Die GIS und die revolutionäre Partei

Hanns Graaf

Der folgende Beitrag befasst sich mit der Frage, warum die Arbeiterklasse eine revolutionäre Partei braucht, welche Aufgabe und welche Struktur sie hat. Dazu besprechen wir den Artikel „Rolle und Struktur der revolutionären Organisation“ vom 12. Februar 2019 der Gruppe Internationaler SozialistInnen (GIS).

Grundsätzlich betont die GIS die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation und lehnt Konzepte, welche diese Notwendigkeit bestreiten, ab – so etwa die Auffassung, dass eine Partei unnötig sei und Räte ausreichen würden, oder die Position, dass eine Partei erst während der Revolution aufgebaut werden könne.

Klassenbewusstsein

Eine zentrale Rolle spielen für die GIS die Ausführungen von Marx zur Frage des Bewusstseins in der „Deutschen Ideologie“: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“

Die GIS fragt nun, wie sich die Arbeiterklasse von dieser Herrschaft befreien kann: „Die Antwort liegt in den unlösbaren Widersprüchen des Systems. Dazu zählen die immer wiederkehrenden periodischen Krisen und der Umstand, dass der Fortbestand dieses Systems von der fortgesetzten Ausbeutung der Arbeiterklasse abhängt. Die Klasse reagiert darauf, indem sie sich zusammenschließt und sich (…) durch kollektive Aktionen zur Wehr setzt, was zuweilen die Form von Aufständen annimmt.“

Und weiter: „Der Klassenkampf ist die Schule für eine Alternative zur kapitalistischen Ausbeutung. Im Verlaufe des Kampfes ist es unvermeidlich, dass einige Arbeiterinnen und Arbeiter sich der Notwendigkeit bewusst werden, über den täglichen Kleinkrieg mit den Bossen hinauszugehen. Sie erkennen die Notwendigkeit eines politischen Programms, welches das System grundlegend infrage stellt.“

Diesen Ansichten können wir zustimmen, jedoch scheint hier die leider im „Marxismus“ verbreitete Ansicht auf, dass Klassenbewusstsein nur politisches Bewusstsein wäre. Doch so wenig es eine strikte Scheidung zwischen dem Bewusstsein der „Klasse an sich“ und dem Bewusstsein der „Klasse für sich“ gibt, sondern nur einen „fließenden“ Übergang (inkl. der Bewusstseinssprünge während zugespitzter Klassenkämpfe) und einen widersprüchlichen Zusammenhang, so wenig gibt es eine scharfe, mechanische Trennung zwischen politischen u.a. „Inhalten“ des Denkens. Es existiert kein Bewusstsein (oder Denken), ohne das Einfließen und Verarbeiten von sozialen Erfahrungen. Gerade Marx betonte wiederholt das Wechselverhältnis von Bewusstsein und Praxis. Da es keine separate politische Praxis gibt, kann es auch kein separates politisches Bewusstsein geben.

Der Klassenkampf darf nicht nur auf den politischen Klassenkampf, der er freilich oft ist, und auf die politische Organisation begrenzt werden. Kritik am und Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus bis hin zu revolutionär-kommunistischen Ideen entstehen nicht nur in der politischen Aktion, in der Partei oder gar überhaupt nur außerhalb der Klasse, wie Lenin im Anschluss an Kautsky meinte, so dass es „in die Klasse getragen“ werden müsste. Es entsteht in vielen Formen und Ansätzen, wenn auch meist unsystematisch und insofern „unwissenschaftlich“ in der Klasse, in ihren Kämpfen und Formierungsversuchen „spontan“. Es gibt wohl kein Ziel, keine Forderung, keine Kampfform, die – bevor sie in ein Programm geschrieben wurden – nicht im Proletariat selbst zuvor entstanden war. Marx selbst gab ein Beispiel dafür, als er die Pariser Kommune als die in der Praxis „endlich gefundene“ Form der Struktur der Übergangsgesellschaft pries.

