Staatskapitalismus statt Sozialismus (Teil 1 von 2)

Ein Beitrag zur Konzeption einer nachkapitalistischen Wirtschaft

Hanns Graaf

Schon Anfang und Mitte der 1920er Jahre begann in der internationalen Linken eine Diskussion über den Klassencharakter der UdSSR. Mit dem Aufstieg Stalins und der Etablierung jener Strukturen, die wir heute „Stalinismus“ nennen, spitzte sich diese Diskussion noch zu. Die einen sahen die UdSSR als mehr oder weniger „sozialistisch“ an, andere, v.a. Trotzki, bezeichneten sie als „degenerierten Arbeiterstaat“, wieder andere, darunter z.B. RätekommunistInnen und AnarchistInnen, verstanden die UdSSR als Staatskapitalismus. Bis heute trennt die Frage der Charakterisierung der UdSSR und des „Ostblocks“ die Linke in gegensätzliche Lager.

Weit bedeutender als der Streit um Begrifflichkeiten ist freilich die dahinter liegende tiefe Differenz darüber, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft und deren Ökonomie aussehen sollen. Von der Beantwortung dieser Frage aber wird die gesamte revolutionäre Strategie und Taktik stark geprägt. Eine Überwindung der Krise der „radikalen“ Linken und der Arbeiterbewegung insgesamt kann unseres Erachtens nur erfolgen, wenn diese Frage korrekt beantwortet wird. Das erfordert aber erstens, sich auch zu vergewissern, was Marx und Engels dazu vertreten haben und inwiefern ihre Auffassungen von der realen Geschichte bestätigt oder widerlegt worden sind. Zweitens bedeutet es, über den engen Horizont des eigenen -ismus hinaus zu blicken. Letztere Verfahrensweise mag „geeignet“ erscheinen, das eigene Lager zu verteidigen, sie ist jedoch ungeeignet zur Analyse.

Wir wollen hier nun darlegen, warum die Sowjetunion ab Ende der 1920er Jahre staatskapitalistisch war und welche Besonderheiten dieses Systems aufwies.

Staatskapitalismus und Etatismus

Mit dem Begriff „Staatskapitalismus“ wird in der Regel eine kapitalistische Wirtschaft bezeichnet, in welcher der Staat eine größere Rolle als normalerweise spielt. In der Regel beschränkt sich der bürgerliche Staat in der Wirtschaft darauf, regulierend einzugreifen, jedoch nicht in relevantem Maße selbst Eigentümer der Produktionsmittel zu sein. Das ist aber kein Staatskapitalismus, sondern „Etatismus“ (von l´Etat, französisch: der Staat). Die staatliche Intervention ist immer begrenzt, sie setzt keine einzige wesentliche Struktur und Funktionsweise des Kapitalismus außer Kraft. Durchaus anders verhält es sich jedoch beim Staatskapitalismus. Dort ist der Etatismus als Methode des Wirtschaftens nicht nur deutlich ausgeprägter, hier ist der Staat – und das ist wesentlich – selbst der einzige oder Haupteigentümer der Produktionsmittel.

Der Etatismus, hat zunächst eine „konjunkturelle“ Seite. Für das Gesamtinteresse der (nationalen) Bourgeoisie ist es in bestimmten Momenten vorteilhaft, dass der Staat stärker eingreift, etwa in Krisen oder Kriegen. So wird als Beispiel für Staatskapitalismus oft Deutschland angeführt, weil es während der beiden Weltkriege dort zu einem besonders strikten Eingreifen des Staates kam, um die wirtschaftlichen Kräfte für den Krieg zu bündeln und Widersprüche zwischen den Einzelkapitalen zu minimieren. Es kam aber selbst dann – anders als in den stalinistischen Ländern – nicht zu relevanten Verstaatlichungen, zur völligen Außerkraftsetzung der Konkurrenz oder gar zur Beschneidung der Profite, ja diese wuchsen sogar gewaltig an. Auch Lenin bezeichnete das kaiserliche Deutschland im 1. Weltkrieg fälschlich als staatskapitalistisch. Sind die Krisensituationen (kurzfristig) überwunden, wird der Etatismus meist wieder verringert, den „Kräften des Marktes“ wird wieder mehr Spielraum gegeben.

Neben dieser „konjunkturellen“ ist die „historische“ Seite des Etatismus weit bedeutsamer. Damit meinen wir den grundsätzlichen Trend zur Zunahme staatlicher Intervention im Kapitalismus. Der Grund dafür ist, dass der Kapitalismus eine Struktur aus konkurrierenden Privateigentümern und zugleich wachsender Vernetzung und Vergesellschaftung von Produktion und Konsumtion darstellt. Je mehr der Kapitalismus globale Dimensionen annimmt, desto mehr zeigt sich das Einzelkapital, und sei es noch so groß, außerstande, irgendeine Form von funktionierender Gesellschaftlichkeit herzustellen; die Widersprüche innerhalb des Kapitalismus nehmen zu. Nur der Staat als ideeller Gesamtkapitalist kann die Widersprüche einigermaßen im Zaum halten und das Funktionieren des Gesamtmechanismus sichern. Mit der Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise in jeder Hinsicht werden die Widersprüche aber schärfer und nur ein immer stärkerer Staat kann diese einerseits beherrschen, freilich nur, indem er sie andererseits auch zuspitzt, z.B. in Form von Kriegen.

Schon bei der Geburt des Kapitalismus als ökonomisches System stand der Staat Pate. Es war der englische Staat, der die Bauern zu land- und mittellosen Vagabunden machte und sie als Proletarier in die Lohnsklaverei zwang. Es war der spanische Staat, der Columbus und seine Nachfolger nach Gold und Silber über den Atlantik schickte. Und es war der britische Staat, der die Seeräuberei seiner Kapitäne offiziell anerkannte und förderte. Ohne spanische Staatspolitik hätte es keine Berge von neuem Kapital in Form von Gold und Silber gegeben, das nach Anlage drängte. Ohne den britischen Staat wäre nicht ein erheblicher Teil davon in die Tresore industrieller Investoren geflossen.

