Die greise Demokratie

Paul Pfundt

Die bürgerliche Demokratie enthält viele Elemente, die einer wirklichen „Volksherrschaft“ (so die eigentliche Bedeutung des Wortes), entgegen stehen. Für den Marxismus gibt es allerdings kein Volk, für sie besteht die Bevölkerung bzw. die Nation aus Klassen. Der Kapitalismus ist wesentlich vom Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat geprägt. Die Demokratie, der Staat, das Recht, die Ideologie usw. zählt der Marxismus zum Überbau der Gesellschaft, deren Basis die materiellen Verhältnisse, d.h. die Produktionsverhältnisse, darunter die Eigentumsverhältnisse, sind. Diese bestimmen, wie Engels sagte, „in letzter Instanz“, den Überbau, was eine Wechselbeziehung zwischen zwischen beiden inkludiert. Der Überbau entspricht den ökonomischen und Klassenverhältnissen und ist primär Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse der Kapitaleigner. Entgegen den Behauptungen, dass der Staat neutral über den Klassen stünde, ist er v.a. ein Instrument, das dem Erhalt und dem Management der bürgerlichen Gesellschaft dient.

Das System der bürgerlichen Demokratie entstand mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und wurde im Zuge der bürgerlichen Revolutionen zur „normalen“ Herrschaftsform der Bourgeoisie, die jedoch je nach Umständen auch zu einer Form der Diktatur greifen kann. Die bürgerliche Demokratie entspricht den Bedingungen des kapitalistischen Marktes, wo sich Warenbesitzer – der Kapitalist als Produktionsmittelbesitzer und der „doppelt freie“ Proletarier als Besitzer seiner Ware Arbeitskraft – gegenübertreten. Die relativ selbstständige Sphäre von Politik und Demokratie ist nur ein spezifischer Ausdruck dessen. Die Demokratie war von Beginn an damit verbunden, dass sie von der Ökonomie relativ separiert war und diese nur indirekt tangierte.

Schon Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. in der Französischen Revolution von 1789, machte die Arbeiterklasse ihre Ansprüche geltend. Sie ermöglichte als „kämpfende Masse“ der Bourgeoisie den Sieg, wurde aber für die neuen Herren auch zunehmend zur Bedrohung. Deshalb suchte das Bürgertum nach einem Kompromiss mit dem Adel und den mit ihm verbundenen Schichten und Strukturen. Der alte unterdrückerische und bürokratische Staatsapparat wurde nicht zerschlagen, sondern nur modifiziert.

Die Demokratie enthielt – variiert entsprechend den unterschiedlichen nationalen Bedingungen – viele undemokratische Elemente. So hatten etwa Frauen oder Menschen unter 21 Jahren oft kein Wahlrecht. Auch Arme waren davon ausgeschlossen, indem nur wählen durfte, wer Steuern zahlte, also die Begüterten. Deren Privileg des Zugangs zu höherer Bildung sicherte ab, dass alle höheren politischen und Staatsämter den unteren Schichten verschlossen blieben. Erst der jahrzehntelange Kampf von demokratischen Kräften und v.a. der Arbeiterbewegung machte die Demokratie demokratischer. Jedoch ist es nicht gelungen (und kann auch nie gelingen), zu ändern, dass die bürgerliche Demokratie die auf dem Privateigentum basierenden Strukturen und den Staatsapparat kaum tangiert. Wir können letztlich nur das Personal des Parlaments und die Spitzen von Staat und Regierung wählen, jedoch nicht den Beamtenapparat, die Eigentümer der Betriebe und Banken, die Führung von Polizei und Armee usw. Der wichtigste Paragraph jeder Verfassung ist die Garantie des Rechts auf Privateigentum (an Produktionsmitteln). Das Privateigentum ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben, aber da es quasi immer schon existiert hat, bedarf es einer solchen Festlegung auch gar nicht. Marx hatte völlig recht, als er schrieb, dass das Recht nie höher stehen könne, als die materiellen Verhältnisse, über denen es sich erhebt. Zuletzt hat z.B. das ablehnende Urteil des Bundesverfassungsgerichts (das als vom Volk ungewählte Institution selbst undemokratisch ist) gegen den Berliner Mietendeckel klar gezeigt, wessen Interessen es vertritt.

