Hanns Graaf
Das schwache Abschneiden der LINKEN bei der vergangenen Bundestagswahl, der sich seit Jahrzehnten verstärkende Niedergang der SPD und die Inaktivität und „Staatstreue“ der Gewerkschaften werfen die Frage auf, wie es erreicht werden kann, dass die Lohnabhängigen und die Mehrheit der Bevölkerung wieder über eine Partei verfügen, die ihre Interessen konsequent vertritt. Dazu müsste diese konsequent antikapitalistisch eingestellt sein – doch selbst ein Reformismus, der stärker auf klassenkämpferische Mobilisierung setzt, wäre ein gewisser Fortschritt. Es ist eine bittere Tatsache, dass die großen Organisationen, die sich strukturell stark auf die Arbeiterklasse stützen, die Gewerkschaften, die SPD und die LINKE, nicht bereit sind, sich gegen die Zumutungen des Systems wirklich zu wehren. Keine dieser Organisationen bewegt sich, um gegen die Teuerungswelle, die explodierenden Wohn- und Energiekosten, die zusätzlichen Milliarden für die Rüstung usw. usw. zu kämpfen. Die Misere nur zu kritisieren, wie die LINKE, ist aber noch kein Widerstand. Eine Alternative zu ihnen, etwa in Gestalt der „radikalen“ Linken“ ist nicht in Sicht. Eine starke und kämpferische Formation, die den Namen „Arbeiterpartei“ wirklich verdient, gibt es nicht.
Arbeiterparteitaktik
Was tun angesichts dieses Dilemmas? Die revolutionär-marxistische Linke, v.a. trotzkistischer Provenienz, entwickelte einst die Arbeiterpartei-Taktik. Diese besagt, dass in Ländern, wo es keine Arbeiterpartei gibt, für deren Aufbau gekämpft werden soll. Im Prozess der Schaffung einer solchen Formation wäre es die Aufgabe von Linken, ein revolutionäres Programm als politische Grundlage einer solchen Partei vorzuschlagen. Der Aufruf für eine neue Arbeiterpartei soll sich nicht nur an Linke und revolutionäre Kräfte richten, sondern auch an oppositionelle und kämpferische Milieus der Arbeiterklasse. Dazu zählen auch Jene, die vom Reformismus „ihrer“ Organisationen enttäuscht sind.
Auch in Deutschland gab es dazu immer wieder Absetzbewegungen vom Reformismus: der SDS, die 68er Linke, die WASG, die Aufstehen-Bewegung und die zu Unrecht als „rechts“ denunzierte Corona-kritische Bewegung. All diese Milieus wären ganz oder in Teilen (Corona-Kritiker) dafür zu gewinnen gewesen, eine neue, gegenüber Staat und Kapitalismus kritische bis ablehnende Partei aufzubauen. Dazu ist jedoch nie gekommen. Aus der Corona-kritischen Bewegung ging zum einen die Partei „Die Basis“ hervor, die aber nicht antikapitalistisch, sondern allenfalls demokratisch-reformistisch ist, zum anderen entstand die „Freie Linke“, als kleinere, in sich differenzierte linke antikapitalistische Struktur.
Ein Grund dafür, dass bisher aus diesen mehr oder weniger alternativen Ansätzen zum Reformismus nie eine neue Arbeiterpartei entstand, war die mangelhafte politische Substanz der radikalen Linken und ihre Unfähigkeit zur Analyse des und zum Kampf gegen den Reformismus. Insbesondere bei der WASG und bei Aufstehen hat sich gezeigt, dass es die Reformisten dort verstanden haben, selbst solche Krisen- und Absetzbewegungen vom etablierten Reformismus entweder wieder in dessen Mainstream zu integrieren (WASG) oder überhaupt zu ruinieren (Aufstehen). Daher ist es wesentlich bei der Anwendung der Arbeiterparteitaktik, dem Reformismus und seinen Manövern Paroli zu bieten. Gelingt dies nicht, ist die Gefahr sehr groß, dass die Ablösung des sozialdemokratischen Reformismus nur zu einem neuen, “linkeren” reformistischen Hindernis auf dem Weg der klassenkämpferischen revolutionären Organisierung des Proletariats führt.
