Makarenkos ungeliebtes Erbe

Bildung in der Sowjetunion

Hanns Graaf

Die Konzepte und Leistungen des sowjetischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939) wurden weitgehend vergessen oder verdrängt – obwohl oder weil er als der bedeutendste sowjetische Pädagoge gilt.

Bei Wikipedia heißt es: „In seinen Erziehungs-Kommunen für „asoziale“ Waisenkinder in den 1920/30er Jahren erfolgte die „Resozialisierung“ seiner Schützlinge wesentlich mittels Bildung und produktiver Arbeit im Kollektiv. Als grundsätzliche Erfahrung hebt Makarenko dabei immer wieder hervor, dass es überhaupt nicht egal war, welcher Art die produktive Arbeit war, um einen wirklichen persönlichkeitsbildenden Effekt zu erzielen. Nur dann, wenn die Jugendlichen ein bewusstes, schöpferisches Verhältnis zum und im Produktionsprozess haben, wenn sie nicht nur „verlängerter“ Arm der Maschine sind, sondern jeder Arbeiter Spezialist für mehrere Teilarbeiten ist und zugleich möglichst auch Organisator, Leiter, Entwickler oder Forscher. Mit anderen Worten: Nur eine qualitativ neue Stellung des Individuums in der Produktion, nur die Überwindung der überkommenen Arbeitsteilung kann bewirken, dass sich der Mensch selbst dazu befähigt, eine kommunistische Gesellschaft aufzubauen.“

Makarenkos Ideen passten einerseits den Gegnern des Kommunismus nicht, weil sie in striktem Gegensatz dazu standen, dass es eine herrschende und privilegierte Oberschicht gibt, die ihre Stellung nicht zuletzt durch die Behauptung legitimiert, dass nur sie dazu fähig sei, die Geschicke der Gesellschaft zu leiten. Jede Diktatur einer privilegierten Minderheit erfordert und erzeugt auch Herrschaftsdünkel, so wie der Kapitalismus insgesamt einer unterprivilegierten Lohnarbeiterschaft bedarf, die von den zentralen Entscheidungen über soziale und wirtschaftliche Fragen ausgeschlossen ist.

Andererseits waren Makarenkos Vorstellungen auch den „Kommunisten“ nicht ganz geheuer, zumindest jenen, die eine Gesellschaft nach den Maßgaben Stalins wollten. Sie hoben Makarenko zwar oft auf einen Sockel, jedoch nur, um sein Werk dem Publikum möglichst weit zu entrücken, so dass es ganz nach den Bedürfnissen der Polit-Bürokratie interpretiert werden konnte. So waren es v.a. zwei Aspekte, die hervorgehoben wurden: die Rolle der Arbeit bei der Erziehung und die Rolle des Kollektivs. Beides wurde aber so dargestellt, dass es den emanzipatorischen Vorstellungen Makarenkos gar nicht entsprach, sondern den Erfordernissen des stalinschen Unterdrückungsregimes.

Makarenko betonte stets, dass das Kollektiv nicht nur einfach ein „Rahmen“ für die Entwicklung von Individuen ist, sondern dass die Qualität, die Dynamik des Kollektivs ein Faktor ist, ohne die eine bestimmte qualitative Entwicklung auch des Einzelnen nicht erreichbar ist. “Eine herausragende Besonderheit des pädagogischen Experiments Makarenkos besteht darin, daß das Jugendkollektiv die (…) erziehungswirksamen Bedingungen der produktiven Arbeit selbst wesentlich mitgeschaffen hat. (Sie) haben ihre Umstände verändert, sich dabei selbst verändert und zugleich die Bedingungen für ein höheres Niveau ihrer Selbstveränderung mitgeschaffen.“ (E. Sauermann, Makarenko und Marx, Dietz Verlag Berlin, 1987, S. 56) Das verweist direkt auf eine Formulierung in der 3. „Feuerbach-These“ von Marx, wo er betont, „dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß“.

Ab 1920 beteiligte sich Makarenko an der Reorganisation des Schulwesens. Im November 1920 begann er mit dem Aufbau seiner ersten Arbeitskolonie (später: Gorki-Kolonie) für straffällig gewordene Jugendliche, die nach den Wirren des Bürgerkriegs in Massen durchs Land vagabundierten. Makarenkos Kolonie war jedoch keine militärisch geführte Jugendstrafkolonie, sondern eine koedukative, also auf Gemeinschaftserziehung beruhende Einrichtung. 1927 gründete Makarenko dann eine weitere, die „Dserschinski-Kolonie“.

