Leo Trotzki wurde 1879 in der Ukraine geboren. Eigentlich hieß er Lew Bronstein, aber wie viele russische RevolutionärInnen benutzte er ein Pseudonym. Seine jüdischen Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof. Schon früh lernte er die Armut und Unterdrückung der Landbevölkerung sowie die Benachteiligung der Juden kennen. Bereits als 18jähriger Student wirkte er in geheimen revolutionären Zirkeln mit. Von da an verlief sein Leben wie ein Heldenepos. Trotzkis Leben und Schaffen war mit den großen und dramatischen Begebenheiten der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verbunden.
Wegen seiner illegalen politischen Arbeit wurde er 1899 nach Sibirien verbannt. Schon damals bekannte er sich zu Lenins revolutionärem Netzwerk „Iskra“ (Der Funke). Nach einer dramatischen Flucht aus der Verbannung entkam er 1902 nach Westeuropa. Als sich 1903 die russische Sozialdemokratie in zwei Fraktionen, spaltete, schloss er sich nicht Lenins Bolschewiki (Mehrheitler) an, sondern den Menschewiki, denen er bis 1904 angehörte. Danach führte er die „Meschrayonzi“ (Mittelgruppe) an, weil er einerseits die Inkonsequenz der Menschewiki ablehnte, aber auch zentrale Ideen Lenins bezüglich des Charakters der kommenden Revolution und der Parteikonzeption nicht teilte.
Bereits damals sagte Trotzki voraus, dass nicht das liberale Bürgertum, sondern die ArbeiterInnen die Revolution gegen den Zaren anführen würden. Er vertrat zudem die Auffassung, dass die Revolution nicht nur eine bürgerlich-demokratische, sondern eine sozialistische sein würde. Damit unterschied er sich von allen anderen russischen RevolutionärInnen.
Die Revolution von 1905 bestätigte Trotzkis Auffassungen: die russische Arbeiterklasse war als selbstständige Kraft auf die Bühne der Geschichte getreten und sie, nicht das Bürgertum, prägte die Revolution. Der 25jährige Trotzki wurde zum Vorsitzenden des Arbeiterrats (Sowjet) der Hauptstadt St. Petersburg gewählt. Kurz darauf wurde er wieder verhaftet, entkam jedoch erneut. Bis 1917 lebte er im Exil und war in den Arbeiterbewegungen Österreichs, des Balkans, Frankreichs und der USA aktiv, wo er v.a. gegen den imperialistischen Krieg agitierte. Gemeinsam mit Lenin u.a. SozialistInnen war er an der Formierung eines linken, internationalistischen Flügels in der Arbeiterbewegung beteiligt, die eine „Vorstufe“ zur späteren Kommunistischen Internationale (Komintern) war.
1906 entwickelte er, bezugnehmend auf Parvus und Marx, seine Theorie der „Permanenten Revolution“. Sie besagt im Kern, dass (auch) die bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution (nationale Befreiung, Landreform, demokratische Reformen usw.) nur vom Proletariat umgesetzt werden können, dass es die Führung übernehmen und den Kapitalismus stürzen müsse. Die Revolution wäre nicht mehr auf eine bürgerlich-demokratische Phase begrenzt, sondern würde in ein sozialistische übergehen. Diesen Prozess sah er als international an und als Voraussetzung, um den Kommunismus erreichen zu können.
Im Februar 1917 brach in Russland erneut eine Revolution aus, die den Zaren stürzte und eine Phase der Doppelmacht zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten einerseits und der bürgerlichen Provisorischen Regierung, die aus den bürgerlichen Kadetten und zwei reformistischen Arbeiterparteien, den Menschewiki und den Sozialrevolutionären, bestand. Während die Regierung den revolutionären Prozess bremste, drängten die Sowjets auf deren Weiterführung. Im Sommer 1917 kehrte Trotzki nach Russland zurück. Obwohl er mit ihm heftig polemisiert hatte, schloss er sich mit seinen Anhängern im Sommer Lenins Bolschewiki an, weil nur sie eine konsequent revolutionäre Politik verfolgten. Seitdem war er neben Lenin der wichtigste und populärste Führer der Partei und der Revolution – bis zum Aufstieg Stalins.
Wie schon 1905 wurde er im September 1917 erneut an die Spitze des Sowjets von St. Petersburg, das nun Petrograd hieß, gewählt. Trotzki bereitete maßgeblich den Oktoberumsturz vor und leitete ihn. Danach wurde er Kommissar für Auswärtiges und führte die Sowjetdelegation bei den Friedensverhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk. Als der Bürgerkrieg ausbrach, formierte und kommandierte er die Rote Armee und führte sie zum Sieg gegen die Konterrevolution. 1919/20 befahl er die unnötige und verbrecherische Liquidierung der „Machnowtschina“, der anarchistischen Räteordnung in der Ukraine unter der Führung Nestor Machnos. Im März 1920 schlug die Rote Armee unter seinem Oberbefehl auch den Aufstand in Kronstadt nieder, nachdem die Bolschewiki es versäumt hatten, die überwiegend berechtigten Forderungen der Kronstädter und des Proletariats zu berücksichtigen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. In den 1920er Jahren hatte er verschiedene wichtige Posten inne, u.a. leitete er die Reorganisation des zerstörten Eisenbahnwesens.