Der Kampf gegen den Kapitalismus nahm und nimmt oft die Form an, dass die Massen selbstverwaltete und genossenschaftliche Strukturen aufbauen, um wenigstens partiell der ruinösen Lohnarbeiterei, der Ausbeutung und der Konkurrenz zu entkommen. Diese Versuche sind immer mit Vorstellungen – und deren praktischer Umsetzung (!) – verbunden, die sich objektiv und subjektiv tendenziell gegen den Kapitalismus richten und auf eine alternative Gesellschaft zielen. Es liegt auf der Hand, dass die konkreten Erfahrungen, die eine Belegschaft in ihrer Genossenschaft beim Organisieren der Produktion, beim Handeln am Markt, in der Kooperation mit anderen Genossenschaften usw. sammelt, nicht nur „politisches“ Bewusstsein verkörpern. Es ist ebenfalls klar, dass diese Erfahrungen nicht in einer Partei, einer Gewerkschaft oder auch in einem Arbeiter-Rat gesammelt werden können.

Wie fatal sich die Verkennung des Klassenbewusstseins und dessen Verkürzung auf das „Politische“ bemerkbar macht, zeigt das Schicksal der Russischen Revolution. Die einseitige Leninsche Zentriertheit auf Partei und Politik führte nämlich dazu, dass (insbesondere ab März 1921 und dem 10. Parteitag der Bolschewiki) eine Reorganisation des Sowjetsystems, eine Revitalisierung der „Arbeitermacht“ und ihrer Strukturen in Richtung Selbstverwaltung, Genossenschaften, Arbeiterkontrolle, Abbau der Bürokratie usw. unterblieb und alle Kräfte und Versuche dazu (Arbeiterstreiks, Kronstadt, Machnowiade, Arbeiteropposition, kollektive Betriebsleitung usw.) bekämpft wurden. Das notwendige, wenn auch nicht gewollte Ergebnis dessen war der Sieg der Bürokratie über das Proletariat und der Stalinsche Staatskapitalismus.
Letzteres sieht auch die GIS, doch sie begreift nicht, dass eine zentrale Ursache dieser Fehlentwicklung die falsche Konzeption der Bolschewiki war, die weit schwerer wog als die Begrenzung der Revolution auf ein Land, wie es v.a. TrotzkistInnen aller Couleur gebetsmühlenartig wiederholen.

Die GIS bezieht sich – zu recht – auf die Versuche von Marx, eine revolutionäre Partei und eine Internationale aufzubauen. Doch wenn die GIS schreibt, „Die Erste Internationale fiel jedoch nach heftigen Disputen mit den Anhängern Proudhons und Bakunins auseinander“, so geht das an der historischen Wahrheit ein Stück weit vorbei. Die IAA fiel nämlich nicht einfach auseinander, sie wurde auf Betreiben von Marx, der eine Minderheit der IAA verkörperte, faktisch gespalten, um den Einfluss der AnarchistInnen auf die IAA zu bekämpfen. Wahrscheinlich wäre die IAA auch so zerbrochen bzw. gescheitert, doch das Fatale am Vorgehen von Marx war, dass er die Auseinandersetzung mit Bakunin mit undemokratischen, unseriösen und tw. demagogischen Methoden geführt hat. Dabei hat er nicht nur fast alle seine eigenen Anhänger in der IAA verprellt, sondern v.a. jede seriöse Debatte und Kooperation mit dem Anarchismus seinerseits unterminiert (der Anarchismus selbst tat allerdings auch sehr viel, um den Graben zu vertiefen). So wurde der Abgrund zwischen Marxismus und Anarchismus noch tiefer, anstatt ihn zu überwinden – was nicht „Einebnen“ bedeutet. Der Anarchismus war zudem in manchen Fragen hellsichtiger als der Marxismus, etwa in der Frage der Rolle des Staates in der Übergangsgesellschaft und der Rolle der Selbstorganisation des Proletariats. Der „Anti-Anarchismus“ und die komplett einseitige Sicht auf ihn durch die II. Internationale und später durch die Komintern und den Stalinismus waren mitverantwortlich dafür, dass das Genossenschaftswesen und die proletarische Selbstverwaltung grundsätzlich missachtet, unterschätzt oder sogar bekämpft worden sind. Damit verbunden war die einseitige Orientierung der II. Internationale auf das „Politische“, auf Wahlen und den Parlamentarismus.