Demokratie aktuell

Auch heute noch gibt es viele undemokratische Bestimmungen. Zu diesen gehört z.B. die Regelung, wer wahlberechtigt ist. So haben in Deutschland lebende und arbeitende Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht, höchstens bei Kommunalwahlen. Obwohl auch diese Bürger zum Wohlstand des Landes beitragen, dürfen sie über dessen Schicksal kaum mitbestimmen. Ein Element der Begrenzung, ja der Manipulation der Demokratie als „Ausdruck des Volkswillens“ stellt auch die Altersregelung dar. Während Menschen unter 18 nicht wählen dürfen, obwohl sie nicht nur oft schon im Arbeitsprozess stehen, sondern auch die Zukunft des Landes wesentlich prägen, dürfen Ältere unbegrenzt wählen. Natürlich sollen auch ältere Menschen das Recht haben, an Wahlen teilzunehmen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie es damit aussieht, wenn z.B. eine über 80jährige, die geistig nicht mehr voll fit ist und am sozialen Leben kaum noch teilnehmen kann – umso weniger in der Zukunft, für deren Gestaltung ja gewählt wird?

Diese Benachteiligung der Jüngeren gegenüber den Älteren bedeutet, dass die Interessen ersterer zu kurz kommen. Es ist zudem bekannt, wie etwa Altenheimbewohner dazu gebracht werden, eine bestimmte Partei zu wählen, weil das Personal ihnen dass „nahelegt“. Natürlich ist es auch so, dass ältere Menschen eher konservativ eingestellt sind und größere Veränderungen nicht wollen. Dieser Konservatismus kommt v.a. den etablierten Parteien, in diesem Fall CDU/CSU und SPD, zu gute. Wahlanalysen zeigen, dass v.a. die Union stark von Rentnerstimmen abhängt. Das Alters-Problem verschärft sich noch dadurch, dass die Lebenserwartung über Jahrzehnte gestiegen ist und daher der Anteil von Rentnern an den Wahlberechtigten immer weiter zugenommen hat und weiter zunimmt.

Alternative

Verschiedene linke Kräfte haben sich für Veränderungen des Wahlrechts eingesetzt, u.a. für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder für das aktive und passive Wahlrecht für „Nicht-Deutsche“, die hier leben und arbeiten. Diese Forderungen müssen unterstützt werden!

Die Frage des Wahlrechts für Ältere jedoch ist offenbar ein Tabu. Natürlich kann es nicht darum gehen, älteren Menschen das Wahlrecht zu entziehen. Schon allein die Frage der Renten, der Altersbetreuung und der Gesundheitsvorsorge, die für Ältere zentral sind, erfordert, dass sie ihre Stimme einbringen können. Ein Problem hierbei ist aber, dass sie sich oft aufgrund des Altern, der Gesundheitsprobleme, der Trennung vom Produktionsmilieu usw. kaum selbst engagieren und einbringen können und eben nur ihre Wahlstimme haben. Hier zeigt sich auch, dass die bürgerliche Demokratie eine indirekte, eine Scheindemokratie ist, bei der die Wählerschaft nur ihre Vertreter bzw. Parteien wählen kann, die Regierung, die staatliche Bürokratie usw. jedoch kaum kontrollieren, geschweige denn beeinflussen oder gar absetzen kann. V.a. seit den Merkel-Regierungen zeigt sich immer mehr, dass das Land unter der Fuchtel eines Filzes aus Politik, Kapital, Staatsapparat, Medien, „Wissenschaft“, Kultur usw. steht. Dieses „Herrschafts-Konglomerat“, diese „Blase“ ist nicht nur oft unfähig, Probleme rational zu lösen (Großprojekte, Digitalisierung, Bildung, Bürokratisierung usw.), es verbreitet eine Atmosphäre von Angst und lähmt das Land und unterwirft es immer stärker dem Finanzkapital.