Man schaue sich die Zahl der Ministerien und der Staatsbeamten zu Zeiten von Marx und von heute an, und man sieht allein daran die Zunahme der Bedeutung des Staates. Der wuchernde Staat bzw. die Zunahme quasi-staatlicher Aufgaben und Strukturen in der Wirtschaft und damit auch die  Ausweitung des Sektors der lohnabhängigen Mittelschichten ist ein wesentliches Merkmal des Imperialismus.

Etatismus kann auch bedeuten, dass der Staat selbst Eigentümer von Unternehmen ist, meist betrifft das „öffentliche“ Dienstleistungsunternehmen wie Post, Bahn oder das Gesundheits- und Bildungswesen. Aber auch „produzierende“ Unternehmen können dem Staat gehören. Letzteres war aber meist nur unter besonderen Umständen der Fall, so z.B. in vielen ehemalige Kolonien, als sie unabhängig wurden, und Unternehmen, die vorher der Kolonialmacht gehörten, verstaatlicht haben. In Österreich, Ostdeutschland oder den osteuropäischen Ländern wurden nach 1945 Unternehmen vom Staat übernommen, die zuvor Eigentum von Nazis bzw. der faschistischen Besatzer waren.

Die verbreitete Verwechslung der Begriffe verwischt die Unterschiede zwischen Staatskapitalismus und Etatismus. Der entscheidende Unterschied ist die Eigentumsfrage: dominiert hier das Privateigentum, ist es dort das Staatseigentum. Beide Varianten des kapitalistischen System aber beruhen darauf, dass die ProduzentInnen und KonsumentInnen, also v.a. das Proletariat, enteignet ist, ausgebeutet und unterdrückt wird. Diese hauptsächliche Qualität kennzeichnet auch den Stalinismus und charakterisiert ihn als Klassengesellschaft mit einer Bürokratie als herrschender Klasse.

Entstehung des Staatskapitalismus

Es waren also immer besondere Umstände, welche die Verstaatlichung bestimmter Bereiche der Wirtschaft ermöglicht und motiviert haben. Eine generelle Enteignung des Kapitals zugunsten des Staates erfolgte meist nicht – aus drei Gründen: erstens würde jede Bourgeoisie sich ihrer Enteignung vehement widersetzen, zweitens wäre der Staat als Agentur ebendieser Bourgeoisie weder bereit noch wirklich imstande, eine generelle Enteignung ihrer „Auftraggeber“ vorzunehmen. Drittens herrschte die durchaus richtige Annahme vor, dass Kapitalismus ohne Privateigentum, also ohne Konkurrenz und privates Gewinninteresse seiner wichtigsten Triebkräfte verlustig gehen würde.

Es gab allerdings eine Ausnahme: als das Kapital 1917 in Russland oder nach 1945 in Osteuropa (nicht sofort, aber letztlich doch) komplett enteignet wurde. Aber in Sowjet-Russland war die Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse bzw. ihren Sowjetstaat enteignet worden und nicht durch einen bürgerlichen Staat. In Osteuropa erfolgten die Enteignungen tw. auch zuerst durch die ArbeiterInnen selbst, die zerstörte oder „herrenlose“ Unternehmen unter ihre Regie nahmen. Oft – und ab Ende der 1940er generell – wurde diese Aufgabe jedoch vom der Staatsapparat der UdSSR in Gestalt der Sowjetarmee bzw. der von ihm etablierten einheimischen stalinistischen Staatsapparate durchgeführt. Mitunter – v.a. in Ostdeutschland – gehörten viele Betriebe direkt der UdSSR und waren in deren Wirtschaftsplanung eingebunden. Das war freilich auch eine Enteignung der (einheimischen) Arbeiterklasse der „besonderen Art“. Wo es Betriebe gab, die durch die Belegschaft selbst verwaltet wurden, wie z.B. relativ verbreitet in der Tschechoslowakei nach 1945, wurden diese Strukturen von den Stalinisten sehr bald abgeschafft und durch eine bürokratisch-zentralistische Verwaltung ersetzt. Eine ähnliche Entwicklung gab es in Ostdeutschland. Diese Verstaatlichung bedeutete ganz konkret, dass die reale Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel den Belegschaften entrissen wurde: sie wurden, kaum dass sei Eigentümer de facto geworden waren, vom Staat wieder enteignet. Diese Entwicklungen in den stalinistischen Ländern zeigen, dass die Enteignung des privaten Kapitals letztlich überall in der Form Verstaatlichung erfolgte, nicht aber als wirkliche Vergesellschaftung.

Der Unterschied zwischen beiden Formen der Überwindung des Privateigentums – Verstaatlichung oder Vergesellschaftung – besteht aber nicht etwa darin, dass oder ob „der Staat“ an sich dabei eine Rolle spielt. Vielmehr ist entscheidend, dass bei der Verstaatlichung a) das Proletariat bzw. die Gesellschaft von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind und diese gänzlich dem Staat obliegen und dass b) dieser Staat nicht im Kern eine Räte- oder Selbstverwaltungsstruktur aufweist, sondern ein bürokratischer Apparat bürgerlichen Typs ist.

Anders verlief die Entwicklung in Russland. Schon während und kurz nach der Revolution von 1917 erkämpfte sich die Arbeiterklasse Kontroll- und Mitspracherechte in den Betrieben. Aus diesen Strukturen erwuchsen in vielerorts schnell kollektive Leitungsorgane, mit denen die ArbeiterInnen ihr Unternehmen direkt verwalteten; die ArbeiterInnen waren direkt EigentümerInnen der Produktionsmittel. Es gab jedoch noch keine oder nur sehr rudimentäre Elemente einer gesellschaftlichen Planung. D.h. das Eigentum war noch nicht wirklich vergesellschaftet, dazu hätte es einer demokratischen Planung der Wirtschaft durch die gesamte Klasse bzw. ihre Organe bedurft. Diese gab es jedoch nur in Ansätzen oder in Form zentraler Organe, die nur wenig oder (noch) nicht Teil eines funktionierenden Rätemechanismus waren. Der von Lenin und den Bolschewiki von Beginn an praktizierte Überzentralismus, der allerdings unter den konkreten Bedingungen z.T. unvermeidbar war, verhinderte das auch von vornherein. Das wesentlichere Problem bestand aber darin, dass – auch nachdem sich die objektiven Bedingungen mit dem Sieg im Bürgerkrieg und der Einführung der NÖP (Neue ökonomische Politik) ab 1920/21 verbessert hatten – daran nichts geändert wurde.

