Die neoliberale Wirtschaftspolitik macht den staatlichen Sektor, öffentliche Ausgaben und das Regulieren des Marktes für alle Krisen und Probleme verantwortlich. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurde auch in diesen Ländern die Wirtschaft privatisiert. Das Privateigentum und der „freie“ Markt erscheinen alternativloser als je zuvor. Bürokratismus, Ineffizienz und Korruption brachten dem staatlichen Sektor aber auch von Seiten der KonsumentInnen und der Arbeiterklasse einen schlechten Ruf ein.
Der Kapitalismus zeigt einen historischen Trend, dass der Staat immer stärker mit der Wirtschaft verbunden ist und für das Funktionieren des Gesamtsystems immer wichtiger wird. Diese Tendenz kann sich auch darin ausdrücken, dass Unternehmen komplett oder anteilig dem Staat gehören. Doch der Regelfall sieht so aus, dass der Staat durch Steuern, Subventionen, Gesetze, Gremien und Normen sehr stark den Handlungsrahmen für Unternehmen bestimmt – national wie international. Ein Grund dafür ist die immer stärkere Internationalisierung und Vernetzung der Weltwirtschaft und Weltgesellschaft sowie die stärkere Konkurrenz zwischen Unternehmen und Staaten(blöcken). Für das Funktionieren, d.h. das „Zusammenwirken“ konkurrierender Unternehmen, Mächte und das „Austarieren“ des Klassenwiderspruchs ist der Staat als Manager notwendiger denn je.
Auch für Teile der Linken ist die Verstaatlichung (oder Nationalisierung) ein Schlüsselelement ihrer Politik. Das ist insofern richtig, als staatliche Maßnahmen die negativen Auswirkungen des Kapitalismus beschränken und gewisse positive Entwicklungen bewirken können. Doch die Verstaatlichung als antikapitalistische Maßnahme, als Schritt zum Sozialismus oder eine Staatswirtschaft gar als ökonomische Basis des Sozialismus anzusehen, ist falsch – und unmarxistisch. Schon Friedrich Engels schrieb: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. (…) der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat (…) ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“
Die Grundidee der Befürworter der Verstaatlichung besteht in der korrekten Annahme, dass dadurch das Privateigentum der einzelnen Kapitalisten an den Produktionsmitteln eingeschränkt oder gar beseitigt werden kann. Doch für Marx umfasste der Begriff „Enteignung des Privateigentums“ auch die Frage, wer der neue Eigentümer der Produktionsmittel wäre und wie dieser sein Eigentum nutzt. Nach Marx sollte das in genossenschaftlichen Strukturen „assoziierte“ Proletariat nach der Revolution direkt über die Produktionsmittel verfügen, ohne dass eine „äußere Instanz“, also ein Staat, dabei eine zentrale Rolle spielt. Zudem sollte – soweit „separate“ staatliche Strukturen für Verwaltungsaufgaben (noch) notwendig sind – dieser Staat von der proletarischen Basis aus strukturiert und kontrolliert werden. Marx schrieb, dass „die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst“ sein sollen, also nicht dem Staat gehören.
Marx hatte jedoch nicht die Vorstellung, dass die einzelnen Subjekte der Wirtschaft, die genossenschaftlichen Betriebe, unverbunden, quasi als Konkurrenten neben- oder gegeneinander produzieren. Sie sollten über einen gesamtgesellschaftlichen Plan, der demokratisch von ProduzentInnen und KonsumentInnen bestimmt ist, verbunden sein. Basis dieser gesellschaftlichen Kooperation sollte eine verallgemeinerte Arbeitszeitrechnung sein, die eine genaue Kontrolle und Beeinflussung der Produktion, der Investitionen und letztlich des Anteils des Einzelnen an den Konsumtionsmitteln ermöglicht.
In den stalinistischen Ländern des Ostblocks war genau das nicht gegeben. ProduzentInnen und KonsumentInnen hatten kaum Einfluss auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen – sie waren praktisch enteignet und konnten über die Produktion(smittel) nicht entscheiden. Das „Volkseigentum“ unterlag völlig der Kontrolle des Staates, d.h. der herrschenden Bürokratie, nicht aber den Massen. Eine solche Gesellschaft hatte mit Kommunismus nichts gemein – sie war Staatskapitalismus. Sie ist historisch gescheitert.
Auch im „westlichen“ Kapitalismus sind Verstaatlichungen kein Mittel gegen Wirtschaftskrisen. Der Staatssektor bildet ja nicht nur einen kleinen Teil der Gesamtwirtschaft, er ist auch kaum in einen Planungsmechanismus eingebunden und unterliegt ebenfalls weitgehend den Marktgesetzen, nicht zuletzt dadurch, dass Produzentinnen und KonsumentInnen auch auf den Staatssektor fast keinen Einfluss haben. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sind auch noch kein Staatskapitalismus, sondern „Etatismus“ (von Etat, französisch: Staat). Wirklicher Staatskapitalismus setzt die Enteignung des Kapitals und die Übernahme aller Produktionsmittel durch den Staat voraus, wie es im Stalinismus geschah, der nur als Ergebnis der sozialistischen Revolution in Russland und ihrer Degeneration möglich war.
