Hanns Graaf
Die mit Spannung erwartete Abstimmung des SPD-Parteitags über die Aufnahme von Verhandlungen zu einer neuen GroKo erbrachte eine knappe Mehrheit von 56%. Doch damit ist noch nichts entschieden, denn auch das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen braucht noch die Zustimmung der Mitgliederbasis der SPD, damit diese Teil der neuen (alten) Regierung werden kann.
Nichts Neues?
Die SPD als Juniorpartner in einer GroKo ist natürlich nichts Neues. Nach der Abwahl von Rot/Grün 2005 war die SPD mit einer Unterbrechung durch Schwarz/Gelb bereits mehrfach Juniorpartner der Unionsparteien unter Kanzlerin Merkel. Und doch ist die Situation diesmal eine etwas andere.
Zum einen hat die SPD bei jeder Bundestagswahl in den vergangenen Jahren an Zustimmung verloren. Das letzte Ergebnis vom Oktober 2017 ließ sie nun auf ein historisches Tief von nur 20,5% – minus 5,2% – absacken. Der gleichzeitig erhebliche Verlust auch der Unionsparteien (minus 7,3%) sowie der Erfolg der AfD (12,6%) offenbarten eine wachsende Unzufriedenheit mit der GroKo und Merkel. Vieles an dieser Situation erinnert an die letzten Jahre der Ära Kohl, als von Stillstand, Erschöpfung und vom Nur-noch-verwalten die Rede war. Doch das Ende der Kohl-Ära hing stark mit den Problemen der Wiedervereinigung, u.a. der hohen Arbeitslosigkeit, und einer Konjunkturdelle zusammen. Die letzte GroKo hingegen kann für das deutsche Kapital – kurzfristig gesehen – durchaus als Erfolg gelten. Die Finanzkrise ist (oberflächlich gesehen) überwunden, die Krise der Euro-Zone wird trotz erheblicher Erschütterungen (Griechenland, Brexit) beherrscht, ja Deutschland erlebt sogar einen Wirtschaftsboom, v.a. beim Export, und verzeichnet einen deutlichen Etatüberschuss.
Zwar haben an diesem Boom v.a. die Wirtschaft und die Oberschicht verdient. Die Lohnabhängigen in der Masse haben hingegen nicht nur keine Verbesserung erlebt, sondern viele Beschäftigte, v.a. im Billiglohnsegment, sehen weiter kaum Chancen, aus ihrer prekären Lage herauszukommen. Immerhin zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt seit vielen Monaten eine Entspannung.
Interessant ist also, dass es trotz der insgesamt „guten Lage“ immer mehr Unzufriedenheit mit der GroKo und ihren „Volks“parteien gibt. Sicher spielt dabei das alle anderen überragende Flüchtlings-Thema eine Rolle, doch als alleinige Erklärung reicht das nicht.
Die SPD war zwar der kleinere, allerdings aktivere Koalitionspartner. Initiativen und Projekte kamen meist von ihr, etwa der Mindestlohn oder die Mietpreisbremse (auch wenn der Effekt dieser Maßnahmen klein war oder gegen Null ging). Doch wie so oft wurde der SPD diese „Leistung“ nicht gedankt. Das ist allerdings kein Problem „mangelnder Vermittlung“, wie es die SPD-Spitzen gern darstellen; vielmehr zeigt es, dass die Masse der Lohnabhängigen mehr von „ihrer“ Partei erwartet als Reförmchen im Schneckentempo. Die Erwartung in einen Umschwung wurde zuletzt 1998 von der SPD-Regierung unter Kanzler Schröder und dem damaligen SPD-Chef Lafontaine massiv geschürt – und massiv enttäuscht. Die Agenda-Politik krachte nicht nur als Abrissbirne gegen einen Flügel des „Sozialstaats“-Gebäudes, sie verschreckte auch Millionen von Mitgliedern und WählerInnen der SPD. Mehr noch: 2005 entstand mit der WASG auch eine neue linke „Konkurrenz“-Formation zur SPD. Doch das Gros der WASG war nur vom SPD-Reformismus a la Schröder enttäuscht, aber nicht vom Reformismus insgesamt. So fiel es den „oppositionellen“ FunktionärInnen aus SPD, DGB und Linkspartei nicht besonders schwer, die WASG in die PDS zu führen, die sich fortan „Die Linke“ nannte.