Aufgrund der immensen Probleme des jungen Sowjetstaates, v.a. durch den Bürgerkrieg, wurde die proletarische Selbstverwaltung der Betriebe immer stärker durch zentrale staatliche Administration von „oben“ eingeschränkt. So wurden vom Staat Betriebsleiter eingesetzt. Sie hatten die Entscheidungsgewalt, jedoch waren sie anfangs noch in einem gewissen Umfang auch von der betrieblichen Basis abhängig und von ihr beeinflussbar. Diese Abhängigkeit wurde im Lauf der Jahre jedoch immer weiter zurück gedrängt.

Die Phase des „Kriegskommunismus“ wurde nach dem Sieg im Bürgerkrieg im Frühjahr 1920 durch die NÖP abgelöst. Diese weitete die Möglichkeiten des privaten Handels und der privaten Kleinproduktion aus und beendete die Requirierung von Getreide. Die vorher desolate Wirtschafts- und Versorgungslage besserte sich, an der bürokratischen Verwaltung der Industrie und der Einschränkung der demokratischen Rechte der ArbeiterInnen bei der Verwaltung der Betriebe änderte sich jedoch nichts. Im Gegenteil: innerhalb nur weniger Jahre wurde der Einfluss des Staates immer größer und jener der Arbeiterklasse immer kleiner. Das betraf nicht nur die betriebliche Ebene, sondern auch die Ebene des Staatsapparats, auf den die Klasse immer weniger einwirken konnte. Er trug immer stärkere Züge eines bürgerlich-bürokratischen Apparats und wies immer weniger Merkmale eines Rätesystems auf. Diese Bürokratisierung wurde noch dadurch gefördert, dass die Partei selbst bürokratisiert wurde, der Einfluss von ArbeiterInnen immer mehr zurückging (sowohl quantitativ, als auch, was deren Wirkungsmöglichkeiten anbetraf) und sich auch die politische Doktrin der Partei grundsätzlich veränderte.

Insbesondere die Einführung und Ausweitung der allgemeinen Wirtschaftsplanung ab 1928 erfolgte nur von oben durch die Bürokratie, insbesondere das Politbüro; die betriebliche Basis, aber auch demokratisch legitimierte Organe der Arbeiterklasse waren davon weitestgehend ausgeschlossen. Die richtige Einsicht, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte durch ein Planungssystem miteinander verbunden werden müssen, führte fast automatisch zu der Ansicht, dass diese nur von oben vorgenommen werden könne.

Obwohl diese Fehlentwicklungen – zu recht – auch Stalin persönlich und der Bürokratie angelastet und mit dem von ihnen etablierten System verbunden werden, würde es viel zu kurz greifen, sie darauf zu beschränken. Vielmehr müssen wir konstatieren, dass eben schon die Bolschewiki und Lenin in Theorie und Praxis jene Konzepte und Strukturen in erheblichem Maße etablierten, die Stalin dann nur noch ausweiten musste: Überzentralisierung, Eliminierung jeder „Opposition“, Ausschaltung des Rechtssystems usw. Es ist kein Zufall, dass Lenin sehr oft betonte, dass die UdSSR eine Phase des Staatskapitalismus durchlaufen müsse. Zwar sollte der Staatsapparat nach Lenins Intention in Form und Funktion natürlich ein Arbeiterstaat sein und kein bürgerlicher (was er in der Praxis dann aber auch kaum war), dass aber ein staatlicher Apparat von oben die Wirtschaft lenkt, war für Lenin durchaus selbstverständlich. Eine kritische Lektüre von „Staat und Revolution“ in dieser Hinsicht – die leider fast nie erfolgt – würde genau das auch zeigen.

Die Entwicklung Sowjetrusslands führte bis Ende der 1920er dazu, dass die Betriebe nicht mehr im Privatbesitz waren, aber eben auch nicht mehr den ArbeiterInnen gehörten und von ihnen verwaltet wurden, sondern von der Staatsbürokratie. Mit der Zwangskollektivierung ab 1929 wurde der letzte – sehr große – Bereich privaten Eigentums enteignet. Was dabei entstand, waren jedoch nicht Genossenschaften im eigentlichen Sinn, sondern Staatsbetriebe mit einigen „quasi-genossenschaftlichen“ Elementen. Die Bauern waren kein GenossenschafterInnen, sondern „besondere“ Lohnabhängige des Staates. Auch diese Tatsache wird von den meisten MarxistInnen nicht zur Kenntnis genommen. Nach der Oktoberrevolution 1917 war der Staat anfangs noch – trotz gewisser Deformationen schon von Beginn an – in starkem Maße ein proletarischer Räte-Staat. Doch schon Ende der 1920er hatte er sich weitgehend vom Einfluss der Arbeiterklasse abgekoppelt und war ein Instrument der Bürokratie geworden – ein in Form und Funktion bürgerlicher Staat besonderen Typs.

Die wesentlichen Gründe dafür, dass in der UdSSR innerhalb weniger Jahre der Arbeiterstaat und eine „im Werden begriffene proletarische Ökonomie“ in ein staatskapitalistisches System verwandelt werden konnten, war erstens die Schwäche und die Erosion der Arbeiterklasse und besonders ihrer Vorhut während der Jahre des Bürgerkriegs und des Hungers. Zweitens stand die Umgestaltung der Gesellschaft – sowohl der politisch-staatlichen Ebene als auch der Ökonomie – erst ganz am Anfang. Umfang und Tiefe der erreichten Veränderungen waren in den meisten Bereichen noch so gering, dass es Stalin und der Bürokratie nicht schwer fiel, diese kommunistischen Ansätze auszumerzen und das bürokratische System überall durchzusetzen. Ohne Frage: Wären die Positionen des Proletariats stärker gewesen, hätte es die ihm angemessenen Formen von Räte-Demokratie, Selbstverwaltung und Genossenschaftswesen stärker etablieren können, wäre es der Bürokratie wohl kaum möglich gewesen, sich so leicht oder überhaupt durchzusetzen.