Ein Beispiel für die Anwendung der Arbeiterpartei-Taktik ist die Orientierung, die Leo Trotzki für die „Bewegung für eine Labourparty“ in den USA in den 1930er Jahren entwickelt hatte. Sie folgte dem Prinzip, sich an die Arbeiter, die eine Kampforganisation zur Durchsetzung ihrer Interessen aufbauen wollen, zu richten und dabei zu versuchen, sie von den Reformisten, welche die Bewegung dominieren (können), wegzubrechen. Noch heute ist die Situation in den USA so, dass es zwar Gewerkschaften gibt, aber keine politische Partei, die sich auf die Arbeiterklasse stützen oder beziehen würde. Schon immer dominieren zwei offen bürgerliche Parteien, die Republikaner und die Demokraten, dort die Politik. Auch wenn letztere einige Beziehungen zu den Gewerkschaften haben, ist diese Verbindung keine strukturelle und so fest wie etwa die zwischen SPD und DGB. Daher ist bzw. wäre die Schaffung einer wirklichen Arbeiterpartei auch heute eine zentrale Aufgabe der Linken in den USA.
Die Gewerkschaften
Der organisierte Reformismus hat hierzulande die Arbeiterklasse fest im Griff – politisch und organisatorisch. Die Arbeiterklasse, die noch immer das Gros der über 40 Mill. Beschäftigten und damit auch der Bevölkerung stellt, wird v.a. durch die Gewerkschaften dominiert. Die DGB-Gewerkschaften haben aktuell ca. 6 Mill. Mitglieder, die den bewussteren Teil der Klasse darstellen. Die Masse der Arbeiterschaft weiß sehr genau, dass sie ohne die Gewerkschaften weit weniger in der Lage wäre, sich gegen die Unternehmer zu wehren. Sie können auch völlig zu recht darauf verweisen, dass sie mittels der Gewerkschaften in der Lage waren, wichtige Errungenschaften zu erkämpfen und zu verteidigen wie etwa die 35-Stunden-Woche (IG Metall), die Lohnfortzahlung bei Krankheit oder das Tarifsystem.
Zugleich hat die Gewerkschaftsbürokratie, die politisch und personell eng mit der SPD verbunden ist, jedoch auch dafür gesorgt, dass die Beschäftigten und ihre Kämpfe den Rahmen des Systems nicht sprengen und die Herrschaft und die Profite des Kapitals nicht in Gefahr bringen. Die reformistische Ideologie in Gestalt der Friedenspflicht, des Standortdenkens, der Sozialpartnerschaft u.a. Auffassungen dominiert heute ideologisch den größten Teil der Lohnabhängigen. Dieser Reformismus ist zugleich ein degenerierter Ausdruck von Klassenbewusstsein, er ist eine spezifische Form bürgerlicher Ideologie. Immerhin gehört aber zu diesem reformistischen Bewusstsein auch die Einsicht, dass mitunter für die eigenen Interessen gekämpft werden und man sich organisieren muss. Die wesentlichen sozialen Errungenschaften des Reformismus – besser: des Klassenkampfes – wurden schon vor Jahrzehnten erkämpft und sind weniger Erfolge des Reformismus oder eines linkeren Reformismus als vielmehr Kompromisse, die entweder einer tiefen Erschütterung des Kapitalismus, wie nach 1918, als die Betriebsräte in Deutschland legalisiert wurden, oder einem längeren Konjunkturaufschwung wie dem Langen Nachkriegsboom mit größerem Verteilungsspielraum geschuldet waren.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Situation global und in Deutschland aber deutlich gewandelt. Die Krisen kommen fast im Jahrestakt, immer größere Teile der Lohnabhängigen und der Bevölkerung rutschen sozial ab. Sozialsysteme und Löhne geraten immer mehr unter Druck. Die Krisenpotentiale des Kapitalismus, z.B. in Gestalt explodierender Staatsschulden und eines wuchernden spekulativen Finanzsektors nehmen zu. Angesichts dieser zunehmenden Bedrohungen erweisen sich die Gewerkschaften immer mehr als stumpfe Waffen. Die Schuld daran trägt aber gerade der Reformismus, mit seinem vorauseilenden Gehorsam, seiner Taktik der Entpolitisierung bzw. des Auslagerns der Politik auf die SPD, den politischen Arm des Reformismus, der Behinderung der Selbstorganisation der Beschäftigten (z.B. demokratisch gewählte Streikkomitees statt von oben eingesetzte) und der Akzeptanz von Regelungen wie der Friedenspflicht oder des Verbots von politischen Streiks und Generalstreiks. Diese Strategie setzte sich schon Ende des 19. Jahrhunderts durch und ist kein konjunkturelles, sondern ein grundlegendes Merkmal des Reformismus.