Die SPD indes machte weiter wie bisher. Doch nach der erneuten Wahlschlappe vom Oktober 2017, dämmerte es selbst den verstocktesten SPD-VorständlerInnen (der Basis und den ehemaligen SozialdemokratInnen ohnehin), dass ein Weiter so die Existenz der SPD – zumindest als Partei, die selbst auf Bundesebene eine Regierung stellen kann – gefährdet. Das erklärt wesentlich auch die Erklärung von Parteichef Schulz noch am Wahlabend, dass die SPD für eine erneute GroKo nicht zur Verfügung stehe und eine Phase der Erneuerung und der Selbstfindung brauche.
Die Ereignisse der folgenden Wochen und Monate sind bekannt: das Jamaika-Projekt scheiterte, eine Minderheitsregierung aus Union und FDP wollte niemand, Neuwahlen auch nicht – so blieb nur eine erneute GroKo übrig. Allerdings stand nun die Frage, ob die SPD bei ihrem No-GroKo-Kurs bleiben oder aber sich erneut Merkel als Partner anbieten würde.
Sicher: auch früher gab es immer wieder Mal Unruhe in der SPD über deren Politik oder um die Dauerliaison mit Mutti. Doch diesmal geht es durchaus dramatischer zu.
Das knappe 56%-Ergebnis des Parteitags, wo überproportional viele FunktionärInnen versammelt sind, der offene Affront der Jusos und deren Kampagne „No GroKo“ sind deutliche Zeichen dafür. Die Jusos setzen nun mit ihrer Aufforderung, Mitglied der SPD zu werden, um eine GroKo zu verhindern, noch einen drauf. Dazu kommt noch, dass die Zustimmung des Parteitags zum GroKo-Projekt unter dem Vorbehalt erfolgte, dass der Koalitionsvertrag „substanzielle Verbesserungen im Interesse der SPD“ enthält. Das wolle die SPD-Spitze dazu verwenden, um Druck auf die Union auszuüben. So erklärte SPD-Generalsekretärin Nahles, dass nach-verhandelt wird, „bis es quietscht“. Doch es darf bezweifelt werden, dass die Union dem nachgibt. Wie dieses Pokerspiel ausgeht, weiß freilich niemand.
Welche Krise?
Dass die SPD in einer ernsten Krise steckt, ist offensichtlich. Martin Schulz, als Tiger mit 100% Zustimmung als Vorsitzender gestartet, könnte binnen Jahresfrist als Bettvorleger enden. Doch von solchen Äußerlichkeiten abgesehen – die SPD findet allemal eine(n) neue(n) ChefIn, um ihre nächste Niederlage vorzubereiten -, erodiert die Substanz der Partei. Nicht nur der Rückgang der Mitgliederzahl von rund einer Million um 1990 auf heute 440.000 heute zeigt das. Auch das gesamte Parteileben ist lange nicht mehr so lebendig und oft von Herzblut durchtränkt wie noch vor Jahrzehnten. Zum Glück gibt es immer Mal einen Wahlkampf, wo man feststellen kann: Ja, sie lebt noch, sie lebt noch …
Die einst vitalen und vielfältigen Verbindungen der SPD zur Arbeiterklasse sind heute meist verkümmert, die fast einzige – allerdings äußerst wichtige – Verlinkung mit der Klasse besteht darin, dass die SPD eine personelle, strukturelle und politische Schnittmenge mit der Arbeiterbürokratie aufweist: den zigtausenden reformistischen FunktionärInnen in den Gewerkschaften, den Betriebsräten und den Sozialverbänden. V.a. über diese ist die SPD noch strukturell mit der Arbeiterklasse verbunden.