Um jene sozialen und Altersgruppen, deren Arbeit das soziale Leben trägt, stärker bei Wahlen zur Geltung zu bringen, ist es notwendig, deren Stimmanteil zu vergrößern. Das betrifft wesentlich die werktätigen Schichten, v.a. die Arbeiterklasse. Diese Wähler sollten deshalb pro Person zwei Stimmen haben, alle anderen, nichtarbeitende Schichten, v.a. die Rentner, hingegen nur eine. Damit letztere ihre Interessen trotzdem zur Geltung bringen können, sollten sie allerdings durch „Fachgremien“ vertreten sein, etwa durch einen bundesweiten „Seniorenrat“, der bei den für Rentner direkt relevanten politischen Entscheidungen mit am Verhandlungstisch sitzt und evtl. sogar ein Vetorecht hat. Bei unüberbrückbaren Differenzen ginge dann ein Gesetzesentwurf in den Vermittlungsausschuss, wie das etwa bei Abstimmungen im Bundesrat üblich ist. Dieses Verfahren entspricht zwar nicht dem rein formellen Verständnis der bürgerlichen Demokratie – ein Wähler eine Stimme – ist jedoch für die Bedürfnisse der Gesellschaft sinnvoll und entspräche den Veränderungen, die sich über Jahrzehnte in der Gesellschaft vollzogen haben. Es wäre zudem ein Schritt zu einer „direkteren Demokratie“.

Natürlich kollidiert dieser Vorschlag auch mit der Traditionen der bürgerlichen Parteiendemokratie. Doch diese entsprach den Bedingungen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die heutige kapitalistische Gesellschaft ist aber deutlich anders strukturiert, v.a. hinsichtlich der weit größeren Bedeutung von Wissenschaft und Technik und der wesentlich komplexeren sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Parteien und das Parlament sind heute immer weniger in der Lage, mit diesen Strukturen und deren Problemen umzugehen.

Parteien sind primär politische Strukturen, ihre soziale und wissenschaftlich-technische Kompetenz hinkt immer mehr hinter den sozialen Anforderungen hinterher. Der zunehmende Bürokratismus ist nur ein Ausdruck dessen. Schaut man sich an, welche Berufsgruppen im Parlament sitzen, dann fällt sofort die krasse Unterrepräsentation von Naturwissenschaftlern, Technikern und „praktischen“ Berufen auf. Doch damit nicht genug. Die wissenschaftlichen Beratungsgremien von Parlament und Regierung sind nicht unabhängig, sondern von Politik, Staat und Kapital beeinflusst und hängen finanziell von ihnen ab. Kein Wunder, dass etwa die Energiewende, für die Jahr für Jahr 20-30 Milliarden Euro in Deutschland ausgegeben werden, so amateurhaft, ja geradezu dümmlich umgesetzt wird. Hier sind Ideologen, Amateure und Lobbyisten aller Art am Werk.

Die bürgerliche Demokratie war noch nie wirklich Ausdruck von „Volksherrschaft“, sondern immer ein recht undemokratisches Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie, doch angesichts der Veränderungen, die der Kapitalismus in den letzten 100 Jahren durchgemacht hat, wird sie immer anachronistischer, bürokratischer und für die Anforderungen der Gemeinschaft unbrauchbarer. In der Regel wird die bürgerliche Demokratie als die einzig denkbare Form von Demokratie dargestellt, proletarische Rätedemokratie, Selbstverwaltung und Formen direkter Demokratie, v.a. hinsichtlich einer effektiven Kontrolle werden ignoriert. Der Parlamentarismus wird immer mit autokratischen oder terroristischen Regimen verglichen und diesen – zu recht – vorgezogen. Doch der entscheidende Frage müsste sein, inwiefern die bürgerliche Demokratie den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht wird. Eine solche Betrachtung aber ließe die bürgerliche Demokratie wahrlich alt aussehen.

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