Die Bürokratie war weder interessiert noch in der Lage, die der Bourgeoisie in der Revolution entrissenen Produktionsmittel als neue Privateigentümer zu übernehmen. Was sie aber wollte und auch konnte: die Verwaltung der Wirtschaft komplett zu bestimmen und die Arbeiterklasse von den Schalthebeln der Macht zu verdrängen. Das Ergebnis war in einer entscheidenden Hinsicht jedoch dasselbe wie bei der Privatisierung – die Arbeiterklasse war eine macht- und eigentumslose, unterdrückte und ausgebeutete Klasse von LohnarbeiterInnen.

Dass die Bürokratie letztlich obsiegte, war aber nicht nur – und vielleicht noch nicht einmal wesentlich – Ausdruck und Folge der objektiven Situation. Schließlich war auch die Oktoberrevolution nur möglich, weil es einen subjektiven Faktor in Gestalt einer revolutionären Partei und eines aktivistischen, revolutionär gesonnenen und nicht reformistisch „verdorbenen“ Proletariats gab. In den dramatischen Jahren nach 1917, als die Weichenstellungen für die weitere Entwicklung der UdSSR erfolgten, gab es diesen Faktor leider nicht mehr bzw. er war zu schwach, agierte zu spät und zu zögerlich und verfügte weder über die analytische Kraft, die Entwicklungstendenzen zu begreifen, noch gab es einen geeigneten Plan für die Zukunft. Am konsequentesten waren dabei (neben den AnarchistInnen, die als erste und am grundsätzlichsten auf die Probleme hinwiesen) noch Trotzki und die „Linke Opposition“. Doch auch Trotzki fehlte die letzte konzeptionelle „Tiefe“ – zu stark war er (wie auch Lenin) von den Vorstellungen der II. Internationale geprägt.

Die Übergangsgesellschaft

Der Charakter der Produktionsweise in der Übergangsgesellschaft ist grundsätzlich davon geprägt, dass verschiedene – proletarische, bürgerliche und tw. vorbürgerliche – Elemente neben- und gegeneinander existieren. Nicht eine bestimmte ökonomische Struktur sorgt a priori dafür, dass die Entwicklung der Übergangsgesellschaft in eine bestimmte Richtung geht, sondern nur die politische Herrschaft des Proletariats. Eine Entwicklung Richtung Kommunismus ist nur möglich, wenn das Proletariat die wirtschaftlichen und sozialen Abläufe bestimmt. Dieses „Herrschen“ erfolgt auch – aber eben nicht nur (!) – mittels staatlicher Strukturen. Wenn diese aber nicht mehr dem Einfluss der Arbeiterklasse unterliegen, dann ist der Staat kein proletarischer mehr. Ein der Form nach „bürgerlicher“ Staat kann aber nicht – selbst wenn er wollte – eine „sozialistische“ Wirtschaftsentwicklung bewirken. Solange das Proletariat auf den Staat, auch wenn dieser nicht eine voll ausgeprägte Rätestruktur aufweist, wesentlichen Einfluss ausübt, kann von einer Diktatur des Proletariats, von einem Arbeiterstaat gesprochen werden. Ist dieser Einfluss jedoch – wie unter Stalin – eliminiert, ist dieses entscheidende Merkmal nicht mehr gegeben. Auch die Produktionsverhältnisse können dann nicht von der Arbeiterklasse geprägt und in ihrem Sinne weiter entwickelt werden.

Die tw. beeindruckenden Wirtschaftserfolge unter Stalin waren keine „an sich“ sozialistischen Maßnahmen, sondern ein nachholende kapitalistische Entwicklung, sie waren ein Fortschritt im Sinne einer Modernisierung, aber kein Schritt zum Kommunismus. Die Industrialisierung ist keine per se sozialistische, sie ist es nur dann, wenn sie damit verbunden ist, dass sich Strukturen herausbilden und verstärken, welche die typischen Kennzeichen der bürgerlichen Produktionsweise (Lohnarbeit, Warenproduktion, Entfremdung usw.) nicht mehr aufweisen.

Der Ökonom Charles Bettelheim schreibt dazu: „Sowohl die Form des Produktionsprozesses als auch die Form des Distributionsprozesses bezeugen, dass in den sowjetischen Betrieben kapitalistische Produktionsverhältnisse reproduziert werden. Wenn die Sowjetunion sozialistische Strukturen herausgebildet hat, dann nicht wegen der Transformation ihrer ökonomischen Basis, sondern – unmittelbar nach der Oktoberrevolution – aufgrund der Besonderheit einer politischen Macht, die den Kampf für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufnahm und die Arbeiter im Hinblick auf diese Veränderung vereinte. Als dieser Kampf aufgegeben wurde, vor allem als die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als »abgeschlossen« verkündet wurde, obwohl sie es nicht war, verlor die sowjetische Gesellschaftsformation ihren sozialistischen Charakter. Die Preisgabe des Kampfs machte offenbar, daß sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen eine Wende vollzogen hatte, die die Wiederherstellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zuließ und sicherte. Diese Einsicht wird durch eine Ideologie verstellt, die das Phantom einer »sozialistischen Produktionsweise« erfunden hat. Der Sozialismus ist keine Produktionsweise. Er ist der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. (Bettelheim identifiziert hier begrifflich fälschlich Sozialismus mit Übergangsgesellschaft, d.A.) Die Ideologie der »sozialistischen Produktionsweise«, die übrigens einen großen Teil der Arbeiterbewegung in der Welt korrumpiert, erfüllt eine offensichtlich apologetische Funktion. In der Sowjetunion fungiert sie als Rechtfertigung des bestehenden Zustands, als Theorie, die darauf abzielt, die Verstärkung des Staats und der Repression zu »begründen«. Sie negiert die Existenz eines Proletariats in der UdSSR. Damit negiert sie die Existenz des proletarischen Klassenkampfs und privilegiert die Belange jener, die über die Staatsmacht verfügen und die durch deren Vermittlung über die Produktionsmittel verfügen, d.h. sie privilegiert die Staatsbourgeoisie um die Erhaltung der Macht. Eine solche Ideologie erlaubt es, diejenigen als »Konterrevolutionäre« zu beschuldigen, die sich dieser Macht widersetzen, während es gerade diese Macht selber ist, die reaktionär ist.