Krieg und Bürgerkrieg, die Hungersnot, die am Boden liegende Wirtschaft und die Rückständigkeit waren eine sehr schwere Hypothek für die junge Sowjetrepublik. Die kleine Arbeiterklasse war zermürbt, viele ihrer Besten waren gefallen. Zudem blieb Sowjetrussland durch das Scheitern aller revolutionären Anläufe in anderen Ländern isoliert und von Hilfsquellen abgeschnitten. Diese Situation erzwang oft rigorose und diktatorische Maßnahmen, um die Revolution, die oft am seidenen Faden hing, zu verteidigen. Die in der Revolution entstandenen Anfänge eines demokratischen Rätesystems der ArbeiterInnen, Soldaten und armen Bauern degenerierten und wurden zu einer leeren Hülle. All diese Umstände begünstigten den Aufstieg und den wachsenden Einfluss einer bürokratischen Schicht, die schon bald die ganze Gesellschaft kontrollierte. Ihr Führer wurde Stalin.
Bis Ende der 1920er Jahre etablierte er ein bürokratisches Terrorregime, das immer weniger mit dem zu tun hatte, was einst das Wesen und die Ziele der Revolution waren. Doch der Aufstieg der Bürokratie war nicht nur ein Bruch mit den revolutionären und internationalistischen Prinzipien des Bolschewismus von Lenin und Trotzki, er knüpfte auch an und verstärkte bestimmte Tendenzen und fehlerhafte Positionen in deren Politik, so z.B. die Überzentralisierung, die Installierung bzw. Nicht-Überwindung eines bürokratischen Staatsapparates neben und gegen die Räte-Demokratie sowie die Unterordnung der Klasse unter einen Partei-Staat.
Ab den 1930ern waren die letzten Reste der Räte-Demokratie und jede Opposition beseitigt und ein staatskapitalistisches System etabliert.
Die Bolschewiki insgesamt hatten zuvor die Gefahr der Degeneration der Revolution unzureichend oder zu spät erkannt. Nach Beendigung des Bürgerkriegs und der Gesundung der Wirtschaft verabsäumten sie es, die Elemente der Rätedemokratie wieder zu stärken und massiv gegen die Bürokratisierung vorzugehen.
Die dramatischen Warnungen vor diesen Fehlentwicklungen, die Lenin noch kurz vor seinem Tod an die Partei richtete, wurden von ihr und auch von Trotzki nicht ernst genug genommen. Schon bald, aber zu spät, wurde Trotzki und die von im geführte Linke Opposition jedoch zum konsequentesten Gegner Stalins und seiner Diktatur. Ab Mitte der 1920er versuchte Trotzki energisch, die ursprünglichen Ziele der Revolution zu verteidigen und auszuweiten, die Bürokratisierung zu bekämpfen und das Rätesystem wieder zu beleben, zugleich erarbeitete er eine Strategie für die internationale kommunistische Bewegung – es entwickelte sich jene politische Methode, die später „Trotzkismus“ genannt wurde.
Von der Stalin-Fraktion immer mehr an den Rand gedrängt und verleumdet, wurde Trotzki 1927 nach Alma Ata verbannt und 1929 aus der UdSSR ausgewiesen. Seitdem lernte er die „Welt ohne Visum“ kennen und musste immer wieder das Exilland wechseln. Zum Schluss lebte er in Mexiko, wo er 1940 von einem Agenten Stalins umgebracht wurde.
In all diesen Jahren war er unermüdlich tätig. Er analysierte die Entwicklungen in der UdSSR und fasste seine Position 1936 in „Die verratene Revolution“ zusammen. Darin entlarvt er den konterrevolutionären Charakter der Stalinschen Bürokratie und kennzeichnet die UdSSR als „degenerierten Arbeiterstaat“. Damit meinte er, dass das Land zwar eine politische Konterrevolution in Gestalt des Sieges der Stalin-Bürokratie erlitten habe, die das Proletariat entmachtet hat, aber die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution noch nicht zerstört wären. Obwohl Trotzki eine politische Revolution des Proletariats zum Sturz Stalins forderte, blieb seine Analyse andererseits inkonsequent, weil er nicht sah, dass das Proletariat von jeder Verfügung über die Produktionsmittel ausgeschlossen war und die Bürokratie eine staatskapitalistische Ordnung etabliert hatte. Trotzki folgerte aus einigen Abweichungen vom „normalen“ Kapitalismus, auf eine grundsätzlich nicht-kapitalistische Ordnung der UdSSR. Diese falsche Charakterisierung der stalinschen Sowjetunion führte dazu, dass der Aufbau einer politisch-organisatorischen Alternative zum Stalinismus zu spät erfolgte und Teile der revolutionären Linken abstieß.