Diese Verbindung – und damit der Zugriff auf das Proletariat (insbesondere auf die Arbeiteraristokratie, d.h. die relativ besser gestellten FacharbeiterInnen und Stammbelegschaften der großen und mittleren Unternehmen) – macht auch den entscheidenden Unterschied zu den anderen bürgerlichen Parteien aus, die über diese Verbindungen eben nicht oder nicht in diesem Maße verfügen. Diese besondere Eigenschaft der SPD, die Klasse, ihre Organisationen und Aktionen zu kontrollieren, d.h. sie in den Grenzen des Kapitalismus zu halten, macht sie auch für das Kapital in „normalen“ Zeiten wichtig.
Die SPD ist eine bürgerliche Arbeiterpartei: bürgerlich in Hinsicht auf ihre Politik und das innere Regime, proletarisch hinsichtlich ihrer Verbindungen zur Klasse (she. dazu: ABC des Marxismus XXII: Was ist eine bürgerliche Arbeiterpartei?). Jeder Konflikt, jeder Klassenkampf bringt daher – direkt oder indirekt, mehr oder weniger – den Klassenwiderspruch zwischen der Basis (innerhalb wie außerhalb der SPD) und der Führung offen(er) als üblich zur Geltung. Der derzeitige Konflikt in der SPD besteht also keineswegs nur aus der Frage, ob die SPD in die GroKo geht oder nicht. Dahinter steht die viel grundsätzlichere Frage, ob bzw. inwieweit die SPD wie schon seit 1914 ihre Politik den Bedürfnissen des deutschen Kapitals unterordnet oder ob sie den Kampf dagegen wählt. Dabei ist mit „Kampf dagegen“ noch nicht einmal unbedingt gemeint, dass sich dieser gegen den Kapitalismus an sich richtet; schon ein energischer Kampf um wirkliche Reformen auf Kosten des Kapitals wird ja nicht geführt.
Es geht also um die Frage der politische Strategie. Teilweise ist das auch allen in der SPD klar, den Gegnern wie den Befürwortern der GroKo. Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen kann schließlich jeder lesen. Die Befürworter der GroKo (oder anderer Regierungskoalitionen unter Einschluss der SPD) wollen diese Politik weiterführen, weil sie jede antikapitalistische Ausrichtung, ja sogar jeden Anflug daran, ablehnen. Für sie kommen zuerst die Interessen des Landes, sprich des kapitalistischen Systems, selbst auf die Gefahr des Untergangs der SPD.
Etwas anders sieht es auf der Gegenseite aus. Die Jusos u.a. linkere SPDler und GroKo-Ablehner wollen meist ebenfalls keine Alternative zum Kapitalismus, doch sie wollen eine andere, linkere und tw. kämpferischere Politik, die sie – völlig zurecht – als inkompatibel mit einer Regierung an der Seite der Union sehen. Doch, was sie nicht verstehen ist, dass die immer tiefere Misere der SPD wesentlich aus ihrer reformistischen Politik als solcher besteht und nicht nur aus deren rechteren oder linkeren Varianten. Warum?
Was ist Reformismus?
Der Reformismus ist keine Politik, die wesentlich aus Reformen im Interesse der Massen besteht, wie auch viele Linke annehmen. Ob mit Reformen viel oder wenig erreicht wird, hängt viel mehr von der konjunkturellen Situation bzw. der gesellschaftlichen Gesamtsituation und vom Klassenkampf ab. So waren die „großen Zeiten“ des Reformismus in Deutschland der Gründerboom und die Bismarcksche Sozialgesetzgebung nach 1871 sowie der „lange Boom“ in den 1950ern und 1960ern bis Anfang der 1970er, als der Lebensstandard auch der Lohnabhängigen deutlich anstieg. Pikanterweise regierte in dieser Phase der „sozialen Marktwirtschaft“ immer die Union. Als die Boom-Phase in den 1970ern zu Ende ging, war es mit dem sozialen Bergauf auch schnell vorbei.