Doch der Plan war dort ein bürokratischer, nicht ein von den Massen demokratisch kontrollierter. Das ist ein Grund, warum er fehlschlug. So wie die Kapitalisten das bestimmende Subjekt des Profitsystems sind, so muss die Arbeiterklasse das Subjekt der Planwirtschaft sein. Doch im Stalinismus war dieses Subjekt von der Leitung der Gesellschaft durch die herrschende Bürokratie ausgeschlossen. Ein Kernelement der revolutionär-kommunistischen Strategie ist daher die Erkenntnis, dass die ProduzentInnen und KonsumentInnen die Produktionsmittel und deren gesamtgesellschaftliche Verknüpfung durch einen Plan selbst direkt bestimmen müssen. Diese demokratische Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung muss schon im Verlauf des Kampfes gegen den Kapitalismus – so weit als möglich – praktiziert werden. Daher werfen RevolutionärInnen in allen Klassenkämpfen auch die Frage der Arbeiterkontrolle auf. Egal, ob es um Bezahlung, Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen, Wohnungen, Sicherheit, Investitionen geht – im Zentrum steht immer die eine Frage: Wer, d.h. welche Klasse, hat die Kontrolle?
Wenn im Kapitalismus ein Betrieb bankrott ist oder Beschäftigte entlassen oder Arbeitsbedingungen und Löhne verschlechtert werden sollen, dann rufen viele Linke nach Verstaatlichung. Natürlich gibt es immer wieder Situationen, wo das die einzige Möglichkeit ist, aktuell Verschlechterungen zu vermeiden. Um aber die Situation richtig einschätzen zu können – ist das Unternehmen wirklich bankrott, nicht mehr konkurrenzfähig oder handelt es sich nur um eine Manipulation des Kapitals -, ist es notwendig, dass die Beschäftigten selbst die Finanzen und Geschäftsunterlagen überprüfen.
Wenn der Staat oder ein anderes Unternehmen den Betrieb übernimmt, muss dafür gekämpft werden, dass die ArbeiterInnen über Geschäftsführung und Produktion so viel Kontrolle wie möglich haben. Das ist nur durch Kampf durchsetzbar, da Staat und Kapital natürlich jede Form von Arbeiterkontrolle verhindern wollen.
Erweist sich ein Unternehmen jedoch als „gesund“ oder sanierbar, müssen RevolutionärInnen dafür eintreten, dass die Belegschaft selbst das Unternehmen übernimmt, z.B. als Genossenschaft. Dafür und für dessen Verteidigung gegen Angriffe und Boykotte durch das Kapital müssen größere Sektoren der Klasse für die Verteidigung des „Arbeiterunternehmens“ mobilisiert werden. Zugleich sollte dafür gekämpft werden, dass der Staat finanzielle Hilfe leistet. Das liegt zwar grundsätzlich nicht in seinem Interesse, doch es gibt auch Situationen, wo er – etwa als kleineres Übel gegenüber Massenentlassungen und Protesten – dazu bereit ist. Dabei muss aber jede Form von Einmischung des Staates in betriebliche Entscheidungen von den ArbeiterInnen abgelehnt werden.
Jede Enteignung eines Kapitalisten – ob durch Verstaatlichung oder durch Vergenossenschaftlichung – muss ohne Entschädigung erfolgen.
Manche Linke fordern angesichts des Bankrotts eines Unternehmens oder bei anstehenden Entlassungen immer und von vornherein eine „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“. Diese Forderung bedeutet jedoch, die Möglichkeit der Übernahme durch die ArbeiterInnen auszuschließen und nur Erwartungen in den bürgerlichen Staat zu schüren. Das ist auch deshalb falsch, weil hier suggeriert wird, es wäre möglich, dass der bürgerliche Staat als Eigentümer mit Arbeiterkontrolle kompatibel wäre. Dieses Modell würde bedeuten, dass es praktisch zwei Unternehmens-Eigner, die entgegengesetzte Klasseninteressen repräsentieren, geben könne. Durch Klassenkampf könnte und sollte der Staat allenfalls gezwungen werden, ein solches „Arbeiterunternehmen“ finanziell zu unterstützen. Geht ein Unternehmen in Staatsbesitz über, muss die Belegschaft dafür eintreten, möglichst viele Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten zu erringen; das ist jedoch nicht dasselbe, wie selbst eine „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“ zu fordern.