 Der Staatskapitalismus, wie er in der UdSSR vorliegt, ist ein tief widersprüchliches Phänomen. Einerseits sichert er die Reproduktion des Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, andererseits erzeugt er eine permanente Krise sie artikuliert sich in der übermäßigen Ausbeutung der Bevölkerung und in der Unzufriedenheit all jener, die den Widerspruch zwischen der Sprache der Macht und der Realität wahrnehmen. Deshalb ist diese Macht notwendigerweise repressiv. Allein der Kampf zur Überwindung dieses Staats und der kapitalistischen Arbeitsteilung ist mit der Entwicklung der Demokratie für die Massen vereinbar. (Ch. Bettelheim: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft. S. 101f in: Bettelheim, Meszaros, Rossanda u.a.: Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1979)

Die UdSSR ab Ende der 1920er und später der Ostblock, China u.a. Länder waren (von Anfang an)  staatskapitalistisch, weil nur dort der Staat wirklich de facto und de jure Eigentümer der Produktionsmittel war. Die Gründe, warum wir die Etablierung des Staatskapitalismus in der UdSSR ab dem Ende der 1920er als vollzogen ansehen, sind folgende:

  • bis dahin waren fast alle proletarischen Errungenschaften wie Rätedemokratie, direkte Verwaltung der Betriebe usw. in der Praxis eliminiert;
  • fast jede Opposition und Demokratie in Gesellschaft, Staat und Partei war ausgelöscht worden bzw. wurde nun systematisch und massenhaft eliminiert (Terror, Schauprozesse); damit war der soziale Spielraum für die Entfaltung der Arbeiterklasse als Subjekt der Entwicklung drastisch eingeschränkt;
  • mit dem ersten 5-Jahr-Plan 1928 war die bürokratische staatlich-zentralistische Wirtschaftslenkung endgültig durchgesetzt, die stalinsche Industrialisierung etablierte strukturell die typisch bürokratische Wirtschaftsweise (Tonnenideologie, Voluntarismus usw., Planung von oben);
  • mit der Zwangskollektivierung ab 1929 (die eigentlich eine Verstaatlichung und eben keine Kollektivierung war) wurde der letzte nicht-staatliche Wirtschaftsbereich beseitigt; zugleich brach erneut eine Hungerkrise aus und enorme (agrarische) Produktivkräfte wurden vernichtet, was wiederum den Einfluss der Bürokratie stärkte;
  • die Aufhebung der NÖP beendete jede Möglichkeit, bestimmte wirtschaftliche Faktoren und  Mechanismen „variabel“ zu nutzen, blockierte die Entwicklung bestimmter Bereiche und festigte den bürokratischen Zugriff auf die Wirtschaft.

Diese quantitativen Veränderungen führten Ende der 1920er in der Summe letztlich zu einer neuen gesellschaftlichen Qualität. Der massenhafte Terror, der Personenkult usw. der 1930er Jahre waren dann Maßnahmen Stalins, um seine Macht und das staatskapitalistische System zu sichern. Insbesondere dienten sie dazu, jede Alternative, jeden Widerstand seitens des Proletariats zu unterbinden und die Einheit der Bürokratie als Klasse unter Stalin als Führer zu zementieren.

Trotzkis Theorie

Leo Trotzki hat die gründlichste Analyse der Verhältnisse in der UdSSR vorgelegt. Er sah die UdSSR als bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat an, d.h .als eine nicht-kapitalistische Gesellschaft. Doch seine Analyse ist – trotz sehr vieler richtiger Elemente und Schlussfolgerungen – insofern unmarxistisch, als sie nicht die Eigentumsfrage ins Zentrum stellt und glaubt, dass einige strukturelle Besonderheiten wie das Staatseigentum, die Zentralplanung, das Fehlen von Privateigentum oder das Außenhandelsmonopol hinreichen würden, um von einer nach-kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft sprechen zu können. Dagegen werden der fast vollständige Ausschluss der ProduzentInnen und KonsumentInnen von den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, das Weiterbestehen von Warenproduktion, Lohnarbeit, der alten Arbeitsteilung und der Aneignung des Mehrprodukts und die Verfügung darüber durch eine herrschende Minderheit, die Bürokratie, nur als „Entartungen“ oder als noch nicht überwundene Entwicklungsstufe der Übergangsgesellschaft angesehen, nicht jedoch als wesentliche qualitative Elemente der sozialen Struktur.

Zweifellos ist die Übergangsgesellschaft von widerstreitenden Strukturen geprägt. Die entscheidende Frage, in welche Richtung sich die Übergangsgesellschaft entwickelt, stellt sich auch Trotzki. Er formuliert ein klare Alternative: entweder die Herrschaft der Bürokratie führt zur Restauration des (Privat)Kapitalismus, indem ein Teil der Bürokratie zu individuellen Besitzern von Produktionsmitteln wird, oder aber das Proletariat stürzt die Bürokratie und rekonstruiert seine Rätemacht.

Doch für Trotzki ist eben nicht schon die Machtergreifung der Bürokratie und die Verdrängung der Arbeiterklasse von der Macht das entscheidende Faktum zur Bestimmung des Klassencharakters  der Gesellschaft, sondern einige – vermeintlich – nach-kapitalistische Strukturen in der Wirtschaft. Die Bürokratie wird dabei von Trotzki korrekt als bürgerliche, konterrevolutionäre Agentur gesehen. Er spricht ihr aber trotzdem eine widersprüchliche, doppelte Rolle zu: einerseits schadet sie den revolutionären Errungenschaften durch bürokratische Ineffektivität und die „Knebelung“ des Proletariats, anderseits nützt sie diesen „Errungenschaften“, indem sie diese gegen eine „Reprivatisierung“ (woher diese ab den 1920ern auch hätte kommen sollen) verteidigt, ausweitet (Zwangskollektivierung, Industrialisierung) und vertieft (Planwirtschaft).