Nein, das Wesen des Reformismus ist eben nicht an Reformen als solche geknüpft – weder bewirkt er sie immer noch verschwindet er, wenn sie ausbleiben. Sein Wesen besteht vielmehr darin, dass er eine spezifisch bürgerliche Politik in der Arbeiterbewegung darstellt. Deren Hauptziel ist es, das Bewusstsein, die Organisationen und die Aktionen der Arbeiterklasse so zu beschränken, dass sie nicht über den Rahmen des Kapitalismus hinausgehen. Dazu gehört u.a., dass der Staat klassen-neutral wäre, dass der Parlamentarismus als die „normale“ Regierungsform angesehen wird, nicht aber eine Rätedemokratie; dazu gehört, dass eine Bürokratie die Klasse dominiert und als Unterhändler mit dem Kapital unverzichtbar wäre.
Der Nachteil des Reformismus ist nicht nur, dass er nicht zum Sozialismus führt, weil er das Privateigentum und den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen will, er hat zudem den Nachteil, dass er auch die Kampffähigkeit der Klasse permanent untergräbt. Die so geförderte Entpolitisierung und Inaktivität der ArbeiterInnen nimmt er dann noch als Begründung dafür her, dass „mehr ja auch gar nicht möglich sei.“
Aktuell zeigt sich sehr deutlich, dass es zwar einerseits ausreichte, mit etwas radikalerer sozialer Polemik als SPD-Chef neue Mitglieder und Erwartungen zu generieren, doch als dann schon im Wahlkampf nichts Konkretes mehr kam, wurde den Massen bald klar, dass Schulz` Ankündigungen erneut nichts anderes als heiße Luft sind. Dabei hat die SPD noch das große Glück, dass die Linkspartei auch nicht wesentlich linker oder aktiver ist als sie selbst – von der marginalisierten und politisch in vielen Fragen unfähigen „radikalen Linken“ ganz zu schweigen. Ernsthafte Konkurrenz von links muss die SPD also nicht fürchten. (she. dazu auch: http://aufruhrgebiet.de/2017/11/abc-des-marxismus-xxiv-was-ist-reformismus/#more-599)
Die Regierungsfrage
Wenn eine erneute Beteiligung an einer GroKo abgelehnt wird, dann wird das fast immer nur damit begründet, dass die SPD darin ihre Vorstellungen nur unzureichend umsetzen könne und deshalb an Unterstützung verliere. Zweifellos stimmt dieses Argument – greift aber viel zu kurz. Denn nicht kritisiert wird eben, dass jede bürgerliche Regierung letztlich nur Politik im Interesse des Kapitals betreiben kann, denn die Macht liegt eben nicht beim Parlament, sondern beim Kapital und deren Staatsapparat. Natürlich ist aber Daueropposition auch keine Antwort, denn wer nicht regiert, kann auch fast nichts verändern. Die Lösung dieses Dilemmas besteht nun darin, 1. nicht zuerst auf den Parlamentarismus zu setzen, sondern auf den (außerparlamentarischen) Klassenkampf, d.h. Streiks, und Proteste zu unterstützen und den Aufbau von selbstverwalteten, Räte- und genossenschaftlichen Strukturen zu fördern.
Auf diese Organe und die Mobilisierung der Klasse gestützt, kann dann 2. auch eine (revolutionäre) Arbeiterregierung gebildet werden, die nur aus linken und Arbeiterorganisationen besteht und sich zum Ziel setzt, den Kapitalismus zu überwinden, das Kapital zu enteignen und den bürgerlichen Staat zu zerschlagen. Das ist momentan zwar eine propagandistische und keine agitatorische Frage, doch wenn diese Frage nicht diskutiert wird, bedeutet das zwangsläufig, dass die „Regierer“ Schulz und Co. sich durchsetzen, denn sie haben gegenüber ihren reformistischen OpponentInnen insofern die besseren Karten, weil diese auch nur auf eine bürgerliche Regierungsoption setzen – wenn auch auf eine andere als die GroKo.
Gute alte Sozialdemokratie?
Oft wird beschworen, dass die alte SPD besser gewesen wäre. Sicher stimmt das hinsichtlich ihrer früher stärkeren Verankerung im Proletariat. Es stimmt auch, dass die SPD vor 1914 keine Regierungsverantwortung hatte und deshalb keine größeren Schweinereien begehen konnte. Vor allem Linke verweisen oft zurecht darauf, dass die SPD mit ihrer Unterstützung des Ersten Weltkriegs und dem Abwürgen der Novemberrevolution den Rubikon zum bürgerlichen Lager überschritten hätte.