Seine praktischen Erfahrungen und die theoretischen Schlussfolgerungen legte er in vielen Publikationen dar, die wichtigste ist der Roman „Ein pädagogisches Poem“ (später auch als „Der Weg ins Leben“ bekannt geworden).

Wikipedia stellt Makarenkos pädagogische Intentionen durchaus treffend dar: „Makarenko entwickelte eine Form der Kollektiverziehung mit dem Ziel der Erziehung einer allseitig entwickelten Persönlichkeit (…). Er beabsichtigte eine Erziehung ohne die Gewalt der Prügelstrafe und ohne hierarchische Autorität seitens der Lehrer. Die Erziehung basierte auf einer Einheit von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. Die Autorität des Erziehers beruhte auf seiner Achtung vor dem Kind, seiner absoluten Aufrichtigkeit gegenüber den Zöglingen und auf festem Vertrauen in den Menschen.“

Ein wesentlicher Aspekt der pädagogischen Arbeit Makarenkos bestand in der Resozialisisierung der verwahrlosten, oft kriminellen Jugendlichen. Dabei kam dem Jugendverband Komsomol eine wichtige Rolle zu. Wie sah das konkret aus? Für jeden neu hinzugekommenen Zögling war ein „Alter“ verantwortlich. Es gab ein System, in dem die Neulinge quasi Kandidaten waren und weniger Rechte als die Vollmitglieder hatten. Es gab also insofern keine Gleichmacherei, sondern für alle Mitglieder gleiche Möglichkeiten, in der „Hierarchie“ aufzusteigen, allein die Leistung bzw. die Entwicklung zählten. Vollmitglieder konnten durch das Kollektiv wieder auf den Status eines Neuen zurückversetzt werden. Die „Urteile“ waren aber immer kollektive Entscheidungen, denen demokratische Diskussionen vorangingen. Sicher ist dieses „harte“ Regime auch den außergewöhnlichen historischen Umständen im jungen Sowjetrussland geschuldet sowie der sozialen Verfasstheit der Zöglinge und also nicht einfach eins zu eins auf andere Verhältnisse übertragbar oder generalisierbar, doch bestimmte Grundprinzipien sehr wohl: die Kollektivität, die Chancengleichheit, die polytechnische Orientierung und der unbedingte pädagogische Wille, die Entwicklung des Einzelnen bestmöglich zu fördern.

In der Kolonie erhielten die Jugendlichen Schulunterricht, arbeiteten in den zur Kolonie gehörenden Werkstätten oder auf dem Feld. Die Kolonien waren keine sozialen Subventionsfälle, sondern unterhielten sich selbst und erwirtschafteten nach einiger Zeit sogar regelmäßig Überschüsse. Das ist auch insofern interessant, weil die Versuche, Genossenschaften zu etablieren, fast immer damit einhergingen, dass diese nur eine geringe Produktivität aufwiesen.

Die ErzieherInnen lebten selbst in der Kolonie. Sie aßen gemeinsam mit den Jugendlichen, sie arbeiteten mit ihnen und verbrachten mit den Jugendlichen tw. auch die Freizeit. Neben Unterricht und Arbeit gab es vielfältige Möglichkeiten der geistig-kulturellen Betätigung, es gab literarische Abende, Konzerte, Theateraufführungen und Diskussionen. Eine Theatergruppe und ein Orchester gehörten ganz selbstverständlich zum Leben der Kolonie.

Makarenkos pädagogische Grundintention könnte folgendermaßen beschrieben werden: Herausbildung vielseitig tätiger und begabter Individuen als selbstbewusster und aktiver Teil eines Kollektivs. Makarenko selbst sagte über seine Erziehungsmethode einmal: „Ich fordere Dich, weil ich Dich achte.“

Besonders bemerkenswert an der Pädagogik Makarenkos sind auch der Nachweis, dass auch Jugendliche, die aus sehr schlechten sozialen Verhältnissen kommen – heute würden diese durchaus diskriminierend „bildungsferne Schichten“ genannt werden – eine erstaunliche Entwicklung nehmen können, wenn sie entsprechend gefördert werden, und die Erkenntnis, welche zentrale Rolle die produktive Arbeit – im weiteren Sinn die Praxis – für den pädagogischen Prozess spielt.