Russische Erfahrungen

Die GIS unterschätzt (auch in anderen Texten) die wesentliche Verantwortung der Bolschewiki für die Degeneration der Russischen Revolution zum Stalinismus. So führt sie zur Partei der Bolschewiki aus: „Sie war 1914 eine relativ kleine Partei, die jedoch in der Arbeiterklasse präsent war und entschieden gegen den Zarismus und den Krieg Stellung bezog. Gleichzeitig unterstützte sie energisch die Räte als Klassenorgane zur Überwindung der kapitalistischen Herrschaft. Das stimmt so nicht. Wie die heftige Polemik Lenins gegen die „Vaterlandsverteidiger“ in der eigenen Partei in Gestalt der Prawda-Redakteure (darunter Stalin) beweist, war die Haltung der Partei gegen den Krieg durchaus nicht so ganz klar.
Genauso verhielt es sich in der Frage der Sowjets. Weder vor 1905 noch danach (35 Jahre nach der Kommune!) hatten die Bolschewiki eine klare und positive Haltung zu den Sowjets – auch nicht Lenin. Er kritisierte zwar in „Staat und Revolution“ (geschrieben im Sommer 1917) zu recht die Verballhornungen der Marxschen Staatsauffassungen durch Kautsky u.a. Spitzen der II. Internationale, doch auch er selbst hatte keineswegs eine klare marxistische Position zu den Sowjets (Räten). 1905 betrachteten die Bolschewiki und Lenin die Sowjets eher als Konkurrenten der Partei in der Frage der Führung der Klasse. Auch nach 1905 tauchen die Sowjets als wichtige (wenn auch nicht als die einzigen) Klassenorgane in der Programmatik der Bolschewiki kaum auf.

1917 unterstützten die Bolschewiki die Sowjets, sie stellten sogar die Losung „Alle Macht den Sowjets“ auf. Doch als im Sommer 1917 die Bolschewiki in den meisten Sowjets, v.a. in den Soldatenräten, immer noch in der Minderheit waren, schlug Lenin vor, den Aufstand ohne die Räte – und damit ohne oder gegen die hinter den Sowjets stehenden Massen durchzuführen. Das hieß, dass Lenin die Revolution ohne Massenbasis, quasi als Putsch durchführen wollte. Es war die Basis der Partei und auch das Gros der Führung, welche die Situation – und v.a. die Dynamik der Sowjets – besser kannten und richtiger einschätzten als Lenin und einen anderen Kurs durchsetzten, der darauf baute, dass sich die Massen immer mehr den Bolschewiki zuwenden und ihnen die Mehrheit in den Sowjets sichern würden. Diese Orientierung, der sich auch Lenin anschloss, garantierte dann den Sieg des Oktoberaufstands und dessen Unterstützung durch die Massen.

Dass für Lenin (und in gewissem Maße auch für die Partei) die Sowjets u.a. Organe proletarischer Macht (Selbstverwaltungsorgane, Genossenschaften, Gewerkschaften) nur eine untergeordnete Rolle für die Übergangsgesellschaft spielten, zeigt „Staat und Revolution“ sehr deutlich. All diese Organe werden nicht einmal erwähnt! Die Frage der Beziehungen zwischen ihnen und der Partei (die auch unerwähnt bleibt) wird nicht behandelt – obwohl Lenin selbst betonte, dass sein Buch die Aufgaben des Proletariats und der Partei bezüglich des Staates darlegen soll. Diese Aufgabe hat Lenin in wesentlichen Fragen verfehlt. Der GIS ist das offenbar nicht klar.