Doch wer sich die Programmatik und die politische Praxis der Sozialdemokratie bereits vor 1914, ja schon seit ihrer Gründung 1875 in Gotha anschaut, der wird feststellen, dass alle wesentlichen Merkmale ihrer späteren Politik und ihrer politischen Methode schon damals angelegt waren und Kernelemente antikapitalistisch-revolutionärer Politik fehlten. Die Programme von Gotha (1875) und Erfurt (1892) – andere gab es vor 1914 nicht – zeigen das sehr deutlich. Die überwiegend demokratischen und sozialreformerischen Forderungen hingen weitgehend in der Luft, weil nirgends gesagt wurde, wie diese a) durchgesetzt werden sollen, es sei denn nach Wahlerfolgen, und wie sie b) mit dem Ziel des Sozialismus verbunden sind. Kein Wort findet man dort zu Streiks bzw. Generalstreiks, zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates, zur Revolution, zu Räten usw. usf. Auch die Kritiken von Marx bzw. Engels an diesen Programmen, so treffend sie oft auch waren, gingen darauf kaum ein.
Nein, die alte SPD war keineswegs einfach „gut“. Ihre Entstehung war zwar einerseits ein Riesenfortschritt für die Arbeiterklasse und den Sozialismus, sie war andererseits aber auch von Beginn eine Partei, die nicht revolutionär war – allenfalls war sie (im weitesten Sinn) zentristisch. Nein, es gab 1914 keinen wirklichen Bruch mit ihrer vorherigen Politik, es gab eher einen Schwenk, der die schlechtesten Aspekte ihrer Politik verstärkt und die besseren endgültig beerdigt hat. Hauptverantwortlich dafür war die objektive Situation, die der Sozialdemokratie als einzigem Faktor, der den Kapitalismus damals vor der Revolution retten konnte, die Macht faktisch übertrug.
Wer den Reformismus der SPD überwinden will, der muss den ganzen Reformismus überwinden, auch den der alten SPD. Ansonsten ist es nur ein Wechsel des Fahrers, ohne den stotternden Motor, das knirschende Getriebe und die Fahrtrichtung zu ändern.
Krise = Chance
Nach der Wahlschlappe der SPD kündigte Schulz an, dass die SPD sich in der Opposition erneuern und ihre Politik kritisch überprüfen wolle. Dabei hatte Schulz aber lediglich die Politik der letzten Jahre im Blick, nicht etwa die (historische) Strategie der Partei. Auch Wagenknecht und Lafontaine von der LINKEN sprachen nur davon, dass sich die SPD wieder auf die Politik von Willy Brandt besinnen solle – als ob sich diese methodisch auch nur in einem wesentlichen Punkt von der Politik seiner Vorgänger und Nachfolger unterschieden hätte.
Eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass der Kapitalismus einmal überwunden werden kann, ist die Formierung eines revolutionären Subjekts. Dafür ist es u.a. notwendig, dass zumindest ein Teil der Klasse vom Reformismus weggebrochen wird, sich in einer revolutionären Partei und in selbstverwalteten, genossenschaftlichen Strukturen organisiert. Der Bruch mit der Sozialdemokratie vollzieht sich v.a. unter zwei Bedingungen: wenn die Gesellschaft sich in einer Krise befindet bzw. wenn die Massen von „ihrer“ Partei enttäuscht sind. Letzteres ist eher dann der Fall, wenn sich die SPD nicht in der Opposition befindet, sondern selbst regiert. Allerdings erwächst aus Enttäuschung allein noch keine antikapitalistisch-revolutionäre Dynamik, dafür ist es zusätzlich notwendig, dass zumindest schon der Nukleus einer revolutionären Partei besteht.
