Hanns Graaf
3. Die II. Internationale zur ökonomischen Rolle des Staates
Bei nicht wenigen „MarxistInnen“ treffen wir die Meinung an, dass die Verstaatlichung im Kapitalismus ein „fortschrittlicher Akt“ wäre. Manche Linke glauben, dass es in sozialer oder ökologischer Hinsicht von Vorteil ist, wenn anstatt privater Kapitaleigner der Staat als Unternehmer auftritt bzw. in starkem Maße regulierend in das Wirtschaftsleben eingreift. Das mag von Fall zu Fall auch so sein, doch generell ist es sicher nicht so, wie die Erfahrungen mit staatskapitalistischen Sektoren oder Staaten zeigen.
Schauen wir uns exemplarisch an, was Marx und Engels dazu geschrieben haben. Engels stellt fest: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“ Und er fügt an: „Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung.“ (Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft)
Dieser Satz ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich soll er besagen, dass die Verstaatlichung einen Punkt darstellt, an dem als Lösung, als weitere Entwicklung nur noch die – „wirkliche“ – Vergesellschaftung durch die Übernahme des Eigentums in die Hände der ProduzentInnen sein kann. Ist das Proletariat an der Macht, kann es „per Dekret“ alles Kapital enteignen und das nunmehrige Staatseigentum in die direkte Verwaltung der „assoziierten“, „genossenschaftlich organisierten“ ProduzentInnen „übergeben“. Der „Staatsakt“ der Enteignung ist somit tatsächlich sein – wie Engels es ausdrückte – der „letzte selbständige Akt“.
Die II. Internationale hat zur Frage der Organisation der nach-kapitalistischen Wirtschaft relativ wenig beigesteuert. Das ist umso bemerkenswerter, als v.a. die deutsche Sozialdemokratie ja durchaus die Vorstellung hatte, dass man innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte auf der Basis der wachsenden Mitglieder- und Wählerzahlen an die Verwirklichung des Sozialismus gehen könne. Trotzdem unterließ man es aber, die damit verbundenen Fragen, z.B. die Frage des Staates, die Revolutionstheorie usw. konzeptionell konkreter zu beantworten. Allein hieran (und an den Programmen der SPD) zeigt sich, dass die II. Internationale insgesamt nie eine revolutionäre Kraft (und auch keine zentristische Formation) war, sondern eine reformistische – unter Einschluss zentristischer Teile, z.B. des Kautsky-“Flügels“, und einer sehr kleinen revolutionäre Minderheit (Luxemburg u.a.).
Der stetige Aufstieg der Sozialdemokratie und das Fehlen größerer Zuspitzungen im Klassenkampf in Westeuropa bis 1914 verhinderte lange, dass die reformistische, (links)bürgerliche Politik offenkundig wurde und ein Bruch mit dem zentristischen Flügel erfolgte. Doch der 1. Weltkrieg und die revolutionären Krisen ab 1917 führten dazu, dass die II. Internationale den Rubikon überschritt und sich politisch als rein imperialistische und konterrevolutionäre Kraft präsentierte – und vom Kapital als solche seitdem benutzt wird.
Auch auf dem uns hier interessierenden Gebiet der Wirtschaftspolitik bzw. dem Verhältnis von nach-kapitalistischer Wirtschaft und Staat können wir feststellen, dass es erhebliche Abweichungen von den Auffassungen von Marx und Engels gab – allerdings nicht etwa in dem Sinn, dass man deren Positionen widerlegt hätte. Ganz allgemein litt das Verständnis der II. Internationale darunter, dass zwei Grundpositionen der Marx´schen Staatsauffassung „vergessen“ wurden: erstens die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch genossenschaftliche und Räte-Strukturen, zweitens das Absterben dieses (Räte)Staates im Zuge der Entwicklung zum Kommunismus. Lenin hat in „Staat und Revolution“ zu recht auf diese Verballhornung von Marx durch die II. Internationale inkl. des Zentristen Kautsky hingewiesen. Auf der Basis dieser völlig falschen „Staatstheorie“ der II. Internationale musste es zwangsläufig auch zu dazu kommen, dass das Verhältnis Staat – Wirtschaft in der Übergangsgesellschaft falsch gesehen wurde.