Immerhin bemerkt die GIS kritisch, die Bolschewiki gingen „immer noch davon aus, dass das Hauptziel der Partei darin bestünde zu wachsen, und sobald sie genügend Unterstützung hätte, die „Macht zu übernehmen“. Kurz gesagt akzeptierten sie noch weitgehend die sozialdemokratische Vorstellung, dass die Partei die Klasse vertritt und die Revolution in ihrem Namen ausführen würde.“ Es ließen sich allerdings auch viele Belege aus Propaganda und Praxis finden, die durchaus zeigen, dass die Bolschewiki nicht nur „Stellvertreterpolitik“ betrieben haben. Der entscheidende Punkt ist dabei aber, dass es die Bolschewiki nach dem Sieg im Bürgerkrieg versäumt haben, die Selbstorganisation, die „Subjektwerdung des Proletariats“ und die dafür notwendigen Strukturen zu reorganisieren. So blieb bzw. wurde das Proletariat erneut politisch und als Eigentümer von Produktionsmitteln entmachtet – zugunsten der Bürokratie.
Die theoretisch-programmatische Flanke dieser Konzeption war die Vorstellung, dass (nur oder vor allem) die Partei die Macht des Proletariats verkörpere und nur sie das sozialistische Bewusstsein in die Klasse tragen könne. So wurde der für die Entwicklung des Kommunismus wesentliche Prozess, die Metamorphose des Klassenbewusstseins vom „nur“ politischen zum sozialen Bewusstsein blockiert.

Diesen grundsätzlichen Fehler in der Partei- und Gesellschaftskonzeption des „Leninismus“ versteht die GIS nur oberflächlich. Sie teilt diesen Makel jedoch mit dem Gros des „Marxismus“, der Lenins „Staat und Revolution“ immer noch für die marxistische Bibel in Sachen Staatstheorie hält. Die GIS stellt richtig fest: „Transformatoren der Gesellschaft sind die selbstorganisierten Klassenorgane (wie bspw. Räte, lokale Komitees, Vollversammlungen etc.). Der Sozialismus kann nicht durch Dekrete eingeführt werden. Er erfordert die bewusste Selbstaktivität der Klasse, die sich das von ihrer eigenen revolutionären Minderheit, der Partei, vorgeschlagene Programm zu eigen macht.“

Lt. GIS sind aber nicht die Masse der ArbeiterInnen als Klasse, nicht die Fülle an Erfahrungen, Bedürfnissen und Fähigkeiten der Klasse und deren Wechselwirkung mit der Partei sind entscheidend, sondern die Vorhut in Gestalt der Partei. Hier ist die ganze fatale Subordination der Klasse unter die Partei und die Apparate schon angelegt. Ein praktischer Ausdruck dieser Konzeption war das geradezu explosionsartige Anwachsen bürokratischer Apparate in Sowjetrussland sofort nach 1917. Statt des Absterbens des Staates, wie es Marx postulierte, erfolgte eine Bürokratisierung der gesamten Gesellschaft, wie es noch nicht einmal der Faschismus vermochte. Statt der Aufhebung der alten Arbeitsteilung der Klassengesellschaften, wie es Marx forderte, wurde eine neue, tw. noch borniertere und reaktionärere Arbeitsteilung etabliert.

Bei aller Betonung der Bedeutung der „selbstorganisierten Klassenorgane“ übersieht die GIS – in typisch „marxistischer“ Manier – das Genossenschaftswesen und soziale (!), nicht nur politische Selbstverwaltungsstrukturen. Immerhin dämmerte es sogar Lenin am Ende, dass diese von wesentlich größerer Bedeutung für die Übergangsgesellschaft sind, als er immer angenommen hatte. Wie man an der Programmatik der GIS und fast aller revolutionär-marxistischen Organisationen leicht ablesen kann, perpetuieren sie die falschen Auffassungen Lenins nur, anstatt aus der Degeneration der Russischen Revolution zum Stalinismus grundsätzliche und umfassende Konsequenzen zu ziehen.

Paradigmenwechsel

In der Beziehung Partei-Klasse erfolgt mit der Machteroberung bzw. -behauptung ein Paradigmenwechsel. In Sowjetrussland war dafür 1921 das entscheidende Jahr. Geht es in der Revolution v.a. um politische Fragen und Aktionen, der eigentlichen Domäne der Partei, wo sie gegenüber der Klasse einen großen Vorsprung an Wissen und Erfahrung hat, und deshalb die Klasse führen kann und muss, ändert sich das dann, wenn der konkrete Aufbau des Kommunismus begonnen wird: die Umwälzung der gesamten Gesellschaft in den Sphären von Wirtschaft, Kultur, Bildung, Alltag usw.

Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft (auch wenn er wie in Sowjetrussland auf sehr niedrigem Niveau beginnt) erfordert die Nutzung und Umwälzung der immensen Ressourcen, Kenntnisse und Erfahrungen der Massen. Diese sozialen Fähigkeiten gehen weit über das hinaus, was die Partei vermag und verkörpert. Lenin wies immer wieder korrekt darauf hin, dass letztlich die Hebung des Kulturniveaus entscheidend sei, um den Kommunismus aufzubauen. Die erzieherische Aufgabe wies er v.a. der Partei zu. Doch er „vergaß“, dass für diese Entwicklung, für die Umwälzung der „Kultur“ der Massen auch Organe erforderlich sind, in denen der Umschlag der Erfahrungen und Kenntnisse erfolgen kann. Diese Organe sind nichts anderes als die verschiedenen Selbstverwaltungsstrukturen. Lenin wollte die Massen durch die Partei erziehen, doch er nahm ihnen alle Möglichkeiten, um die Partei, den „Erzieher“, zu erziehen, wie es Marx einst in den Feuerbach-Thesen formuliert hat.

Falsche Schlüsse

Interessant ist nun, welche Schlüsse die GIS aus dem offenkundigen Scheitern des bolschewistischen Parteitstaats-Systems zieht: „Die Idee einer Massenpartei gehört der Vergangenheit an. Der Zusammenbruch der Sozialdemokratie offenbarten dies ebenso wie die gescheiterten Versuche der Komintern Einheitsfronten mit der Sozialdemokratie zu bilden als die revolutionäre Welle 1921/22 im Niedergang war. Dies war ein Fehler, der von den Trotzkisten in den 30er Jahren wiederholt wurde, als sie im Zuge des sog. „Entrismus“ in die sozialdemokratischen Parteien eintraten und sich damit als revolutionäre Strömung selbst erledigten.“

Es ist geradezu bizarr: Einerseits betont die GIS – richtigerweise – die Notwendigkeit der Partei als „Vorhut“ der Klasse, anderseits sieht sie es offenkundig als Vorzug an, wenn diese möglichst keine Massenpartei ist, also über weniger Masseneinfluss verfügt. Auch das Desaster der Sozialdemokratie rührte nicht einfach aus ihrem „Massencharakter“ – letztlich war immer nur eine sehr kleine Minderheit der Klasse Mitglied der Partei -, sondern aus objektiven Umständen und subjektiven politisch-programmatischen Fehlern.

Komplett absurd wird es aber, wenn die GIS die Einheitsfrontpolitik kritisiert. Zum einen ist die Einheitsfrontpolitik nie nur ein „Bündnis“ mit, sondern zugleich auch immer eine Arena des Kampfes gegen den Reformismus. Auch die Aussage, dass die Einheitsfronttaktik gescheitert wäre, hält einer empirischen Überprüfung aus mindestens zwei Gründen nicht stand: 1. gab es durchaus einige Erfolge, so z.B. der „Offene Brief“ der KPD von 1921. 2. wurde die Einheitsfrontpolitik so, wie sie von der frühen Komintern konzeptionell gedacht war, fast nie angewandt. Wenn da etwas gescheitert war, dann nicht die Einheitsfrontpolitik. Dasselbe trifft auf den Entrismus zu. Wir haben dazu und zu den programmatischen Grundlagen der GIS allgemein an anderer Stelle mehr geschrieben (https://aufruhrgebiet.de/?s=gruppe+internationaler+sozialisten).

