.

Ach,
In wilhelminischen
Mansarden
Wurmfortsatz von
Kommunarden!

Nirgendwo ein
Liebknecht, nur

Lakaien.

Schwarze Verse

Hanns Graaf

Schwarz klebt die Erde uns unter den Nägeln,
Wenn wir den Wurzeln nachgraben.
Schwarzarbeit leistet mein Schädel: Geschichte,
Gesiebt aus dem Zeitengerölle.

Inschriften. Namen. Der Lebenden Orte
Noch von den Toten gezeichnet.
Schwarz, aus geronnenem Blut, all die Grenzen
Auf knallbunten Schulatlasseiten.

Rauchfahnen wehn, eure rußschwarzen Haare.
Treblinkas Roma-Mädchen.
Hakige Kreuze, ein zackiges Signum
Verblasst auf verblichnem Transportschein.

Schwarz, abgefroren im Dauerfrostboden
In wieviel Gulags wieviel Füße?
Ausgebrannt starren die Höhlen der Pfeifen
Im Stalinmuseum wie Augen.

Feurige Fahne, angeschwärzt, lohend
An Trotzkis gepanzertem Zuge.
Stickiger Qualm über rostigen Gleisen
Der Staatsbahn von nassmorschen Scheitern.

Schwarz, hart und januarkalt bohrt, oh Rosa,
Die Mündung sich in deine Schläfe.
Landwehrkanal, liegst verschollen im Lande.
DER WALD STEHT SCHWARZ UND SCHWEIGET.

Bleichester Bruder Vergessen: Uns schneit doch
Das Gestern als Schnee noch ins Morgen.
Schwarz meine Verse wie Stacheldrahtdrähte
Ins Weiß den Papieren geschlagen.