Von großer Bedeutung sind Trotzkis Analysen und Kritiken der Innen- und Außenpolitik Stalins. Er zeigt, dass dessen Politik, z.B. die „Volksfront“, ungeeignet ist, um den Kapitalismus zu stürzen und der Arbeiterklasse, wie in Spanien oder China, nur blutige Niederlagen beschert.
Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Aufstieg des Faschismus. Er kritisierte nicht nur die Politik der inzwischen stalinisierten Komintern und der Sozialdemokratie, er zeigte auch einen Weg auf, wie der Faschismus effektiv bekämpft und mit dem Ziel der sozialistischen Revolution verbunden werden kann – seine Vorschläge wurden ignoriert.
Als das deutsche Proletariat 1933 von SPD und KPD in seine bitterste Niederlage geführt wurde, und die Komintern sich zu jeder Selbstkritik unfähig zeigte, ließ Trotzki seine Hoffnung auf eine Gesundung der Komintern fallen und orientierte sich auf den Neuaufbau einer revolutionären Internationale. Diese wurde schließlich 1938 als IV. Internationale gegründet. Ihr Programm, das „Übergangsprogramm“, beruhte auf der Erkenntnis, dass in der imperialistischen Epoche alle Arbeiterkämpfe mit dem Kampf um die Macht verbunden werden können und müssen – oder aber letztlich zum Scheitern verurteilt sind.
Unter „Übergangsmethode“ verstand Trotzki, am aktuellen Bewusstseinsstand der Klasse anzuknüpfen und Forderungen aufzustellen, um das Bewusstsein, die Kampf- und Organisationsformen des Proletariats auf ein revolutionäres Niveau zu heben und die Macht zu erobern. Dazu zählen z.B. die Forderungen nach Arbeiterkontrolle, nach Streikkomitees und Arbeitermilizen, nach Räten und einer revolutionären Arbeiterregierung. Mit dem Übergangsprogramm verarbeitet und systematisierte Trotzki die jahrzehntelangen Erfahrungen des revolutionären Klassenkampfes und v.a. die Lehren der Oktoberrevolution.
Diese politische Methode brachte Trotzki in schärfsten Konflikt mit allen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung, die, bewusst oder nicht, die Revolution zugunsten anderer, angeblich „praktikablerer“ Reform-Alternativen oder Kompromisse ablehnten, die jedoch alle ungeeignet waren, um den Kapitalismus zu überwinden und oft sogar, um auch nur Reformen zu erreichen.
Doch Stalinismus, Sozialdemokratie und Faschismus sowie die Serie blutiger Niederlagen und Misserfolge der Arbeiterbewegung erwiesen sich als Faktoren, die eine positivere Entwicklung der IV. Internationale blockierten. Sie wurde nicht die Kraft, welche die „historische Führungskrise des Weltproletariats“ lösen konnte. Nach Trotzkis Tod und dem Ende des II. Weltkriegs erwies sich die IV. nicht mehr in der Lage, eine korrekte Politik auszuarbeiten. Sie degenerierte, spaltete sich und existierte schon seit den 1950ern praktisch nicht mehr, obwohl mehrere Epigonen-Gruppen sich als noch heute als „die IV. Internationale“ ausgeben.
Letztlich ist der Trotzkismus – trotz vieler richtiger Analysen und bedeutender programmatischer Errungenschaften – auch daran gescheitert, dass er nicht in der Lage war, die grundlegenden politischen Mängel und Fehlentwicklungen schon der II. Internationale und daraus folgend auch teilweise Lenins und der Bolschewiki zu begreifen und zu überwinden.
Es gibt viele „heroische“ Punkte in Trotzkis Leben: die Exile, die Schlachten und Aufstände, die kühnen Reden gegen seine Verfolger, das Attentat – das ist der Stoff, aus dem Filme gemacht sind. Doch das Hauptverdienst Trotzkis ist es, den Gedanken zu verstehen und aufrechtzuerhalten, dass der Sozialismus nur von den ArbeiterInnen selbst aufgebaut werden kann – nicht von heldenhaften Individuen oder gar von bürokratischen Apparaten. Er verstand, dass die ArbeiterInnen in der Praxis lernen müssen, wie der Sozialismus aussehen wird – nicht nur aus Büchern und Zeitungen, sondern aus dem praktischen Kampf in ihren Betrieben, Wohnvierteln und Gewerkschaften.
Wie alle RevolutionärInnen war auch Trotzki nicht vor Fehlern gefeit. Doch seine Leistungen als Revolutionär, als Kämpfer gegen den Stalinismus und als marxistischer Theoretiker stellen ihn in die erste Reihe der KämpferInnen gegen den Kapitalismus und für den Fortschritt der Menschheit.