Die GIS bezieht sich positiv auf die von den italienischen Linkskommunisten der Comitati d`Intesa formulierte Kritik der Einheitsfront: „Es ist falsch zu denken, dass der Einfluss der Partei in jeder Situation durch Notbehelfe und taktische Manöver ausgeweitet werden kann, da das Verhältnis der Partei zu den Massen zu einem großen Teil durch die objektive Situation bestimmt ist.“

Hier zeigt sich die Verwirrung überdeutlich. Niemand behauptet ernsthaft, dass der Einfluss der Partei in jeder Situation ausgeweitet werden könnte. Wenn das Verhältnis Partei-Klasse „zu einem großen Teil durch die objektive Situation bestimmt ist“, dann heißt das doch wohl auch, dass es zu einem bestimmten Teil auch subjektiv bestimmt ist. Und dieses „subjektiv“ ist nichts anderes als die Programmatik und die Taktik. Die Position der GIS läuft am Ende ganz simpel darauf hinaus, dass Taktiken überhaupt unnötig wären. Politik spielt sich aber immer in Form bestimmter Taktiken ab, ja der Aufbau der Partei selbst ist nur eine Taktik des Proletariats. Die parteipolitische Quintessenz der GIS besteht dann nur darin, eine kleine Minderheit zu organisieren, die ein paar allgemeine kommunistische Weisheiten formuliert und darauf wartet, dass die Klasse – getrieben durch objektive Umstände – sich zum Kommunismus bekennt. Hier drückt sich nicht ein historisch-materialistisches und dialektisches Verständnis aus, sondern eine rein mechanische Vorstellung von geschichtlichem Prozess und Bewusstseinsbildung.

Im Anschluss an ihre Einleitung folgt der Text „Rolle und Struktur der revolutionären Organisation“ von Partito Comunista Internazionalista-Battaglia Comunista (PCIBC) vom Oktober 1978, auf den sich die GIS positiv bezieht.

Leere Abstraktionen

Dieser Text sagt wenig Konkretes und bietet viele Allgemeinplätze. Es gibt viele andere, gehaltvollere Beiträge zur Parteifrage, so dass es sich nicht lohnt, auf diesen Text insgesamt genauer einzugehen. Wir wollen uns deshalb hier nur mit wenigen Passagen befassen, die unsere Einschätzung stützen und einige wesentliche methodische Mängel aufzeigen.

Punkt 2) sagt: „Das Proletariat kann nicht schrittweise eine Position der Stärke in der kapitalistischen Gesellschaft erobern.“

Warum nicht? Ist die Schaffung von Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften u.a., zeitweiligen Strukturen (Räte, Streikkomitees usw.), nicht Beweis genug, dass das Proletariat schrittweise vorgeht (was natürlich Sprünge, etwa im revolutionären Prozess, nicht ausschließt)?!

Unter Punkt 3) wird behauptet: „Aus der bloßen Existenz einer Klasse, die in einem scharfen Gegensatz zu anderen Klassen steht, bildet sich „das Bewusstsein einer gründlichen Revolution, kommunistisches Bewusstsein“. Das wäre schön. Da die Arbeiterklasse sich objektiv in einem antagonistischen Widerspruch – diese Formulierung trifft den Sachverhalt besser als der „scharfe Widerspruch“ – zum Kapital befindet, müsste das Bewusstsein des Proletariats a priori revolutionär-kommunistisch sein. Da dies offenkundig fast nie und schon gar nicht für die gesamte Klasse der Fall ist, kann die These der PCIBC nicht stimmen. Auch wenn das revolutionäre Bewusstsein nicht einfach a la Kautsky und Lenin „von außen in die Klasse getragen“ werden muss oder kann, ist es doch allein schon empirisch bewiesen, dass dieses Bewusstsein erst im Klassenkampf und im Prozess der organisatorischen und politischen Formierung der Klasse zur „Klasse für sich“ (Marx) erfolgen kann. Einen Automatismus, der hier suggeriert wird, gibt es nicht. Davon abgesehen stellt sich die Frage, ob „revolutionäres“ und „kommunistisches“ Bewusstsein überhaupt dasselbe sind und in wieweit „kommunistisches“ Bewusstsein vor dem Kommunismus möglich ist?

Die PCIBC sagt: „Kommunisten müssen die Kämpfe der Klasse mit einer politischen Strategie zum Angriff auf den bürgerlichen Staat verbinden. Sie müssen die Instrumente entwickeln, die die Partei konkret dazu nutzen wird, der Offensive des Proletariats eine Orientierung zu geben, wenn das ganze System in der Krise ist und der Kampf sich verallgemeinert.“

Es ist sicher kein Zufall, dass hier von der Strategie die Rede ist, jedoch nicht von Taktiken, nirgends Taktikern angegeben und einige Taktiken – etwa die Einheitsfront und der Entrismus – abgelehnt werden. Eine Strategie ohne Taktik ist wie ein Kompass ohne Kenntnis des Seewegs – sie ist wertlos. Die Strategie mag ausreichen, um einen „abstrakten Kommunismus“ zu begründen, sie allein ist untauglich für alles, was den realen Kommunismus ausmacht.

Das zeigt sich u.a, in folgender Aussage: „Auf der anderen Seite müssen andere Organisationsformen, wie die „kommunistische Jugend“ als Produkte einer früheren Phase sowohl der bürgerlichen Gesellschaft wie der revolutionären Bewegung angesehen werden und sind heute überflüssig.“ Eine Begründung dafür fehlt natürlich auch hier wieder. Statt einer strikten Ablehnung konkreter Organisations-Formen für besonders unterdrückte Schichten (Jugend, Frauen, nationale Minderheiten usw.) hätte gefragt werden müssen, in welcher Relation diese „Taktiken“ zur Gesamtpartei stehen? Doch immer, wo etwas konkret wird, ist von diesen KommunistInnen nichts zu vernehmen.

Bezüglich der Übergangsgesellschaft heißt es: „Das dialektische Verhältnis zwischen der Klasse und ihrer Partei wird während der Machteroberung und der Errichtung des proletarischen „Halbstaates“ weder verschwinden noch eine qualitative Veränderung erfahren.“

Doch zumindest eine brisante Frage stellt sich doch: Inwiefern ändert ich das Verhältnis zwischen Partei und Klasse nach der Revolution? Dazu haben wir oben unter dem Stichwort „Paradigmenwechsel“ einiges gesagt. Von der GIS bzw. der PCIBC erfahren wir dazu nichts bzw. nur das hier: „Der proletarische „Halbstaat“ wird durch die Form der Räte charakterisiert sein, wie sie vom Proletariat selbst durch die Erfahrung der Russischen Revolution entdeckt wurde.“ Das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Schon der Begriff „Räte“ stellt eine Vereinseitigung dar. In der Russischen Revolution gab es ein System (!) von Sowjets, das aus sozial unterschiedlichen Räten bestand (Arbeiter-, Soldaten-, Bauernräten). In den Soldatenräten dominierten Bauern, nicht Arbeiter. Dazu kam, dass die Sowjets weitgehend nur Repräsentativorgane der unteren Rätestrukturen waren (Betriebskomitees, Abteilungskomitees, Wohngebietsversammlungen, Soldatenkomitees der verschiedenen Einheiten usw.) Die Organisationsarbeit, die politischen Diskussionen, die konkreten Mobilisierungen fanden weitgehend dort statt, nicht in den „offiziellen“ Sowjets. Die Krise des Sowjetsystems, die in der Zeit des Bürgerkriegs begann, bestand v.a. darin, dass diese Basisorgane kollabierten und „austrockneten“.

PCIBC und GIS begehen zudem noch den Fehler, die Macht der Arbeiterklasse bzw. der Werktätigen nur an den Sowjets, die ja v.a. politische Organe sind (und je „höher“, desto mehr), festzumachen und andere Strukturen, die viel direkter mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen verbunden sind, zu übersehen: Basiskomitees, Selbstverwaltungsstrukturen, Genossenschaften usw. Auch hier macht sich die Tendenz, Bewusstsein und Organisation nur als politische anzusehen, fatal bemerkbar.

PCIBC wie GIS hängen einer Parteiauffassung an, die sich wohl in einigen Punkten auf Marx berufen kann und sich tw. positiv von den Einseitigkeiten und Verirrungen der II. Internationale, Lenins oder Stalins abhebt. Doch dabei wird tw. das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Allein die Ablehnung und Nichterwähnung jeder Taktik des Parteiaufbaus bzw. der Frage, wie die Konstituierung des Proletariats zum revolutionären Subjekt konkret erfolgen kann, macht ihre Auffassungen für den Kommunismus wenig produktiv.

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