Eine wichtige Rolle spielte in dieser Frage auch die Analyse des Übergangs zur imperialistischen Phase des Kapitalismus. Verschiedene linke wie bürgerliche Autoren (und auch Lenin) konstatierten wichtige Änderungen in der Politik und im sozial-ökonomischen Gefüge. Bei Lenin können wir in seinem „Imperialismus“-Buch wichtige Merkmale des Imperialismus – populär dargestellt – finden. Fast alle Autoren bemerkten eine Tendenz zur stärkeren Konzentration und Zentralisation des Kapitals, was zu Konzernen und zur Ausweitung des Kredit-gebenden Bankensektors und zum Finanzkapital führte. Daneben wurde auch eine bedeutendere Rolle des Staates als Regulator der Wirtschaft konstatiert. Letzteres führte zu der Annahme, dass man mittels des Staates die soziale Ungleichheit und die Krisentendenzen des Kapitalismus eindämmen oder gar überwinden könne. Die Übernahme bzw. Ausnutzung des Staates für „sozialistische“ Zwecke war so ein nahe liegender Schluss. Dabei sollte der Staat entweder in seiner bürgerlichen Form belassen oder aber durch demokratische oder (selten) räte-demokratische Elemente „ergänzt“ werden.
Die Tendenz zur Verstaatlichung und einer immer bedeutenderen Rolle des bürgerlichen Staates wurde oft kurzschlüssig als Tendenz der Vergesellschaftung missdeutet und dabei übersehen, dass gerade Marx und Engels wiederholt darauf hingewiesen hatten, dass es sich bei der Verstaatlichung um eine „unechte“, bürgerliche Vergesellschaftung handelt, welche die wesentlichen Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise nicht aufhebt.
Wir wollen uns nun Rudolf Hilferding, einem der bedeutendsten Wirtschafts-Theoretiker der II. Internationale zuwenden, weil bei ihm in sehr typischer Weise der Paradigmen-Wechsel gegenüber Marx/Engels in der Frage Staat-Ökonomie sichtbar wird.
In seinem Hauptwerk „Das Finanzkapital“ von 1910 zeigte Hilferding, dass durch die Monopoltendenz kleinere Kapitaleigner verdrängt werden. Durch die zunehmende Verschmelzung von Wirtschaft und Staat bildeten sich Strukturen eines „staatsmonopolistischen“ Kapitalismus heraus. Hilferding hat wesentliche Tendenzen des Imperialismus erkannt und einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung von Marx geleistet. Zugleich hat er aber auch eine Sichtweise auf die nach-kapitalistische Ökonomie befördert, die im Gegensatz zu Marx steht. Hilferdings Bedeutung in dieser doppelten Hinsicht kann schwerlich unterschätzt werden, was allein schon daran ablesbar ist, dass nahezu alle Theoretiker der II. Internationale sich positiv auf ihn bezogen – auch Lenin in seiner „Imperialismus-Theorie“. Manche sahen in Hilferdings Buch den IV. Band des „Kapitals“.