Wie ist die Situation gegenwärtig? Von einer tiefen gesellschaftlichen Krise kann nicht gesprochen werden, eine revolutionäre Partei existiert noch nicht einmal im Ansatz, ebenso genossenschaftliche Strukturen, die sich als antikapitalistisch verstehen. Doch es gibt eine schon länger andauernde Enttäuschung und Abwendung von der SPD, die auch kaum von der Linkspartei aufgefangen wird. Das ist, nebenbei bemerkt, auch ein Indiz dafür, dass ein etwas linkerer Reformismus eben keine Alternative zum rechteren ist und auch kaum als solcher wahrgenommen wird. Doch die gegenwärtige Situation in der SPD kann dazu führen, dass ein Bruch eines relevanten Teils der Mitglieder mit der SPD oder sogar mit dem Reformismus an sich praktisch wird. Deshalb ist es für AntikapitalistInnen sehr wichtig, in diesen Prozess einzugreifen und ihn voran zu treiben.
Was können RevolutionärInnen tun?
- ist es notwendig, die aktuelle Krise der bürgerlichen Arbeiterpartei SPD korrekt zu analysieren. Dabei ist es sowohl nötig, sich vor vorschnellen Schlüssen, welche die SPD bereits am Ende sehen, wie viele Linke immer wieder meinten, zu hüten, als auch, die aktuellen Konvulsionen in der Sozialdemokratie als unerheblich abzutun.
- ist es wichtig, alle Vorschläge als kontraproduktiv zu kritisieren, die eine neue Bewegung oder eine andere Organisation auf links-reformistischer Grundlage vorschlagen, wie es etwa Lafontaine und Wagenknecht tun (she. dazu: http://aufruhrgebiet.de/2018/01/bewegung-ins-nichts-zur-idee-einer-neuen-linken-bewegung).
- Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen in der SPD muss nicht nur in der radikalen Linken geführt werden, sondern von dieser in die SPD, in die Linkspartei und in die Gewerkschaften hineingetragen werden, um dort die tieferen, im Reformismus selbst liegenden, Ursachen der Krise der SPD zu diskutieren. Dafür können Veranstaltungen, Diskussionsforen, Offene Briefe u.ä. genutzt werden.
- Politische Umbrüche und Umformierungen sind nicht nur, ja noch nicht einmal wesentlich Diskussionen. Sie sollten deshalb, wenn möglich, mit praktischen Vorschlägen im Klassenkampf verbunden sein und auf die Schaffung konkreter Strukturen abzielen. Die Linken in SPD und Jusos bzw. jene Kräfte, die ein erneutes Mitregieren auf Bundesebene ablehnen, sollten dazu aufgefordert werden, Klassenkämpfe (aktuell etwa die möglichen Streiks der IG Metall) zu unterstützen und dabei eine größtmögliche Mobilisierung und Entfaltung der Kampfkraft sowie die demokratische Selbstorganisation der Basis (z.B. Streikkomitees) zu fördern. Das würde nicht nur dem Kampf guttun, es wäre auch ein Test für die Ernsthaftigkeit der linken ReformistInnen.
- Sollten sich relevante Kräfte von der SPD wegentwickeln und nach einer Alternative suchen, so ist es unbedingt notwendig, ihnen eine solche anzubieten bzw. sie dazu aufzufordern und bestärken, energische Schritte dazu zu gehen. Welche Dynamik und welche Formen ein solcher Prozess annimmt, kann heute unmöglich vorausgesagt werden. Doch ist es denkbar, dass z.B. ein Fraktionskampf in der SPD (bzw. in den Jusos) geführt wird, eine Oppositionsplattform in den Gewerkschaften entsteht oder sich ein ähnliches Projekt wie 2005 die WASG entwickelt. Selbst ein Entrismus kann dann sinnvoll sein (she. dazu: http://aufruhrgebiet.de/2017/10/abc-des-marxismus-xxiii-was-bedeutet-entrismus/#more-584).
Generell müssen RevolutionärInnen dabei mit einem revolutionären Programm intervenieren und Vorschläge für ein linksreformistisches oder „offenes“ Projekt ablehnen, da diese – wie nicht zuletzt auch die WASG gezeigt hat -, nach einer „Ehrenrunde“ nur wieder ins Lager des Reformismus zurück führen.