Natürlich hat auch der Stalinismus auf seine Art die Produktivkräfte weiterentwickelt, wenn auch in geringerem Maße als der Privat-Kapitalismus, letztlich ist er ja deshalb auch gescheitert. Doch dabei hat er den subjektiven Faktor, das revolutionäre Proletariat, ruiniert und die Ausprägung von spezifisch kommunistischen Elementen in der Gesellschaft blockiert. Trotzki ignoriert die entscheidende Frage der Entmachtung des Proletariats zugunsten einiger Errungenschaften, er stellt damit die momentane Situation gewissermaßen über die historische Tendenz. So wie die Machtergreifung der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution den Beginn der bürgerlichen Ordnung markiert und nicht das gegebene Ausmaß der bürgerlichen Produktionsweise, so markiert die Machtergreifung des Proletariats den Beginn des Arbeiterstaates – nicht das Vorhandensein dieser oder jener nicht-kapitalistischer Sektoren der Ökonomie. Die Verdrängung des Proletariats von der Staatsmacht durch die Bürokratie – was auch Trotzki betont – markiert damit notgedrungen das Ende dieser Ordnung. Sicher kann es dabei eine Übergangsphase geben, in der das Proletariat bzw. die revolutionären Kräfte mit der Bürokratie ringen (in Russland waren das die 1920er Jahre), doch dieser Kampf dauert weder ewig, noch kann es auf Dauer eine Art Patt in der Form geben, dass quasi eine eigene Produktionsweise – Trotzkis „degenerierter Arbeiterstaat“ – kreiert wird. Genau das ist aber der Kern der Vorstellung Trotzkis: die Ökonomie ist wesentlich nachkapitalistisch, der Staatsapparat ist in seiner Form bürgerlich, aber in seiner Funktion, dem „Schutz“ des Staatseigentums, proletarisch. Ein an sich schon etwas bizarrer Gedanke, dessen Grundfehler darin liegt, dass er der Ökonomie partiell eine „sozialistische“ Qualität zuschreibt, die sie überhaupt nicht hatte und aufgrund der Herrschaft der Bürokratie auch nie haben konnte.

Trotzkis betont, dass der bürokratische Staatsapparat kein Rätestaat ist und in Form und Struktur eher einem bürgerlichen, ja sogar einem faschistischen Staatsapparat gleicht. Daher macht Trotzki den Klassencharakter der UdSSR wesentlich auch an der angeblich nicht-kapitalistischen Qualität seiner ökonomischen Basis fest und nicht oder weniger an der Frage, welche Klasse herrscht. Nach Trotzkis Kriterium wäre dann aber sogar die junge Sowjet-Republik unmittelbar nach der Oktoberrevolution kein Arbeiterstaat bzw. keine Diktatur des Proletariats gewesen, weil das Gros der Ökonomie hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse und der makroökonomischen Strukturen noch weitgehend bürgerlich bzw. sogar halb-asiatisch war. Jedoch ist das entscheidende Merkmal der Übergangsgesellschaft eben nicht eine besondere ökonomische Struktur, sondern die Tatsache, dass das Proletariat die politische Macht inne hat (was nicht identisch ist mit der Herrschaft einer Partei).

Im Unterschied zur bürgerlichen Revolution kann das Proletariat nicht in großem Maße auf schon in der bürgerlichen Gesellschaft etablierte Elemente einer proletarischen Ökonomie zurückgreifen, sondern muss diese erst etablieren. Da die Machtergreifung der Bürokratie mit der Verdrängung der Arbeiterklasse – dem einzigen Faktor, der die Entwicklung zum Kommunismus voran treiben kann – von der Macht verbunden war, war das also der qualitative Umschlag in der Gesellschaft.

Nach Trotzkis Logik hätte dann erst Stalin mit der Zwangskollektivierung, der Beendigung der NÖP und der Etablierung der Planung den Arbeiterstaat resp. eine proletarische Ökonomie geschaffen. Das sagt Trotzki natürlich so nicht, aber er meint durchaus, dass Stalin mit seinen Maßnahmen objektiv die „sozialistischen Grundlagen“ der UdSSR festigen würde, obwohl er sie durch die bürokratische Herrschaft gleichzeitig auch unterminiere. Dieser Balance-Akt ist in Trotzkis Denken möglich, nicht aber in der Realität.

Wenn lt. Trotzki der „sozialistische“ Charakter der Wirtschaft v.a. durch den Staat und seine Maßnahmen bestimmt würde, dann hieße das nichts anderes, als dass ein bürgerlicher Staat eine sozialistische Wirtschaft aufbauen könne. Selbst wenn dem so wäre, müsste sich im Laufe der Entwicklung zeigen, dass die typischen Merkmale einer bürgerlichen Ökonomie (Warenproduktion, Lohnarbeit, Entfremdung, Arbeitsteilung usw.) immer schwächer werden oder ganz verschwinden. Davon konnte aber keine Rede sein, was deutlich darauf verweist, dass die Rolle der Bürokratie eben nicht (auch) die Verteidigung und der Ausbau der „sozialistischen“ Basis war, sondern nur deren Zerstörung. Was die Bürokratie verteidigt hat, war ihr Staatskapitalismus – gegen jeden Angriff darauf durch das Proletariat wie auch anderseits durch den Privatkapitalismus. So erklärt sich die konterrevolutionäre stalinsche Außenpolitik (Volksfront) wie auch der Kampf zwischen den Systemen Ost und West. Trotzki analysiert und kritisiert die Politik Stalins sehr konsequent, doch er weigert sich, zuzugeben, dass diese Politik eine notwendige Folge der Tatsache ist, dass die UdSSR unter Stalin eben kein Arbeiterstaat mehr war, sondern Staatskapitalismus. Diese Inkonsequenz Trotzkis hatte tw. verhängnisvolle politische Fehler zur Folge und verzögerte oder blockierte die Neuformierung der revolutionären Kräfte der Arbeiterbewegung.