Uns interessieren hier nun Hilferdings Auffassungen zur Ökonomie der Übergangsgesellschaft. Dazu schreibt er: „Wie, wo, wieviel mit welchen Mitteln aus den vorhandenen natürlichen oder künstlichen Produktionsbedingungen neue Produkte hergestellt werden, entscheidet der Pater familias oder die kommunalen, Landes- oder Nationalkommissäre der sozialistischen Gesellschaft, die, sei es aus persönlicher Erfahrung, die Bedürfnisse und Hilfsquellen der Familie kennend, sei es mit allen Mitteln einer organisierten Produktions- und Konsumtionsstatistik die gesellschaftlichen Erfordernisse erfassend, in bewusster Voraussicht das ganze Wirtschaftsleben nach den Bedürfnissen ihrer in ihnen bewußt vertretenen und durch sie bewußt geleiteten Gemeinschaften gestalten.“ (R. Hilferding, Das Finanzkapital, Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin, 1947, S. 2)
Die hier aufscheinende Konzeption bedeutet im Kern, dass besondere, quasi Staats-Organe die Wirtschaft leiten. Die „kommunalen, Landes- oder Nationalkommissäre“ sind unschwer als Funktionäre der Partei bzw. der Gewerkschaft erkennbar. Nirgends geht Hilferding genauer darauf ein, wie, durch welche Strukturen diese „Vertreter des Proletariats“ zu ihren Funktionen kommen, wie sie kontrolliert werden können usw. Ein Verständnis dafür, dass auch diese „sozialistische Bürokratie“ eine fatale Eigendynamik entwickeln könnte, hat Hilferding nicht. So wundert es dann auch nicht, dass die einzige Garantie dafür, dass diese „das Richtige“ tun, aus ihrem Bewusstsein erwächst. Da ist von „bewusster Voraussicht“ die Rede und dass sie „das ganze Wirtschaftsleben nach den Bedürfnissen ihrer in ihnen bewußt vertretenen und durch sie bewußt geleiteten Gemeinschaften gestalten.“ Davon, dass die ProduzentInnen (und KonsumentInnen) die Wirtschaft direkt leiten, wie es Marx und Engels wiederholt ausdrücklich formulieren, ist bei Hilferding nicht die Rede.
Auch stellt sich für ihn die Wirtschaftsleitung wesentlich als technische Aufgabe dar, „die (sie), sei es aus persönlicher Erfahrung, die Bedürfnisse und Hilfsquellen der Familie kennend, sei es mit allen Mitteln einer organisierten Produktions- und Konsumtionsstatistik die gesellschaftlichen Erfordernisse erfassend“ lösen. Doch die gesamte Wirtschaftstätigkeit ist zuerst Ausdruck sozialer Bedürfnisse. Sollen diese der entscheidende Impuls für Produktion und Verteilung sein, müssen ProduzentInnen und KonsumentInnen sich aber direkt artikulieren und Strukturen schaffen können, die das auch ermöglichen. Gerade der Stalinismus mit seiner zentralen Wirtschaftsplanung durch eine Bürokratie, die sicher meist auch mit „bewusster Voraussicht“ am Werke war, ist ein Beweis dafür, dass das nicht funktioniert und der „Pater familias“ eben die Bedürfnisse seiner „Familie“ nicht gut genug kannte und seine Entscheidung a priori mit der Entmündigung der „Familie“ verbunden war.
Wie weit die Illusionen Hilferdings in die Fähigkeiten der Bürokratie ging, zeigt das folgende Zitat: „Innerhalb der Warenproduktion liegt dem Austausch ein objektiv gesellschaftliches Moment zugrunde, das das Tauschverhältnis beherrscht: die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die in den ausgetauschten Sachen verkörpert ist. In kommunistischen Gesellschaften liegt ihm zugrunde nur subjektive Gleichsetzung, gleichgerichteter Wille. Der Tausch ist hier zufällig, kein mögliches Objekt theoretisch-ökonomischer Betrachtung. Er ist nicht theoretisch analysierbar, sondern nur psychologisch begreifbar.“ (ebenda, S. 4/5)
Auch hier ein strikter Gegensatz zu Marx. Während dieser die wirtschaftliche Planung, Rechnungsführung und Verteilung auf einer Arbeitszeitrechnung basieren wollte, lehnt Hilferding dies dezidiert ab. Zudem verlegt er diese vom Gebiet der realen Ökonomie in die Sphäre der Psychologie. Anstatt dass die kommunistische Ökonomie auf Basis der Arbeitszeitrechnung sehr viel genauer (und gerechter) vorgehen kann als die kapitalistische Ökonomie, meint Hilfering, dass diese „nicht theoretisch analysierbar, sondern nur psychologisch begreifbar“ wäre. Eine größere Differenz zu Marx in dieser Frage ist kaum denkbar! Es ist durchaus bezeichnend, dass es (wenn wir uns nicht irren) keine prominente Stimme in der II. Internationale gab, die diese Positionen Hilferdings kritisiert und die Marx´sche Position dagegen verteidigt hätte. Auch Lenin, der in anderen Fragen so vehement Kautsky u.a. Spitzen der II. Internationale für ihren Opportunismus zu recht kritisierte, fiel das nicht auf.
In welchem Maße Hilferding glaubte, den Staat als „Wirtschaftsmacht“ gebrauchen zu können, geht auch aus folgender Passage klar hervor:
„Die vergesellschaftende (sic!) Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletarier eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten. Von diesen Produktionszweigen sind alle anderen abhängig, und die Herrschaft über die Großindustrie bedeutet so bereits die wirksamste gesellschaftliche Kontrolle auch ohne jede weitere unmittelbare Vergesellschaftung. Die Gesellschaft, die über den Bergbau, die Eisenindustrie hinunter bis zur Maschinenindustrie, die Elektrizitäts-, die chemische Industrie verfügt, die über das Transportsystem herrscht, hat durch die Beherrschung dieser wichtigsten Produktionssphären die Verteilung des Rohmaterials an die anderen Industrien und den Transport ihrer Produkte in der Hand und kann so diese gleichfalls beherrschen. Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten und in der Übergangszeit, solange kapitalistische Verrechnung sich noch als opportun erweist, die Politik des Sozialismus in ihren Anfängen außerordentlich erleichtern. Die Expropriation braucht sich gar nicht auf die große Zahl bäuerlicher und Kleinbetriebe zu erstrecken, da diese durch die Besitzergreifung der Großindustrie, von der sie längst abhängig geworden sind, mittelbar vergesellschaftet werden wie jene unmittelbar. Es ist daher möglich, den Expropriationsprozess gerade dort, wo er wegen seiner Dezentralisation langwierig und politisch gefährlich wäre, in langsamer Entwicklung ausreifen, das heißt aus dem einmaligen Expropriationsakt der Staatsgewalt einen allmähliche Vergesellschaftung durch ökonomische Vorteile, die die Gesellschaft bewußt gewährt, zu machen, weil das Finanzkapital die Expropriation, soweit sie für den Sozialismus notwendig, bereits besorgt hat. (ebenda, S. 514/15)
Nach Hilferding „genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletarier eroberten Staat“, die Wirtschaft verwaltet. Während Marx und Engels meinen, dass das Proletariat den bürgerlichen Staat zerschlagen soll, will ihn Hilferding erobern und für sozialistische Zwecke nutzen. Nach ihm könnte die Arbeiterklasse die „wirksamste gesellschaftliche Kontrolle auch ohne jede weitere unmittelbare Vergesellschaftung“ ausüben. Auch hier ein deutlicher Gegensatz zur Position von Marx und Engels. In der „Übergangszeit“, d.h. der Übergangsgesellschaft, „solange kapitalistische Verrechnung sich noch als opportun erweist“, könnten die ProduzentInnen also die Wirtschaft noch mittels wirtschaftlicher Rechnungsführung leiten, um sie aber später offenbar nicht mehr zu benötigen. Marx betont, dass die wirtschaftliche Rechnungsführung des Kapitalismus vom Proletariat genutzt werden kann und muss, diese jedoch konsequent auf eine reine Arbeitszeitrechnung, die in der bürgerlichen Ökonomie nur ein Element der Rechnungsführung und Planung darstellt, umgestellt werden muss. Hilferding sieht diese langfristig eher als störend an und will sie gänzlich eliminieren. Statt – wie schon oben dargestellt – die Wirtschaftstätigkeit konsequent auf eine reale ökonomische Basis, eine reine Ressourcen- und Arbeitszeitplanung, zu stellen, glaubt Hilferding, darauf zugunsten der „Intuition“ einer Staats-Bürokratie verzichten zu können.
Das Finanzkapital, so Hilfering, hätte „die Expropriation, soweit sie für den Sozialismus notwendig, bereits besorgt“. Nur leider ist diese Art von „Expropriation“ für den Sozialismus eben nicht ganz ausreichend. Der reine Akt der Negation, d.h. der Enteignung des Kapitals, muss ergänzt werden durch die „Negation der Negation“, d.h. die Schaffung einer neuen Eigentumsform: der direkten Verwaltung der Wirtschaft durch die ProduzentInnen und KonsumentInnen. Nicht umsonst ist bei Marx von der „Aufhebung“ des Privateigentums die Rede. Und genauso, wie er mit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates eben nicht nur dessen Zertrümmerung, sondern auch dessen Ersetzung durch einen System von genossenschaftlicher Selbstveraltung bzw. einen Kommune-Staat meint, geht Marx auch an die Eigentumsfrage dialektisch heran und nicht wie Hilferding „mechanisch“: „Schafft so das Finanzkapital organisatorisch die letzten Voraussetzungen für den Sozialismus, so macht es auch politisch den Übergang leichter. Die Aktion der Kapitalistenklasse selbst, wie sie sich in der imperialistischen Politik darstellt, weist das Proletariat mit Notwendigkeit auf den Weg selbständiger Klassenpolitik, die nur mit der schließlichen Überwindung des Kapitalismus überhaupt enden kann.“ (ebenda S. 515)
Warum das zu einer unerhörten Macht aufgestiegene Finanzkapital den Übergang auch politisch erleichtern soll, bleibt Hilferdings Geheimnis. Genauso bleibt völlig unverständlich, warum die „ Aktion der Kapitalistenklasse selbst, wie sie sich in der imperialistischen Politik darstellt“, dem „Proletariat mit Notwendigkeit (…) den Weg selbständiger Klassenpolitik“ weisen soll?
Wie insgesamt in der II. Internationale stark ausgeprägt, sieht auch Hilferding die Entwicklung des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase quasi als objektiv zum Sozialismus führend an. Sicher sieht auch Marx die immer weiter fortschreitende (bürgerliche) Vergesellschaftung und den immer krasseren Widerspruch zwischen dieser Tendenz und der privaten Aneignung des Mehrprodukts als Entwicklung an, die auf den Sozialismus hinweist, doch es ist ein gewaltiger Unterschied, diese „objektive Tendenz“ zu konstatieren, oder eine Art Automatismus zu behaupten, bei der der subjektive Faktor, das Proletariat und der von ihm durchgeführte revolutionäre Umsturz, ausgeblendet werden. Wir müssen Hilferding allerdings auch zugute halten, dass er eine solche anti-revolutionäre, evolutionäre Tendenz in seinem „Finanzkapital“ nicht konsequent vertritt, doch angelegt ist sie bei ihm durchaus.
Hilferdings Positionen sind zwar nicht Ausdruck der Konzeption der II. Internationale in der Frage „Staat und Wirtschaft“, schon, weil diese dazu gar keine stringente Konzeption hatte (was die Sache nicht besser macht), jedoch waren sie in der Sozialdemokratie durchaus verbreitet und „populär“. Als Beispiel dafür wollen wir hier Karl Renner, einen der Führer der II. Internationale, zitieren: „Mit der fortschreitenden Durchstaatlichung der Volkswirtschaft müssen wir immer mehr damit rechnen, daß das Schicksal des Proletarier eines Landes mit dem Geschick des Staates zusammenfällt“.
Solchen Auffassungen lag durchaus die Ansicht zugrunde, dass die Prozesse von Zentralisation, Konzentration und stärkerem Staatseinfluss an sich schon Richtung Sozialismus führen würden und das Proletariat nur noch die Kommandohöhen besetzen müsste.
Ein weiterer wichtiger Führer der II. Internationale, der von den Auffassungen von Marx und Engels deutlich abwich, war Eduard Bernstein. Ohne dass er die Revolution dezidiert ausschloss, betonte er dennoch stark einen evolutionären Weg zum Sozialismus, der für ihn – nicht unähnlich den Auffassungen Kautskys – v.a. darin bestehen sollte, die Positionen des Proletariats in Wirtschaft und Gesellschaft nach und nach immer weiter auszubauen, bis schließlich ein neue Qualität erreicht wäre. Der Marxist Karl Korsch kennzeichnet die Position Bernsteins, ihn zitierend, so: „die Hauptsache bei der Vergesellschaftung“ (ist), dass „die Allgemeinheit durch Gesetze und durch Verordnungen immer stärker in die Kontrolle des Wirtschaftslebens eingreift (…) .“ Weiter zitiert Korsch Bernstein, dass „in einem guten Fabrikgesetz mehr Sozialismus stecken kann als in einer Verstaatlichung von etlichen hundert Unternehmungen und Betrieben.“ (K. Korsch, Was ist Sozialisierung?, Ca irapresse, Berlin, S. 11)
Korsch bemerkt dazu: „Diese Bernstein´sche Ansicht besteht (…) in der gänzlichen Gleichsetzung von `Sozialpolitik´ und `Sozialisierung´. Durch allmähliche, sozialpolitische Einschränkung der Befugnisse des Privateigentümers soll das Privateigentum in stetiger Entwicklung in öffentliches Eigentum umgewandelt werden. In Wahrheit kann aber die Sozialpolitik, die ihrem Begriff nach das Privateigentum des Kapitalisten voraussetzt und lediglich den Konflikt zwischen den eigenen Rechten des Kapitalisten und den Ansprüchen der Allgemeinheit schlichten will, ohne Sprung und radikale Wendung niemals in eine wahrhafte Sozialisierung (Vergesellschaftung) übergehen.“ (ebenda)
Korsch lehnt also Bernsteins Ansatz, dass per Staat und Gesetz nach und nach die Sozialisierung vollzogen werden könne, ab. Korsch führt weiter aus, dass eine wirkliche Vergesellschaftung mehr oder weniger auch dann verfehlt wird, wenn das Privateigentum zwar beseitigt ist, „aber nur, um irgendeine Form von Sondereigentum an seine Stelle zu setzen.“ (ebenda S. 13) Damit erteilt er etwa Sozialisierungsmaßnahmen wie Unternehmensbeteiligung (Aktien), Gruppen- bzw. Genossenschaftseigentum, das nicht durch eine gesamtgesellschaftliche Planung von KonsumentInnen und ProduzentInnen verbunden ist, aber auch einem die Wirtschaft verwaltenden Staat eine klare Absage.
Korsch´s durchaus auf den Intentionen von Marx und Engels beruhende Ansichten wurden aber zu seiner Zeit wenig rezipiert und waren durchaus etwas anderes als die Vorstellungen der II. Internationale oder auch Lenins.
Ohne dass eine revolutionäre Umwälzung dezidiert ausgeschlossen wurde – immerhin war der „orthodoxe Marxismus“ (sprich Zentrismus) a la Kautsky die offizielle Doktrin -, offenbart sich der Reformismus der II. Internationale erstens am Fehlen einer revolutionären Programmatik und zweitens an ihrer reformistischen Praxis. So fehlen in den sozialdemokratischen Programmen (und umso mehr in deren Praxis) immer entscheidende Elemente wie die Arbeiterkontrolle oder die Orientierung auf Räte. Selbst die Frage des Massen- bzw. Generalstreiks wurde zu spät und viel zu inkonsequent behandelt – praktische Konsequenzen hinsichtlich eines offensiven, auf die Frage der Macht zielenden Klassenkampfes hatte sie ohnedies nicht.
In Programmatik und Praxis fehlte all das, was positiv und konsequent darauf zielte, das Proletariat zum Subjekt der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlichen Veränderungen zu qualifizieren.
Es war in starkem Maße nur Nutznießer, Almosenempfänger des „historischen Prozesses“, der Dominanz „sozialistischer“ Apparate und Autoritäten. Diese Differenz zum radikalen revolutionär-humanistischen Ansatz von Marx und Engels war groß – und sollte sich u.a. in Gestalt der Politik des Bolschewismus nach der Machtergreifung auf fatale Weise auswirken.