Die „unruhigeren“ Zeiten, in denen wir leben, werden die Klasse aber zwingen, aktiver zu werden. Das stellt auch den Reformismus als Vermittlungsagentur zwischen Kapital und Arbeit vor Probleme, schafft Risse und eröffnet die Chance, dass die Arbeiterklasse erkennt, dass die Bürokratie ihre Interessen nicht vertritt, sondern ausverkauft. Um eine solche Situation ausnützen und erfolgreich sein zu können, müssen Linke aber a) den Reformismus grundsätzlich, d.h. methodisch, kritisieren und b) in den Gewerkschaften und Betrieben oppositionelle Basisstrukturen bis hin zu einer revolutionären Gewerkschaftsfraktion aufbauen und c) auf die proletarische Selbstorganisation und Selbstverwaltung orientieren statt auf die Ausnutzung des Staates.
Die SPD
Die Mitgliederzahl der SPD hat sich seit 1990 mehr als halbiert: von ca. einer Million auf unter 400.000. Mit den Agenda-Reformen Schröders haben sich Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern als Mitglieder bzw. als Wähler von der SPD abgewandt. Heute stellt sie sich v.a. Partei der Arbeiteraristokratie, der Mittelschicht und der Rentner dar. Trotzdem hat sie ihren Zugriff auf den Gewerkschaftsapparat behalten und dominiert so immer noch politisch und strukturell die gesamte Klasse. Dieser Umstand ist der Hauptgrund, weshalb die SPD noch eine Arbeiterpartei darstellt – eine bürgerliche Arbeiterpartei. Diese verfolgt einerseits vollständig bürgerliche Politik, die auch nicht immer linker als die anderer Parteien ist. Wie die Agenda-Politik oder aktuell ihre Rüstungsoffensive oder historisch ihre offen konterrevolutionäre Rolle ab 1918 gezeigt hat, kann sie in bestimmten Momenten sogar das Hauptinstrument der Bourgeoisie sein, um reaktionäre Angriffe umzusetzen und das System zu retten. Andererseits – und das ist der Grund, warum die SPD für das Kapital wichtig ist – ist sie über die Gewerkschaftsbürokratie und die Betriebsräte mit der Arbeiterbewegung verbunden und spielt dort die Rolle des Managers, Aufsehers oder Zuchtmeisters für das Kapital.
So lange die SPD diese Rolle nahezu unangefochten inne hat, ist es unmöglich, dass die Arbeiterklasse den Kapitalismus überwinden kann – selbst wenn es dafür günstige Bedingungen geben sollte. Die Überwindung der Dominanz der Sozialdemokratie und der Aufbau einer relevanten revolutionären Alternative ist wie das Bohren dicker Bretter. Es erfordert zudem die Anwendung geeigneter Taktiken, v.a. der Einheitsfronttaktik. Die „radikale Linke“ ist derzeit und schon lange leider nicht dazu in der Lage und stellt in ihrem jetzigen politischen wie organisatorischen Zustand keine Gefahr für den Reformismus dar. Um zu einem realen Faktor im Kampf gegen den Reformismus werden zu können, muss sie sich komplett und grundlegend erneuern.
Die Linkspartei
Die LINKE ist die zweite bürgerliche Arbeiterpartei in Deutschland und organisiert derzeit ca. 60.000 Mitglieder. Obwohl sie insgesamt derselben reformistischen Logik folgt wie die SPD, weist sie einige Besonderheiten auf: sie ging aus einer stalinistischen Partei, der SED, hervor, sie ist v.a. in Ostdeutschland verankert und widmet sich daher stärker Problemen, die die neuen Bundesländer betreffen. In einigen Fragen, v.a. der Außen- und Sicherheitspolitik und der Sozialpolitik, vertritt sie meist linkere Positionen als die SPD. Ihre Strategie zielt auf das Mitregieren in rot/rot/grünen Regierungen auf Landes- und Bundesebene. Daher kritisiert sie zwar die inkonsequente oder sogar unsoziale Politik der SPD, z.B. deren Hartz-Gesetze, jedoch nicht deren grundlegendes reformistisches Politikverständnis. Die Politik der LINKEN ist von einer schwankenden Balance zwischen Kritik und Anpassung geprägt. Wie die SPD folgt auch die LINKE wesentlichen bürgerlichen Ideologien und Projekten wie dem Klimaalarmismus, der Energiewendepolitik, der Atomphobie, dem Genderismus oder der Corona-Hysterie. Das führt dazu, dass die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung missachtet werden, jeder Bezug auf das Proletariat außen vor bleibt und die Reformisten den „grünen“ Bewegungen hinterher laufen oder sie gar noch links überholen wollen.