Methodische Brüche

Die methodischen Fehler hinsichtlich der Analyse der Ökonomie und speziell der Relation Staat-Ökonomie bei Trotzki (wie auch schon vorher bei Lenin) rühren aus dem falschen Verständnis dieses Verhältnisses und der falschen bzw. nicht vorhandenen Konzeption der Übergangsgesellschaft in der II. Internationale her. Die Vorstellungen von Lenin und Trotzki weichen in wichtigen Fragen auch deutlich von denen von Marx und Engels ab. So sahen Marx und Engels – im Unterschied zu Lenin – Russland als wesentlich asiatische Produktionsweise mit kapitalistischen und feudalen „Einsprengseln“ an. Marx und Engels gingen von einer auf genossenschaftlichen Strukturen beruhenden Ökonomie der Übergangsgesellschaft aus, Lenin und Trotzki von einer Staatswirtschaft. Die falsche Lösung der Eigentumsfrage – Staatseigentum statt Genossenschaftsstrukturen als Basis der Ökonomie – kann auch nicht dadurch „ausgeglichen“ werden, dass die Verwaltung der Wirtschaft weniger bürokratisch und stärker nach rätedemokratischen Prinzipien erfolgt. Die Verstaatlichung selbst ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Bürokratisierung zunimmt und die Arbeiterklasse enteignet und vom Subjekt der Entwicklung zu deren bloßem Objekt degradiert wird. Dieses Verhältnis umzukehren, ist aber gerade das Anliegen der Revolution und für den revolutionären Prozess entscheidend.

Im Grunde läuft Trotzkis Schlussfolgerung, dass die Bürokratie durch eine politische Revolution gestürzt werden muss, darauf hinaus, dass der Staat nach räte-demokratischen Prinzipien „renoviert“ wird, an der Tatsache der Enteignung der Produzenten an der betrieblichen Basis, am Fehlen von Genossenschaftsstrukturen usw., an den ökonomischen Grundstrukturen also, sollte jedoch nichts Wesentliches geändert werden, zumindest bleibt Trotzki hier immer äußerst vage. Auch, als er noch eine wichtige Rolle im Machtgefüge spielte, sprach er diese Frage nicht an. Nicht zufällig wandten sich Lenin, Trotzki und die Mehrheit der bolschewistischen Führung 1920 auch massiv gegen die innerparteiliche „Arbeiteropposition“, die u.a. die Frage der Genossenschaften und der Stellung der ArbeiterInnen im Betrieb thematisierte.

Trotzkis Argumentation betont, dass die ArbeiterInnen Staat und Ökonomie stärker und direkter kontrollieren müssen, eine zweifellos richtige Forderung. Doch die Frage der Kontrolle ist nur eine Sache – und durchaus nicht die entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, was kontrolliert wird. Kontrolliere ich z.B. den Staat, der die Wirtschaftsplanung vornimmt, oder kontrolliere ich die Wirtschaft direkt, ohne dass ein separater Staat wesentlich dazwischen tritt? Kontrolliere ich die Betriebe nur von „oben“ oder v.a. von „unten“? Organisiere ich – ob demokratisch oder bürokratisch – Lohnarbeit oder nicht? Aufhebung der Lohnarbeit aber ist in der Übergangsgesellschaft unmöglich ohne genossenschaftliche Strukturen.

Wie in der Frage des Staates bedeutet für Marx und Engels „Aufhebung“ nicht nur Zerstörung, also Negation, sondern auch Ersetzung des alten Staates durch eine ganz bestimmte andere Struktur, also auch Negation der Negation. Genauso meint Abschaffung des Privateigentums nicht nur dessen Zerstörung, sondern dessen Ersetzung durch eine andere, qualitativ höhere Eigentumsform und nicht nur durch ein x-beliebige andere, etwa eine bürokratisch-staatliche.

Marx schreibt wiederholt, u.a. in den Randglossen zum „Gothaer Programm“, dass „die sachlichen Produktionsbedingungen (Marx spricht hier eben nicht nur von den Produktionsmitteln, d.A.) genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst“ sein sollen. Nirgends ist bei Marx davon die Rede, dass der Staat die Wirtschaft leiten soll. Nach Marx ist das Privateigentum (und damit die Enteignung der ProduzentInnen) ein Ausdruck der Arbeitsteilung. Die Teilung der Arbeit in befehlende Bürokraten (statt der früheren Kapitalisten) und ausführende ArbeiterInnen bedeutet damit Weiterbestehen einer Form von „Privateigentum“ und einer enteigneten und deshalb (!) unterdrückten und ausgebeuteten Masse. Diesen zentralen Ansatz von Marx missverstehen Trotzki wie auch Lenin. Bei Lenin etwa ist erst sehr spät, kurz vor seinem Tod, von der Bedeutung der Genossenschaften die Rede, vorher fast nie.

In „Staat und Revolution“ heißt es: „Wir sind daher auch nur berechtigt, von dem unvermeidlichen Absterben des Staates zu sprechen. Dabei betonen wir, daß dieser Prozeß von langer Dauer ist und vom Entwicklungstempo der HÖHEREN PHASE (Hervorhebungen im Original, d.A.) des Kommunismus abhängt (…)“. Damit sagt Lenin (und es gibt noch andere Belege dafür), dass der Staat erst im Kommunismus, d.h. nicht schon in der Übergangsgesellschaft abzusterben beginnt. An anderer Stelle von „Staat und Revolution“ schreibt er, dass es in Sowjetrussland um die „Umwandlung ALLER Bürger in Arbeiter und Angestellte EINES großen „Syndikats“, nämlich des ganzen Staates, und der völligen Unterordnung der gesamten Arbeit dieses ganzen Syndikats unter den wahrhaft demokratischen Staat, DEN STAAT DER SOWJETS DER ARBEITER- UND SOLDATENDEPUTIERTEN“ gehe. Bezeichnenderweise reduziert Lenin die Diktatur des Proletariats hier auch (und in der Tendenz immer) auf die Sowjets, als ob es keine anderen Organe und Mechanismen wie Genossenschaften, Selbstverwaltung, Gewerkschaften, Parteien usw. gebe und geben müsse. Für Lenin verschmelzen Staat und Partei tendenziell – eine absurde Vorstellung für jeden Marxisten, da der Staat doch absterben soll und die Partei diesen Prozess selbst wesentlich initiieren sollte. Nein, der Staat stirbt bei Lenin nicht, er ändert sich nur und feiert in veränderter Form und weit größerem Umfang als je zuvor eine Wiederauferstehung in der Übergangsgesellschaft, das Absterben wird in eine ferne Zukunft vertagt. Kein Wunder, dass es die Bolschewiki schafften, innerhalb weniger Jahre einen gigantischen Staatsapparat aufzubauen, der (die Armee nicht mitgerechnet) um ein Mehrfaches größer war als der zaristische. Was hier „abstarb“, war nicht der Saat, sondern der Marxismus!