Oft wird von Linken argumentiert, dass auch Betriebe in Arbeiterhand den Spielregeln des Kapitalismus unterworfen und insofern keine „sozialistischen Inseln“ wären; nur die Revolution sei imstande, die kapitalistische Produktionsweise und das Privateigentum insgesamt zu überwinden. Diese Einwände stimmen, sind jedoch kein Argument dagegen, solche „Inseln“ trotzdem zu schaffen. Schließlich sind auch die Gewerkschaften, die Partei, jede Form von Arbeiterkontrolle und jeder Klassenkampf (mit Ausnahme der Revolution selbst) „Inseln“ im Kapitalismus und mehr oder weniger durch ihn begrenzt.
Ein anderes Gegenargument ist, dass Unternehmen in Arbeiterhand unter kapitalistischen Bedingungen nicht funktionieren könnten. Doch davon abgesehen, dass auch Privat- oder Staatsunternehmen bekanntlich nicht immer „funktionieren“, stimmt dieses Argument nicht. Die Geschichte des Klassenkampfes zeigt nicht nur, dass es von Anfang an immer genossenschaftliche Bestrebungen gab, die – selbst unter historisch „unreifen“ Bedingungen – oft durchaus erfolgreich waren. Von großer Bedeutung für das Gelingen solcher Projekte ist aber, ob und wie sie in den allgemeinen Kampf des Proletariats eingebettet sind, d.h. von ihm unterstützt und zu einer ganzen „Inselgruppe“ proletarischer Selbstverwaltung ausgebaut werden.
Die Geschichte zeigt aber auch, dass die reformistische Arbeiterbewegung zunehmend das Genossenschaftswesen missachtet bzw. es nur als reformistische Alternative zur Revolution gesehen hat. Wo es Genossenschaften gab, gerieten diese meist unter Kontrolle der Bürokratie und deren Misswirtschaft und waren keine direkt-verwalteten Projekte der ArbeiterInnen mehr. Diese Misserfolge sprechen gegen den Reformismus und nicht gegen die proletarische Selbstverwaltung.
Heute sind die objektiven Bedingungen zur Schaffung genossenschaftlicher Strukturen besser als je zuvor, da die Arbeiterklasse, v.a. in den hochentwickelten Ländern, nicht nur zahlreicher und oft materiell besser gestellt ist als früher, sie verfügt auch über große – wenn auch meist reformistische – Organisationen (Parteien, Gewerkschaften). Revolutionäre ArbeiterInnenpolitik kann und muss deshalb auch darin bestehen, für die Schaffung eines Genossenschaftssystems zu kämpfen und ihre Organisationen dazu zu zwingen, den Kampf darum zu führen.
In Abgrenzung zum Reformismus etablierte sich im „revolutionär-marxistischen“ Flügel der Arbeiterbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert (und massiv mit der Durchsetzung des Stalinismus) jedoch eine Sichtweise, die Genossenschaften als Irrweg und Utopismus ablehnten und die Verstaatlichung als die antikapitalistische Maßnahme und als den Weg zum Sozialismus ansah. Dieses Gesellschaftsmodell, das im Stalinismus seinen bizarren Höhepunkt erlebte, erwies sich jedoch als historische Sackgasse.
Selbstverwaltete und Genossenschaftsstrukturen – nicht nur Betriebe, sondern auch viele andere Bereiche des sozialen Lebens – sind wichtig, um „proletarische“ Stützpunkte im Meer des Kapitalismus zu errichten, die eine wichtige Rolle im Klassenkampf und für die revolutionäre Bewegung spielen können. Sie sind auch unverzichtbar, damit die Arbeiterklasse und die Massen Erfahrungen damit sammeln können, dass und wie die Gesellschaft – in Ansätzen schon im Kapitalismus – ohne und gegen Kapital und Staat eingerichtet werden kann. Diese Erfahrungen verweisen sowohl auf die grundsätzlichen Beschränkungen für alternative Projekte durch das kapitalistische Umfeld als auch auf die unerhörten Potentiale, wenn der kapitalistische Rahmen einmal gesprengt sein würde.
Marx und Engels haben kein umfassendes Konzept einer nach-kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen, doch es gibt zahlreiche Ausführungen in ihren Werken, die sehr klar darauf abzielen, dass diese auf miteinander kooperierenden genossenschaftlichen Strukturen beruhen sollen und nicht auf Staatseigentum. Ihre Konzeption vom „Absterben des Staates“ nach der Revolution bedeutet nicht Chaos und Verschwinden jeder „Verwaltung“, sondern deren direkte Organisation durch die Massen – zunehmend ohne „separaten“ Staat. Insofern ist jeder „Marxismus“, der die genossenschaftliche Selbstorganisation unterschätzt oder (nur) auf Verstaatlichung setzt, weder marxistisch noch revolutionär.