Marxismus und Verstaatlichung (Teil 1)

Hanns Graaf

 Der vorliegende Artikel wendet sich der Frage zu, welche Position der Marxismus zur Umwandlung der Wirtschaft von einer kapitalistischen zu einer nicht-kapitalistischen einnimmt. Dabei steht im Mittelpunkt, wer das Subjekt der Veränderung der Wirtschaft, v.a. der Eigentumsverhältnisse, ist.

Unter dem Etikett „Marxismus“ firmieren viele unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen. Wir werden zeigen, dass die Auffassungen von Marx und Engels zu den Positionen anderer „MarxistInnen“, etwa der II. Internationale oder Lenins – ganz zu schweigen von den diversen heutigen „MarxistInnen“ – mehr oder weniger stark abweichen. Viele „MarxistInnen“ – insbesondere jene stalinistischer bzw. maoistischer Provenienz -, gehen davon aus, dass der (proletarische) Staat dieses Subjekt darstellt und eine verstaatlichte Wirtschaft wesentlich identisch mit einer sozialistischen wäre. Dabei läuft ihre Formel immer darauf hinaus, dass das Proletariat sich einen Staat – also eine „separate“ Struktur – schafft, mit der dann auch die Wirtschaft geleitet wird.

Wir vertreten die These, dass eine nichtkapitalistische Ökonomie möglichst direkt von den ProduzentInnen und KonsumentInnen verwaltet werden muss und nicht wesentlich von einem, wie auch immer gearteten, Staat zentral „von oben“. Die für eine moderne Produktion unabdingbare Vernetzung und Planung muss von „unten“ auf etabliert werden: durch die Kooperation von genossenschaftlich verfassten Betrieben mit den demokratisch verbundenen KonsumentInnen. Solche Mechanismen müssen auf der Berechnung von Arbeitszeit u.a. Ressourcen beruhen. Diese Berechnung kann jedoch nicht von zentralen Stellen vorgenommen werden, sondern muss ebenfalls organisch aus der Basis erwachsen. Wird diese von der Basis aus erfolgende räte-demokratische Selbstverwaltung der Wirtschaft durch „besondere“ Staatsorgane eingeschränkt oder gar eliminiert, stellt das eine Enteignung des Proletariats – der ProduzentInnen wie der KonsumentInnen – dar, führt notwendig zu einer neuen Klassengesellschaft mit spezifischer Unterdrückung und Ausbeutung und blockiert die Entfaltung jener qualitativen Elemente in der Gesellschaft, die für den Kommunismus prägend sind.

1. Das Schicksal der Auffassungen von Marx und Engels zum Staat

 Marx und Engels haben keine systematische Staatstheorie hinterlassen, jedenfalls nicht in Form etwa der weit umfänglicheren Analyse der kapitalistischen Produktionsweise durch Marx. Vor allem hinsichtlich der Rolle des Staates im Kapitalismus oder in einer nachkapitalistischen Gesellschaft finden wir nur wenige, eher kursorische Äußerungen. Allerdings gibt es andererseits viele Aussagen zur Staatsfrage, die es durchaus erlauben, davon zu sprechen, dass Marx und Engels klare Grundpositionen dazu entwickelt haben und sozusagen das Fundament und den Rohbau eines Theorie-Gebäudes zur Staatsfrage hinterlassen haben. Das betrifft v.a. die historisch-materialistische Herleitung des Staates.

Vereinfacht gesagt, haben Marx und Engels drei zentrale Thesen aufgestellt: 1. der Staat entsteht im Zuge der Entwicklung der Produktivkräfte und der Teilung der Gesellschaft in Klassen und dient wesentlich als Machtinstrument der herrschenden Klasse und der Aneignung des Mehrprodukts durch diese. 2. das Proletariat kann den alten (bürgerlichen) Staatsapparat für seine sozialistischen Zwecke nicht übernehmen, er muss daher in und nach der Revolution zerschlagen und durch einen räte-demokratischen „Halbstaat“ ersetzt werden. 3. sterben diese „staatlichen“ Strukturen des an der Macht befindlichen Proletariats im Zuge der Entwicklung der Produktivkräfte und des Verschwindens der Klassen ab.

Wir wollen diese Positionen hier mit einigen wenigen Zitaten belegen.

Bei Friedrich Engels heißt es in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“: „Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“ (MEW 21, S. 168)

Marx schrieb am 12. April 1871, d.h. gerade während der Ereignisse der Pariser Kommune, an Kugelmann: „Wenn Du das letzte Kapitel meines ‚Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen (Hervorhebung von Marx), „und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.“ („Neue Zeit“, XX, 1, 1901/02, S. 709)

Zur Frage des Absterbens des (proletarischen) Staates schrieb Engels an Bebel: „Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten (…).

Wenn also heute einige „MarxistInnen“ davon sprechen, dass eine verstaatlichte Wirtschaft ein wesentliches Merkmal des Sozialismus wäre, so zeigen sie damit nur, dass sie Marx und Engels gründlich missverstanden haben. Für Marx und Engels sollte der Staat der Übergangsgesellschaft v.a. dazu dienen, den Klassenfeind niederzuhalten, nicht etwa grundsätzlich dazu, die Gesellschaft zu „verwalten“. Die Entstellung des Marxismus fing schon damit an, dass geleugnet wurde, dass vor der kommunistischen Gesellschaft mit ihren zwei Phasen, dem Sozialismus und dem „eigentlichen“ Kommunismus, eine Übergangsphase, die Diktatur des Proletariats, liegt. Oft wurde diese Übergangsphase mit der ersten Phase des Kommunismus, dem Sozialismus, identifiziert. Bezüglich des Staates konnte so behauptet werden, dass das Absterben des Staates erst irgendwann später stattfinden würde.

Nach Marx ist aber eigentlich klar, dass der Staat am Ende der Übergangsphase bereits weitgehend abgestorben wäre. Allerdings wurde von Engels, von dem der Begriff des „Absterbens“ des Staates stammt, nirgends ausgeführt, wie dieser Prozess ablaufen bzw. was das für die Politik des Proletariats konkret bedeuten könnte. So entstand eine Vorstellung in Teilen des „Marxismus“, dass das Absterben sich quasi automatisch vollziehe oder aber dieses Postulat wurde, v.a. von den Stalinisten, als „Irrtum“ von Marx abgetan. Ein ähnliches Schicksal ereilte die These von der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates. Die Reformisten lehnten und lehnen sie strikt ab.

Erst 1917 hat dann Lenin in „Staat und Revolution“ die zentralen Positionen von Marx und Engels zum Staat insgesamt korrekt herausgearbeitet und die diversen Entstellungen ihrer Positionen durch  Reformisten und Zentristen scharf kritisiert. Doch auch bei Lenin finden wir in „Staat und Revolution“ die Auffassung, dass das Absterben des proletarischen (!) Staates erst nach Jahrzehnten erfolgen, d.h. erst dann wirklich beginnen (!) würde. Aus einer zentralen politischen Aufgabe der Gegenwart wurde eine Vision für eine „ferne“ Zukunft. Bis dahin sollte der proletarische Staat das Schicksal der Gesellschaft leiten. Dieser Staat wurde von Lenin zwar als proletarischer Rätestaat verstanden, an dem breite Massen aktiv mitgestalten, doch diese Umwandlung von Form und Funktion des Staates ist eben nicht dasselbe wie das Absterben.

Diese Differenz zwischen Marx / Engels und Lenin machte sich dann auch in der praktischen Politik der Bolschewiki bemerkbar. Von Beginn an etablierten die Bolschewiki neben den Räte- und Selbstverwaltungsstrukturen der ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Soldaten zentrale Staatsorgane von oben. Dazu gab es noch Reste des bürgerlichen Staatsapparates. Dieses Neben- und Gegeneinander  verschiedener „staatlicher“, räte-artiger und Selbstverwaltungsstrukturen ist v.a. für den Beginn der Übergangsgesellschaft generell unvermeidbar, jedoch muss die Entwicklung der Übergangsgesellschaft dadurch gekennzeichnet sein, dass der Staat abstirbt, d.h. verschwindet, bzw. durch Selbstverwaltungsstrukturen ersetzt wird. Erfolgt dies nicht, ist eine „gesunde“ Entwicklung Richtung Sozialismus zumindest stark gestört. So richtig es ist, dass das Absterben des Staates Folge einer bestimmten sozialökonomischen Entwicklung ist, so richtig ist aber auch, dass das Absterben – des proletarischen Staates (!) – zugleich auch selbst eine Bedingung dieser Entwicklung ist. Letztere Erkenntnis ist „dem Marxismus“ leider weitgehend fremd.

In Sowjetrussland führten die Unterentwicklung, der Bürgerkrieg, die allgemeine Not und das zahlenmäßig relativ kleine Proletariat dazu, dass die Ansätze von Rätesystem und Selbstverwaltung schob bald kollabierten und die Verwaltung fast durchweg von zentralen Organen, die weder Räte waren noch von den Massen kontrolliert wurden, ersetzt. Diese Fehlentwicklung war also stark von den ungünstigen objektiven Umständen begünstigt oder sogar erzwungen. Doch spätestens, als der Bürgerkrieg beendet war, ab Frühjahr 1921, hätte die Entwicklung wieder auf ein besseres Gleis gelenkt werden können und müssen. Gerade das geschah aber nicht. Die Vorstellung Lenins von einer längeren staatskapitalistischen Phase für Sowjetrussland inkludierte auch die Ansicht, dass der – stark zentralisierte – Staat eine herausragende Rolle spielen sollte. Nicht seine bewusste Ersetzung durch Rätestrukturen und Selbstverwaltung war vorgesehen, noch seine Minimierung oder gar sein Absterben. Alle – zu spät  und zu inkonsequent – durchgeführten Maßnahmen zur Bekämpfung der Bürokratisierung erwiesen sich als unwirksam, z.T. verschlimmerten sie das Problem noch. Insgesamt zeigte sich der subjektive Faktor, das Proletariat bzw. die Partei, als konzeptionell unzureichend gerüstet, um in der Staatsfrage unter sehr schwierigen Bedingungen richtig zu handeln oder wenigstens ein richtiges Bewusstsein von der Situation zu haben.

Lenin und die Bolschewiki hatten in der Staatsfrage konzeptionell und praktisch einen halben, aber  wichtigen Schritt vorwärts getan, doch sie hingen sozusagen mit dem anderen Bein noch im Gestrüpp des Reformismus´ der II. Internationale fest. Der zweite Schritt wurde nie getan – es wäre der gewesen, der über die Schwelle zu einer kommunistischen Gesellschaft geführt hätte.

2. Marx und Engels zur Frage der Verstaatlichung

Unter Verstaatlichung verstehen wir die Übernahme von Eigentum durch den Staat – und das  sowohl in juristischer als auch in Hinsicht auf die reale Verfügungsgewalt. Wir müssen hier vorausschicken, dass der Staat zu Marx´ Zeiten nur ausnahmsweise als Eigentümer auftrat. Selbst die Einflussnahme des Staates auf die Wirtschaft war – im Vergleich zu heute – sehr gering. Natürlich spielte der Staat als Geburtshelfer des Kapitalismus und Verteidiger des Privateigentums eine wichtige Rolle, doch das ist etwas anderes als eine Rolle als Eigentümer oder als bestimmende Struktur in der Ökonomie.

Wie allgemein in der Staatsfrage haben sich Marx und Engels auch zur Verstaatlichung nicht umfänglich und tiefgreifend geäußert. Es gibt allerdings etliche Passagen in ihren Schriften, die es sehr wohl erlauben, konkrete Positionen und ihre grundlegende Methode zu erkennen. Für beide unterlag es keinem Zweifel, dass die proletarische Revolution das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen muss. Doch welche Rolle sollte der proletarische Staat dabei und überhaupt in der nach-kapitalistischen Ökonomie spielen?

Bereits im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 – also in der Frühphase ihres Schaffens – äußern sich Marx und Engels dazu: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ Und weiter: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert (…)“.

In den „Randglossen“ zum „Gothaer Programm“ – die 1875, also deutlich später entstanden sind – schreibt Marx: „nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“. Und weiter spricht er dort davon, dass „die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst“ sind.

Bei Engels heißt es in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ von 1880: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. (…) Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab.“

Engels spricht hier davon, dass das Proletariat „die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum“ verwandelt, fügt aber sofort an: „Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. (…) Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig.“ Und weiter: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein.“

Nirgends ist hier bei Engels davon die Rede, dass ein Staat – egal, welche Form und Funktionsweise er auch immer hat – die Wirtschaft leitet und organisiert. Und Engels spricht hier nicht etwa vom bürgerlichen Staat, sondern vom Arbeiter-Staat, denn nur der kann und will ja das Kapital enteignen. Die Ansicht vieler „MarxistInnen“, dass die nach-kapitalistische Ökonomie wesentlich und dauerhaft einen Staat benötige, kann sich also durchaus nicht auf Engels (und auch nicht auf Marx) berufen. Ein Grund für ihren Irrtum ist die Annahme, dass eine moderne nach-kapitalistische Industriegesellschaft ein höheres Niveau an Zentralisierung und Planung braucht und erreichen kann als der Kapitalismus. Das ist zwar richtig, doch bedeutet die Notwendigkeit von Planung und Zentralisierung eben durchaus nicht, dass diese durch einen Staatsapparat vorgenommen werden müssten.

Dieselbe Position vertritt Engels auch in „Die Bauernfrage“: „Die Aufgabe des Sozialismus (…) ist vielmehr nur die Übertragung der Produktionsmittel an die Produzenten als Gemeinbesitz.“ (MEW 22, 493) Auch hier kein Wort vom Staat.

An Bebel schreibt Engels: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“ (MEW 19, S. 6)

In einem Brief an Lawrow erläutert Engels 1875:Die Übernahme und Aneignung der Produktionsmittel durch die Gesamtheit der freien Produzenten kann nicht von einer Minderheit „im Namen der Gesellschaft“ oder „stellvertretend“ für die Lohnarbeiterklasse durchgeführt werden. (…) Die produzierende Klasse (nimmt) die Leitung der Produktion und Verteilung der bisher damit betrauten, aber jetzt dazu unfähig gewordenen Klasse ab (…) und das ist eben die sozialistische Revolution. (MEW 34, S. 171)

Klarer kann man kaum ausdrücken, dass die ProduzentInnen selbst und direkt und nicht irgendein Staat „an ihrer statt“ die Ökonomie organisieren. Daneben ist hier (wie auch an anderen Stellen) bedeutsam, dass Engels nicht nur die Eigentumsfrage im Blick hat, sondern auch die Leitung der Produktion und Verteilung“, also die Gesamtheit der verschiedenen Produktionsverhältnisse. Hier liegt nämlich eine wichtige methodische Differenz zu all Jenen, die den Stalinismus für eine nicht-kapitalistische Produktionsweise hielten und als Begründung das weitgehende Fehlen von Privateigentum, Konkurrenz usw. – also nur einigen Merkmalen des Kapitalismus -, während andere durchweg vorhanden waren und auch historisch nicht minimiert wurden (Lohnarbeit, ungleiche Verteilung, Entfremdung usw.).

Bei Marx heißt es zum Übergang zum Sozialismus: „Die freie Arbeit entwickelt sich innerhalb der kapitalistischen Produktion als gesellschaftliche Arbeit. Dass sie Eigentümer der Produktionsbedingungen ist, heißt also, dass diese den vergesellschafteten Arbeitern gehören und diese als solche produzieren, ihre eigene Produktion (…) sich als vergesellschaftete unterordnen.“ (Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, S. 514). Interessant ist hier, dass auch Marx nicht nur vom Eigentum an den Produktionsmitteln spricht, sondern von den „Produktionsbedingungen“, die „den vergesellschafteten Arbeitern gehören“. Im Gegensatz zu vielen Theoretikern, z.B. Trotzki, betrachtet Marx die Gesamtheit der Produktionsweise und nicht nur einzelne ihrer Elemente (etwa die Eigentumsfrage).

Zum Schluss noch einmal Engels in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“: Die Lösung kann nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehn, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder andren Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften. Damit wird der gesellschaftliche Charakter der Produktionsmittel und Produkte, der sich heute gegen die Produzenten selbst kehrt, der die Produktions- und Austauschweise periodisch durchbricht und sich nur als blind wirkendes Naturgesetz gewalttätig und zerstörend durchsetzt, von den Produzenten mit vollem Bewußtsein zur Geltung gebracht und verwandelt sich aus einer Ursache der Störung und des periodischen Zusammenbruchs in den mächtigsten Hebel der Produktion selbst.

Engels betont hier nicht nur, dass die Vergesellschaftung – ergo der Sozialismus – nur möglich ist, wenn „die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift“ und dass Produktivkräfte „jeder andren Leitung außer der ihrigen“ bereits „entwachsen“ sind. D.h. kein Staat, egal was seine Form, in der Lage ist, die Produktion effektiv zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu „leiten“. Die jahrzehntelange Geschichte der UdSSR und des Ostblocks ist als negatives Lehrstück dafür mehr als ausreichend.

Zusammenfassend können wir also sagen, dass Marx und Engels keinesfalls die Vorstellung hatten, dass die Wirtschaft in der Übergangsgesellschaft oder gar im Kommunismus (nur) von einem Staat geleitet und organisiert werden könne und müsse. Im Gegenteil: sie sagen klar, dass dieser einer solchen Aufgabe gar nicht gerecht werden könne. Stattdessen ist es nötig, dass die ProduzentInnen selbst direkt (!) diese Aufgabe wahrnehmen. Für die Annahme vieler „MarxistInnen“, dass ein Staat die Wirtschaft lenken müsse, gibt es bei Marx und Engels durchaus keine Belege. Hier zeigt sich also sehr deutlich, welche ungeheure Differenz sich zwischen Marx und dem „Marxismus“ auftut.

Wir müssen hier allerdings eine Einschränkung machen. Es ließen sich durchaus auch Textbelege finden – v.a. in den früheren Schriften -, wo nicht klar zwischen den „assoziierten Individuen“ und  dem Staat differenziert wird. Auch aus diesem Grund wäre es übertrieben, von einer Marx´schen Staats-Theorie zu sprechen. Wir glauben aber als Beispiele genügend Textstellen v.a. aus den späteren Jahren angeführt zu haben, die zeigen, dass der Staat als Eigentümer oder Leiter der Produktion nicht vorgesehen war. Wie hätte sich das auch vereinbaren sollen mit der These, dass der (proletarische) Staat absterben soll?! Da die wesentlichen Aufgaben des Staates – und umso mehr nach der Übergangsgesellschaft – nach Meinung vieler „MarxistInnen“ die „Regulierung“ der Wirtschaft ist, würde eine Staatswirtschaft automatisch bedeuten, dass der Staat gar nicht absterben könnte, weil seine Hauptaufgabe ja eben die Verwaltung der Ökonomie wäre.

Marxismus und Verstaatlichung (Teil 2)

Marxismus und Verstaatlichung (Teil 3)

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