Diese „Staatsgläubigkeit“ äußerte sich aber nicht nur theoretisch, sie zeigte sich sehr praktisch und schon von Anfang an darin, dass immer wieder Formen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation des Proletariats und der Massen unterdrückt und durch staatliche Gremien ersetzt wurden. In bestimmten Bereichen (z.B. Militär) war das notwendig, umso mehr in der Periode des Bürgerkriegs, doch auch danach änderte sich daran nichts – im Gegenteil: es verschlimmerte sich noch, oft bis zum Exzess.

Diese konzeptionellen Auffassungen Lenins stehen also in deutlichem Kontrast zu Marx und Engels. Lenins Staatsverständnis liegt auch den Positionen Trotzkis zugrunde; damit ist er in dieser Frage ein guter „Leninist“, aber kein Marxist.

Trotzki will den Staat – und damit die bürokratische Herrschaft – demokratisieren, der Staat soll (wieder) dem Proletariat gehorchen. Diese völlig richtige Intention vergisst aber, dass der Staat zugleich absterben muss; sie vergisst, dass nach Marx und Engels die sozialen Prozesse und auch die Wirtschaft eben gerade nicht (nur) durch einen Staat geleitet werden sollen, sondern auch und vor allem (!) durch das Proletariat direkt. Wäre das nicht so, würde ein Absterben des Staates bedeuten, dass die Wirtschaft  quasi „kopflos“ wäre. Genauso – und hier durchaus logisch – argumentierte die Bürokratie.

Ohne hier weiter ins Detail zu gehen (das bleibt anderen Arbeiten vorbehalten), zeigt sich, dass bei Lenin, Trotzki und den Bolschewiki die Auffassungen vom Verhältnis Staat – Wirtschaft (und in der Weiterung Staat – Gesellschaft) durchaus von jenen von Marx und Engels deutlich abwichen und die methodische Basis für die Fehler in ihrer Politik nach 1917 darstellten, die der Bürokratisierung unter Stalin (ungewollt) den Boden bereiteten.

Trotzki hat in seiner Analyse der UdSSR einmal den Satz geprägt, dass der Film des Reformismus nicht rückwärts ablaufen könne. Damit meinte er, dass eine Restauration des Privat-Kapitalismus (in Russland) nicht „friedlich“ d.h. ohne gewaltsame Konterrevolution erfolgen könnte. Auch hier hat sich Trotzki geirrt. Zum einen definiert er den Aufstieg der Bürokratie nur als „politische Konterrevolution“ (was sie auch war), nicht aber als tiefgreifenden sozialen Prozess, der zu wesentlichen strukturellen Veränderungen nicht nur im Überbau (Politik, Ideologie, Staat, Partei) führte, sondern auch den wirtschaftlichen Bereich „umwälzte“. Der Kern dieses Prozesses war die Verdrängung des Proletariats von allen Schaltstellen in Wirtschaft und Gesellschaft, d.h. die umfängliche Enteignung und Entmachtung der ProduzentInnen und KonsumentInnen.

Die seit den 1970ern sich vollziehenden marktwirtschaftlichen Reformen in China, d.h. die Ausweitung von Bereichen des privatwirtschaftlichen Kapitalismus, haben dazu geführt, dass China heute eine Mischung aus Staats- und Privatkapitalismus darstellt (wobei die Marktelemente und das Privateigentum zunehmen) und politisch wie ökonomisch eine imperialistische Macht geworden ist. Diese Metamorphose hat sich völlig ohne soziale Konterrevolution, ohne Sturz oder Wechsel der Regierung und nur auf dem Wege von Reformen vollzogen. Der Film des Reformismus wurde tatsächlich rückwärts abgespielt. Das aber war so nur deshalb möglich, weil China bereits vorher kein „degenerierter Arbeiterstaat“ war, sondern ein staatskapitalistisches System.

Der Unterschied zur UdSSR und Osteuropa bestand wesentlich darin, dass die Bürokratie in China nicht entmachtet wurde bzw. sich nicht spaltete. In Osteuropa und der UdSSR wurde ein (kleinerer) Teil zu einer neuen Klasse kapitalistischer Privateigentümer, ein anderer verblieb im politisch-staatlichen Bereich und mehr oder weniger große Teile wurden aufs „Altenteil“ abgeschoben. Diese Spaltung der Bürokratie hatte allerdings auch schon Trotzki richtig prognostiziert. In China gelang es der Bürokratie aber, die Macht zu behalten und den Transformationsprozess vom Staats- zum Privatkapitalismus zu kontrollieren und die erheblichen Spannungen, die dabei auftreten – bis jetzt – zu beherrschen.

Doch auch in Osteuropa verwies die Art und Weise des Übergangs zum Privatkapitalismus darauf, dass es sich bereits vorher nicht um irgendeine „degenerierte“ Form von Arbeiterstaat gehandelt hat. Fast nirgends gab es Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Privatisierung und wenn, dann meist nur gegen deren soziale Auswirkungen (Entlassungen, Schließungen), fast nie gegen die Privatisierung selbst. Der Grund für diese Passivität der ArbeiterInnen bei der Verteidigung „ihres“ Eigentums war ein ganz einfacher: Sie konnten nicht verlieren, was ihnen nie gehört hat.

Der Staatskapitalismus war seinem Wesen nach unfähig, über eine sehr lange historische Periode hinweg zu existieren und dem Privatkapitalismus Paroli zu bieten, geschweige denn wurde er, was zeitweilig nicht wenige Ökonomen annahmen, zur „normalen“ modernen Existenzform des Kapitalismus. Er war ein Sonderweg, eine Sackgasse. Er war der missgestaltete Bastard einer erdrosselten sozialistischen Revolution.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert