Gesellschaftliche Produktivstrukturen (GPS) sind Strukturen der Gesellschaft (nicht nur der Wirtschaft), wo Produktivkräfte (PK) zur Anwendung kommen. Unter PK sind hier sowohl die Menschen als ProduzentInnen (und KonsumentInnen) zu verstehen, als auch die Technik. GPS sind ein besonderer Teil der Produktionsverhältnisse (PV), nicht alle PV zählen jedoch als GPS. So gehören etwa die Eigentumsverhältnisse oder das Lohnsystem zu den PV, sie sind jedoch keine GPS. Die Gesellschaftlichen Produktivstrukturen sind durch den Entwicklungsstand der PK geprägt. Sie sind in ihrer Ausgestaltung aber auch von den Klassenverhältnissen abhängig.
Wir wollen das am Beispiel des Steuersystems darlegen. Dieses ist Teil der PV. Beim Steuersystem ist jedoch nicht nur die Frage, wie hoch die Steuern sind, wer sie bezahlt und wie sie verwendet werden von Belang, wichtig ist auch die Frage, wie die Steuererhebung bzw. die Steuereinnahme erfolgt. Ist das Steuersystem sehr kompliziert, ist dafür ein aufwändiger Apparat nötig (Finanzämter, Steuerberater, Steuerfahnder). Die (unproduktiven) Aufwendungen dafür belasten die Gesellschaft und drücken deren Produktivität – wenn man diese nicht am Bruttosozialprodukt misst, sondern an der Bedürfnisbefriedigung. Ein einfaches und damit rationelles Steuersystem kann also die Produktivität der Gesellschaft erhöhen (ohne dass das zunächst etwas am Steueraufkommen ändert), indem der unproduktive Sektor verringert wird.
Ein anderes Beispiel zeigt, welche enorme Bedeutung die GPS bezüglich der Anwendung von Technik in der Gesellschaft haben. Als im 19. Jahrhundert in Deutschland das Eisenbahnsystem entstand, war das nur möglich, weil es einheitliche Normen für Spurweite, Signale usw. sowie einen einheitlichen Fahrplan gab. Selbst die nationale Uhrzeit wurde wg. des Eisenbahnverkehrs eingeführt. Ohne die Etablierung dieser gesellschaftlichen Strukturen hätte es den Siegeszug der Eisenbahn so nicht gegeben. Die GPS setzen also wesentlich die Bedingungen, unter denen sich die PK entfalten können. Die GPS stellen immer gesellschaftliche „Übereinkünfte“ dar (im Kapitalismus durch den Staat gesetzt), die über den Rahmen des Unternehmens oder einzelner Marktsegmente hinausgehen. In der nachkapitalistischen Gesellschaft werden diese Übereinkünfte durch die „assoziierten ProduzentInnen“ demokratisch festgelegt.
Der Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise über die feudale wäre ohne die Einführung von spezifisch bürgerlichen GPS undenkbar gewesen. Die bürgerlichen Revolutionen dienten insofern auch dazu, diese durchzusetzen. Doch die weitere Entwicklung des Kapitalismus hat erwiesen, dass die weitere Entwicklung der GPS oft blockiert wurde. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass es viele Jahre gedauert hat, bis für die diversen Handys einheitliche Ladekabel eingeführt wurden. Für die einzelnen Unternehmen ist das egal – im Gegenteil: der Absatz an Ladekabeln und (damit der Profit) stieg damit an. Für die Nutzer und die Gesellschaft hingegen hatte das nur Nachteile. Da aber weder der Staat, der letztlich Interessenvertreter des Kapitals ist, noch die KonsumentInnen keinen großen Einfluss auf die Ausrichtung der Produktion und das Produktdesign nehmen wollen bzw. können, hielt das Dilemma lange an. Marx hatte recht, als er feststellte, dass der Kapitalismus nur jene PK entwickelt, „für die er weit genug ist“. Das trifft sinngemäß genauso für die GPS zu. Deren Verbesserung scheitert oft an den durch das Privateigentum bedingten bornierten Interessen.
Ein weiteres Beispiel soll das illustrieren. Die Vielzahl privater Versicherungsunternehmen, Renten-, Kranken- und Sozialkassen und die komplizierte Sozialgesetzgebung bringen es mit sich, dass die Verwaltung des Sozialsystems sehr aufwändig ist und selbst einen erheblichen Teil der Sozialbeiträge verbraucht. Die schlechte Organisation der GPS in diesem Sektor mindert das soziale Niveau und die Produktivität der Gesellschaft. Eine nähere Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaft würde zeigen, dass es seht viele Bereiche gibt, wo es um die GPS nicht zum besten bestellt ist.
Ein markantes Beispiel dafür, wie effektive GPS im Kapitalismus verhindert werden, ist der Verpackungsbereich. Obwohl es alle notwendigen Stoffe und Verfahren gibt, um Verpackungen so herzustellen, dass sie wiederverwendet oder recycelt werden können und somit weitgehend Abfall, aber auch die Neuproduktion von Verpackungsmaterial vermindert würde, werden die meisten Verpackungen weggeworfen. Statt dieser Verschwendung wäre ein generelles Pfandsystem notwendig. Dieses wäre auch möglich, scheitert aber daran, a) dass die Hersteller daran kein Interesse, weil keinen Vorteil haben; b) dass Hersteller und Handel das Müllproblem auf die Gesellschaft abwälzen und c) dass das Proletariat (als Erzeuger und Verbraucher) keinen Einfluss darauf hat. Das Ergebnis der absolut mangelhaften gesellschaftlichen Struktur in diesem Bereich ist, dass wir riesige Mengen von Verpackungen erzeugen, die fast alle weggeworfen werden. Das ist für die Gesellschaft und die Natur unsinnig und schädlich, es vergeudet Ressourcen (Arbeitszeit, Energie usw.) und erzeugt viele Probleme. Für den Kapitalismus hingegen, v.a. für das Kapital ist diese Situation von Vorteil, weil so mehr Neuproduktion generiert wird.
Ein weiteres Beispiel ist der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV). Dort würde eine kostenlose, aus steuerlichen Umlagen finanzierte Nutzung erhebliche Vorteile haben: keine Fahrscheine, kein Schwarzfahren, keine Kontrollen, keine Fahrkartenautomaten und TicketverkäuferInnen. Auch der Stalinismus hat den Nulltarif – trotz erheblicher Subventionen – nicht eingeführt, obwohl er es hätte problemlos tun können. Der Kapitalismus hat daran kein Interesse und es fehlt ihm auch der administrative Zugriff der Gesellschaft, da das Unternehmenshandeln (bzw. das der Kommunen) nicht Sache der „nationalen Politik“ sind und die NutzerInnen des ÖPNV nicht mitbestimmen können.
Ein nachkapitalistische Gesellschaft hätte die zentrale Aufgabe, GPS zu etablieren, die eine höhere gesamtgesellschaftliche Produktivität bewirken. Das ist ihr auch möglich, weil sie das Privateigentum an PM, welches ein höheres Niveau der GPS verhindert, überwunden hat und die Möglichkeit bietet, dass die gesamte Gesellschaft, die dann nicht mehr in zahlreiche antagonistische Interessen gespalten ist, gemeinschaftlich entscheiden kann, wie eine Struktur am rationellsten funktionieren kann. Werden die GPS in diesem Sinne umgebaut, wird sich – ohne dass deshalb das Niveau der Technik steigen oder größere Investitionen nötig wären – die Arbeitsproduktivität der Gesellschaft erhöhen. Für den Kapitalismus hingegen wären solche Maßnahmen weder möglich noch erwünscht, denn sie würden den Unternehmen und der Gesamtwirtschaft schaden.
Eine neue Qualität der GPS ist nur nach der Überwindung des Kapitalismus und des Privateigentums möglich – unter der Bedingung, dass dann das Proletariat das Subjekt gesellschaftlicher Veränderung ist und nicht eine Staatsbürokratie. Aufgrund des Staatseigentums gab es in den stalinistischen Ländern in einzelnen Bereichen Ansätze zu rationelleren GPS als im Privatkapitalismus, doch diese blieben sehr beschränkt. Zudem existierten daneben viele unproduktive Strukturen, die es in diesem Ausmaß im Westen nicht gab (staatliche und betriebliche Bürokratie, Repressionsorgane, politische Apparate). Dadurch wurden alle positiven Effekte hinsichtlich der GPS letztlich wieder zunichte gemacht.