Alle Aspekte der Produktion – die Planung, die praktische Organisation, die Verwaltung – erfolgten kollektiv. Zwar gab es auch einige (ältere) Spezialisten, Ingenieure oder Agronomen, doch auch sie waren in das Kollektiv und seine Entscheidungsprozesse eingebunden, sie waren keine Befehlsgeber, sondern eher Berater.

Die Planung der wirtschaftlichen Tätigkeit (und damit verbunden der Schulunterricht bzw. die Lehrausbildung) und der Ressourcen der Kolonie erfolgten kollektiv unter direkter Einbeziehung der „Basis“. Sie orientierte sich einerseits an den gesamtgesellschaftlichen Anforderungen und  Möglichkeiten, aber zugleich an den direkten Interessen der Kolonie und ihrer BewohnerInnen. Insofern war diese Vorgehensweise beispielhaft – v.a. vor dem Hintergrund der sich schon ab Mitte der 1920er durchsetzenden bürokratischen „Planung“.

Die produktive Tätigkeit war stets ökonomisch real, d.h. sie erfolgte auf eigene Rechnung und unterlag objektiven ökonomischen Kriterien, sie musste nicht nur „therapeutische“ Anforderungen erfüllen. So wurden in den Werkstätten, später Betrieben der Kolonie die ersten Fotoapparate und die ersten elektrischen Bohrmaschinen des jungen Arbeiterstaates hergestellt, für die damalige Zeit, umso mehr im rückständigen Russland, durchaus technisch anspruchsvolle Produkte.

Die berufliche Ausbildung und Tätigkeit der Jugendlichen war immer auch damit verbunden, eine zu enge Spezialisierung und Arbeitsteilung zu vermeiden. Viele erlernten mehrere Berufe und übten sie auch praktisch aus. Zudem wurde versucht – gleich einer Rotation -, dass jeder Zögling sich in unterschiedlichen Tätigkeiten – praktische Arbeit, Kontrolltätigkeit, Leitungsarbeit, ja sogar in Forschung und Entwicklung – ausprobieren konnte. Auch dieses Hinausblicken über den engen berufspraktischen Tellerrand war wichtig, um selbstbewusste, selbstständige und mit vielen praktischen und „sozialen“ Fähigkeiten ausgestattete Persönlichkeiten zu erziehen.

Obwohl „Kolonien“ genannt, hätte man die Einrichtungen Makarenkos auch „Kommunen“ nennen können, weil viele Prinzipien einer Kommune – soweit es in einer solchen „pädagogischen“ Einrichtung möglich war – darin verwirklicht waren.

Die Tragik Makarenkos bestand freilich darin, dass er offenbar bis zum Schluss glaubte, dass seine hehren Prinzipien sich nach und nach in der gesamten Sowjet-Gesellschaft durchsetzen würden. Makarenko ist nie als bewusster Kritiker des Stalinismus in Aktion getreten, von bewussten Verbindungen zu oppositionellen Strukturen ist nichts bekannt. Die in den ersten Jahren nach der Revolution durchaus vielfältigen reform-pädagogischen Aktivitäten und Diskussionen gerieten schon bald unter das allgegenwärtige Räderwerk der Bürokratie. Gerade seine auf Kollektivität, demokratischen Entscheidungen, Transparenz und Achtung der Persönlichkeit beruhenden Prinzipien und Sozialstrukturen der Kolonien Makarenkos existierten in der stalinschen Sowjetunion eben gerade nicht.

Die geradezu erstaunlichen Erfolge der pädagogischen Methoden Makarenkos verweisen auch darauf, dass eine wirkliche Überwindung der grundsätzlichen Einseitigkeiten, Fehler und Schwächen der verschiedenen bürgerlichen Bildungskonzepte der Gegenwart nur dann möglich ist, wenn eine neue Pädagogik Teil einer grundsätzlichen Umwälzung der Gesellschaft ist. Anstatt  Jugendliche zu befähigen, ihren Platz in der arbeitsteiligen und unterdrückerischen kapitalistischen Ordnung als funktionierende Anhängsel eines sozial-ökonomischen Mechanismus auszufüllen, ging es Makarenko darum, Menschen zu entwickeln, die zu selbstbewussten und schöpferischen Gestaltern einer neuen Gesellschaft werden. Wie armselig wirken dagegen die diversen Bildungs-Reformen und die „alternativen“ Schulformen der Gegenwart.

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