Neben den Gewerkschaften und den Parteien stützt sich der Reformismus aber auch auf diverse „sozialstaatliche“ Strukturen und Verbände. Sozial gesehen ruht er auf und repräsentiert er v.a. drei soziale Milieus: 1. die Arbeiterbürokratie, d.h. die hauptamtlichen Funktionäre von DGB, SPD, Linkspartei und Sozialverbänden, 2. die Arbeiteraristokratie, i.w. die Facharbeiter und Stammbelegschaften der Großunternehmen, die sozial besser gestellt sind als der Durchschnitt der Arbeiterklasse, 3. Teile der lohnabhängigen Mittelschicht. Aus der reformistischen Einstellung der meisten Arbeiterinnen und Arbeiter darf jedoch nicht mechanisch geschlossen werden, dass diese für den Klassenkampf verloren wären. Ja, oft genug sind es gerade die „schweren Bataillone“, die besonders kämpferisch sind und aufgrund ihrer zentralen Stellung in den Wertschöpfungsketten den größten sozialen und ökonomischen Druck ausüben können. Das zeigte sich zuletzt z.B. im Agieren der GdL.
Bedingungen
Die Auffassung, dass eine neue linke Partei nötig wäre, die wirklich Widerstand entwickelt und nicht nur wie die LINKE oder die SPD den Kapitalismus mitverwaltet, teilen in Deutschland Millionen Menschen, die sich ein besseres Leben als das im Kapitalismus wünschen und sich vom Reformismus nicht (mehr) vertreten fühlen. So gesehen wäre es an der Zeit, mit dem Aufbau einer solchen Partei zu beginnen. Doch diese Sicht wäre zu einfach. Auch die Arbeiterparteitaktik ist, wie jede Taktik, an bestimmte Bedingungen – subjektive wie objektive – gebunden.
Die objektiven Bedingungen sprechen scheinbar zunächst gegen die Anwendung der Arbeiterparteitaktik. Zum einen gibt es bereits zwei reformistische Parteien, in denen weder ein Fraktionskampf tobt, noch eine offene Krise besteht oder ein klar linkerer Flügel existieren würde. Der Klassenkampf liegt aktuell am Boden, größere Streiks oder Proteste finden nicht statt – obwohl die Inflation, die massive Aufrüstung und der Ukrainekrieg dafür Anlässe genug bieten. Anderseits könnte diese Ruhe auch bald in Sturm umschlagen …
Daneben gibt es aber auch ein wachsendes Potential, das vom Reformismus enttäuscht ist und mitunter nach einer linken Alternative sucht (WASG, Aufstehen). Und: die Bindungskraft des Reformismus nimmt ab.
Jede Taktik bedarf einer Kraft, die in der Lage ist, sie anzuwenden, die stark genug ist, politischen und sozialen Druck zu erzeugen. Dieser Faktor wäre normalerweise, v.a. angesichts der Krise des Reformismus, die „radikale Linke“. Doch diese ist sowohl zu klein und zu zersplittert als auch politisch zu schwachbrüstig, um als Initiatorin oder gar Trägerin größerer Aktionen in Frage zu kommen. Allein schon ihr Sektierertum, ihre völlig mangelhafte Kooperation sind Ausdruck ihrer Degeneration. Fast das Einzige, wozu diese Linke in der Lage ist, sind symbolische Einmalaktionen wie z.B. gegen die imperialen Gipfeltreffen. Kampagnen oder gar größere Bewegungen anzustoßen oder gar zu führen, übersteigt bei weitem ihre Möglichkeiten. Selbst der Etappenerfolg der Bewegung „Deutsche Wohnen enteignen“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die daran beteiligten Linken sich einer reformistischen Strategie unterordnen, indem sie dafür eintreten, dass die Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) überführt werden, was de facto wieder dem bürgerlichen Staat die Verfügungsgewalt übergibt – so wie es bereits vor dem Verscherbeln der Wohnungen durch den rot/roten Senat in Berlin der Fall war. Stattdessen müssten sie dafür eintreten, dass die Häuser denen gehören, die drin wohnen; d.h. es sollten selbstverwaltete, solidarische Strukturen entstehen und vernetzt werden.
Bezüglich des Projekts einer neuen Partei sieht es genauso mau aus. Ein Teil der Linken lehnt es ab, man glaubt, man sei schon selbst die Vorhut der Klasse, z.B. die MLPD. Ein anderer Teil ist da zwar etwas realistischer, unternimmt aber keinen einzigen Schritt, um die fatale Krise der Linken und die Zersplitterung zu überwinden. Wieder andere agieren in der Linkspartei in dem aberwitzigen Glauben, diese nach links schieben oder sie überhaupt verbessern zu können.
Historische Erfahrungen
Angesichts des Fehlens relevanter objektiver wie subjektiver Faktoren und Bedingungen kann aktuell die Arbeiterparteitaktik nicht sofort angewendet werden – zumindest nicht in „klassischer“ Form. Doch die Bedingungen und das Bewusstsein können sich auch schnell ändern. Zudem ist der Aufbau einer neuen Partei nicht Ergebnis eines kurzfristigen Kraftakts, sondern der organischen Entwicklung von sozialen und politischen Kräften und Umständen, die in einer günstigen Situation in eine neue Qualität, sprich die Gründung einer Partei, umschlagen können.
Die Entstehung der SPD ist ein Beispiel für einen längeren Prozess der Formierung der Arbeiterklasse und -bewegung, bis dann endlich 1875 die Partei aus dem Zusammenschluss von Lassalleanern und Eisenachern entstand, ohne dass dabei ein einzelnes Ereignis entscheidend gewesen wäre. Die Gründung der KPD an der Jahreswende 1918/19 hingegen war einerseits Ergebnis des Kampfes der Linken, v.a. Rosa Luxemburgs, in der SPD bzw. in der USPD, andererseits Ergebnis des Weltkriegs und der damit verbundenen Kapitulationspolitik der SPD und des Ausbruchs der Novemberrevolution, die zum Geburtshelfer der KPD wurde.
Doch auch in jüngerer Zeit gibt es Beispiele dafür, dass es Ablöseprozesse vom Reformismus gab, wie wir oben schon ausgeführt haben. Die WASG oder auch Aufstehen, die jedoch beide von Beginn an reformistisch dominierte Projekte waren, boten Ansätze dafür, den Prozess des Aufbaus einer neuen Partei anzustoßen. In beiden Fällen aber versagte die linke Szene dabei – im Fall der WASG das Gros der Linken, bei Aufstehen die gesamte (!) Linke -, in diese Prozesse zu intervenieren.
Parallel zur Fusion der WASG mit der PDS entstand damals das Netzwerk linke Opposition (NLO), vornehmlich aus trotzkistischen Gruppen. Das NLO war ein positiver Ansatz zur „Renovierung“ der radikalen Linken und ein Gegenpol zum rein reformistischen Fusionsprojekt in Form der LINKEN. Doch die SAV als Hauptteil des NLO zog es dann doch vor, in die LINKE zu gehen, was das Ende des NLO bedeutete. So verlief die linke Dynamik im Sande bzw. wurde von der reformistischen Linkspartei absorbiert. Insbesondere einige trotzkistischen Gruppen, v.a. Marx21 (früher Linksruck) und die SAV, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie seit Jahren in der LINKEN Entrismus praktizieren, obwohl dort die Bedingungen dafür gar nicht gegeben waren oder sind. Zudem ist ihre Politik gegenüber der Politik der LINKEN zwar kritisch, doch keineswegs revolutionär. Wenn man nicht wüsste, dass die derzeitige Vorsitzende Janine Wissler Trotzkistin war (Linksruck), würde man nie drauf kommen.
Die Krise des Reformismus, seine zunehmende Schwäche, seine schwindende Attraktivität sowie die künftig stärkeren krisenhaften Konvulsionen verweisen darauf, dass die Frage der neuen Partei objektiv steht und brisanter werden wird. Insofern geht es aktuell darum, 1. in Propaganda und Theorie die Notwendigkeit einer neuen Arbeiterpartei zu betonen; 2. die „radikale Linke“ und links-oppositionelle Milieus zu bewegen, ihr Sektierertum zu überwinden, stärker miteinander politisch-programmatisch wie praktisch zu kooperieren und die Frage der Arbeiterpartei zu diskutieren. 3. müssen beispielhafte Ansätze für Widerstand entwickeln werden, die über das linke Milieu hinaus breiteren Schichten verdeutlicht, dass es möglich und notwendig ist, sich gegen die Zumutungen des Kapitalismus zur Wehr zu setzen. Themen gibt es genug, um Aktionen und Kampagnen zu starten: explodierende Benzin- und Energiepreise, unaufhaltsam steigende Mieten und Wohnraumknappheit, der US-hörige Kriegskurs der EU und Deutschlands. Bei all unseren Bemühungen müssen die Lebensinteressen der Massen im Zentrum stehen und es muss eine klare Orientierung auf die Arbeiterklasse erfolgen, denn nur diese kann grundlegende fortschrittliche Veränderungen bewirken.
Alles in allem geht es darum, erste Vorbereitungen zu treffen, erste Schritte zu gehen, um die Voraussetzungen zu schaffen, den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei ernsthaft beginnen zu können. Wer wirklich links und antikapitalistisch ist, muss und kann das v.a. in seiner Haltung zur Arbeiterpartei-Frage zeigen.
Wir sind uns sicher, dass erhebliche Teile der jetzigen Linken, etwa die politisch völlig degenerierte „Atlantifa“ oder die Autonomen, dafür kaum infrage kommen; wir sind uns aber auch sicher, dass ein Teil der Linken zur Neuformierung bereit und in der Lage ist. Nicht zufällig war es die Corona-Krise, die dazu führte, dass es Linke gab, die sich dem Obskurantismus der Herrschenden und den mit der Lockdown-Politik verbundenen reaktionären Entwicklungen entgegengestellt haben. Das betrifft v.a. die Szene der „Freien Linken“. Sie wurde dafür als „rechtsoffen“ verleumdet – von denen, die mehr oder weniger als kritiklose Claqueure des Staates agierten und ihn oft genug noch links überholen wollten und selbst keinen Finger gerührt haben, um eine linke Kraft aufzubauen oder in die Corona-kritische Massenbewegung zu intervenieren. Ihr Ja zum Impf-, Test- und Schließungsirrsinn ist nur Ausdruck ihrer politischen Glashausmentalität, ihrer ideologischen Scheuklappen, die sie an einer materialistischen Analyse der Realität hindern. Die Fähigkeit der linken Corona-Maßnahmen-Kritiker, in wichtigen Fragen dem von Politik, Staat, Medien, staatsnaher „Wissenschaft“ und bestimmten Kapitalfraktionen praktizierten Gängelung der Gesellschaft und dem Abbau von Demokratie entgegenzutreten, prädestiniert sie dazu, ein wichtiger Teil jener Kraft zu sein, welche die Linke reorganisieren könnte.
Was tun?
1902 schrieb Lenin sein Buch „Was tun?“. Darin widmete er sich der Linken in Russland und stellte die Frage, wie diese schlagkräftiger und in die Lage versetzt werden könnte, das Zarenregime zu stürzen. Die Situation damals war mit jener heute durchaus vergleichbar. Zwar leben wir in einer bürgerlichen Demokratie und nicht in einer Autokratie, doch nehmen antidemokratische Tendenzen zu, angefacht und begründet u.a. mit dem „Infektionsschutz“. Es sind bereits heute gesetzliche Grundlagen dafür geschaffen worden, das soziale und politische Leben und zentrale demokratische Mechanismen außer Kraft zu setzen, wenn es bestimmte Inzidenzen angeblich erfordern.
Lenin prangerte in „Was tun?“ an, dass die russische Linke in zahllose Zirkel zersplittert war. Dieses Zirkelwesen ist auch heute ein allgemeines Merkmal der Linken. Oft genug bilden eine Handvoll Leute eine „Organisation“, die natürlich weder handlungsfähig noch in der Lage ist, irgendeine substantielle Analyse und Programmatik zu erarbeiten oder gar praktisch tätig zu werden. Anstatt zuerst die Kooperation und Diskussion mit anderen Linken hierzulande zu suchen, finden diese innerhalb von Pseudo-Internationalen statt. Schon dadurch ist es weitgehend ausgeschlossen, ein politisch-programmatisches und organisatorisches Level zu erreichen, das ein Eingreifen in den Klassenkampf ermöglicht – dort wo er real stattfindet: im Rahmen des Nationalstaats. Internationale Debatte, Solidarität usw. – der Internationalismus – ist damit nicht ad acta gelegt, er kann und soll aber auch ohne eine formale Internationale erfolgen. Ein „internationaler Klassenkampf“ (soweit es ihn überhaupt geben kann), setzt ja gerade starke nationale Strukturen voraus. Die v.a. in der trotzkistischen Linken beliebten „Internationalen“ sind in Wahrheit deren genaues Gegenteil, sie sind weder Orte der Aufarbeitung von Erfahrungen, noch Zentren des Klassenkampfes: sie sind globale Dörfer aus kleinen Glashäusern. Das Wirken von Marx und Engels bezüglich der Internationale ist ein Beispiel dafür, dass sie eben nicht auf Teufel komm raus immer eine Internationale aufgebaut haben, sondern diese an objektive Bedingungen geknüpft haben. Über die linken Mini-Internationalen von heute hätten sie nur müde gelächelt.
Lenin stellte dem selbstgenügsamen Zirkelwesen die Perspektive des Aufbaus einer gesamtrussischen revolutionären Partei gegenüber, die es in Gestalt der russischen Sozialdemokratie, der SdAPR, bereits als kleine Kaderpartei gab. Anders als heute aber existierte damals in Russland kein organisierter Reformismus in Gestalt einer Partei oder Gewerkschaft als wesentliches Hindernis.
Der zweite Punkt in Lenins Polemik betraf den Ökonomismus. Damit meinte er, dass die linken Strukturen wesentlich nur begrenzte ökonomische Forderungen aufstellten und kaum über eine politische und Gesellschaftsperspektive verfügten. Das Problem der heutigen „radikalen“ Linken ist zwar nicht wesentlich eine nur ökonomistische Ausrichtung, diese ist eher für den Reformismus und Syndikalismus typisch, sondern das Fehlen einer brauchbaren Gesellschaftsanalyse und dass die Linke meist unfähig ist, in gesellschaftliche und politische Prozesse korrekt einzugreifen. Anstatt so zu tun, als hätte man Lösungen wenigstens für die wichtigsten Fragen zur Hand, sollte die linken Sekten über ihren jeweiligen ideologischen Tellerrand schauen und miteinander (!) ernsthaft an einer Programmatik arbeiten, was v.a. heißt, die historischen Erfahrungen des Klassenkampfes kritisch zu verarbeiten und dabei über die Begrenzungen ihres jeweiligen „Ismus“ hinaus zu gehen und diesen historisch-kritisch zu hinterfragen.
Die Idee der neuen Arbeiterpartei muss in die Diskussionen und in die praktische Arbeit der Linken eingebracht werden! Realistisch wäre momentan ein Projekt wie das schon erwähnte NLO. Dazu müssten sich jene linken Gruppen und Milieus (z.B. die Gewerkschaftslinke) zusammenraufen, die das Ziel der Schaffung einer neuen Arbeiterpartei teilen und bereit sind, dafür konkrete Schritte zu setzen: a) eine programmatische Diskussion und b) Zusammenarbeit in bestimmten Praxisfeldern. Das Ergebnis eines solchen Prozesses wäre natürlich keine Partei, sondern die Schaffung eines Kraftzentrums, eines subjektiven Faktors, der die Taktik der Arbeiterpartei popularisieren und in einem geeigneten Moment praktisch umsetzen könnte. Dieses Vorgehen würde dem Motto folgen: Erfolg ist, wenn Vorbereitung auf Chance trifft.
Weg mit dem Zirkelwesen! Weg mit dem Sektierertum! Kooperation statt Selbstgenügsamkeit und Abschottung! Zurück zu Marx, über den „Marxismus“ hinaus! Das Gesicht zur Klasse!
Der Text findet meine weitgehende Zustimmung.
(Nemetico, „Freie Linke“)