Die Metamorphose des Marxismus

Teil 5: Der Trotzkismus

Hanns Graaf

Die Darstellung der Entwicklung der Marxismus und der revolutionären Linken wäre unvollständig, wenn nicht darauf verwiesen würde, dass es diverse politische Richtungen und theoretisch-programmatische Ansätze gab, die mehr oder weniger alternativ oder kritisch zum „marxistischen“ Mainstream – der ab 1917 i.w. leninistisch bzw. stalinistisch geprägte war – standen. Dazu gehören u.a. die Reformer des „Prager Frühlings“, die „Titoisten“, die diversen „68er“, der Trotzkismus, die Räte-Kommunisten, Anarcho-Kommunisten und -Syndikalisten, der Euro-Kommunismus und einige stalinistische Reformer. Die Darstellung dieses unerhört verzweigten Deltas an Kritiken, Meinungen, Theorien und Strömungen würde über den Rahmen dieses Beitrags weit hinaus gehen. Wir wollen uns daher hier nur mit dem Trotzkismus befassen, weil wir meinen, dass dieser ein ernsthafter und substanzieller Ansatz zur Weiterentwicklung und „Gesundung“ des „Marxismus“ war, obwohl dieser Versuch auf halber Strecke versandete und (auch) daher weitgehend wirkungslos blieb. Trotzki hat im Unterschied zu anderen „kritischen“ Marxisten eine eigene ideelle und organisatorische Strömung begründet. Das war kein Zufall, sondern der Tatsache geschuldet, das Trotzki einer der prominentesten und wichtigsten Führer der internationalen revolutionären Linken und ab 1917 der Bolschewiki war. Er verkörperte insofern ein politisches System und eine bestimmte Praxis. V.a. deshalb, nicht nur wegen bestimmter seiner Ansichten, war er von Bedeutung.

Im Kern beruht der Trotzkismus – soweit er von Trotzki selbst stammt und nicht von seinen diversen Adepten – auf der Gedankenwelt Lenins, v.a. ab 1917. Genauso wie dieser brach auch Trotzki mit dem Nationalismus, Reformismus und dem Zentrismus der II. Internationale. Allerdings sah er früher und klarer als Lenin den Charakter der Russischen Revolution und ihr sozialistisches Potential voraus. Als der neben Lenin wichtigste bolschewistische Führer in der Revolution und im Bürgerkrieg systematisierte er die Politik der Bolschewiki im Revolutionsjahr dann 1938 in Gestalt des „Übergangsprogramms“ (ÜP), dem Gründungsprogramm der IV. Internationale.

Die Übergangsmethode

Mit der im „Übergangsprogramm“ dargelegten Methode des Kampfes um die Macht hat Trotzki wesentlich zur Weiterentwicklung und Systematisierung revolutionärer Politik beigetragen. Im ÜP verbindet er methodisch das Minimal- mit dem Maximalprogramm und zeigt auf, dass der Übergang zur Machteroberung des Proletariats nur dadurch erfolgen kann, dass das Proletariat sich in eigenen Strukturen (Kontrollorgane, Streikposten, Milizen, Räte, Arbeiterregierung usw.) organisiert. Nur so ist es möglich, den Einfluss des Reformismus, des Kapitals und des Staates zurückzudrängen und zu überwinden. Nicht nur 1917, sondern in Ansätzen auch viele andere größere Klassenkonflikte sind Beweise dafür, dass die Übergangsmethode keine radikale Spinnerei Trotzkis ist und tatsächlich zum Erfolg führen kann. Das Problem war nicht die von ihren Kritikern behauptete „Unrealisierbarkeit“ des ÜP, sondern der Umstand, dass unter dem Einfluss des Stalinismus (der Komintern) eine Politik verfolgt wurde, welche die Machteroberung und den Sturz des Kapitalismus boykottierte, so dass die Methode des ÜP von den KPen bewusst abgelehnt wurde. Anstatt der Überführung der demokratischen Revolution in die sozialistische wie 1917 begrenzte man die Revolution auf die bürgerlich-demokratisch-antifaschistische Etappe. Spanien 1936 zeigt die konterrevolutionäre Rolle der dortigen KP und der Komintern besonders eindrücklich. Anstatt wie die Bolschewiki 1917 auf den Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung hinzuarbeiten, stützte die KP (und später auch die Anarchisten) diese. Das Ergebnis war, dass die demokratischen und antikapitalistischen Umwälzungen abgebremst wurden und daher die Unterstützung der bäuerlichen und kolonialen Massen (Marokko) für die Revolution untergraben wurde.

Das ÜP hatte neben den genannten Stärken aber auch wichtige Schwächen und Einschränkungen. 1. wurde die Orientierung auf die Selbstorganisation der Massen wesentlich auf die politische Ebene begrenzt und die soziale Selbstorganisation (Selbstverwaltung und Genossenschaften) missachtet. 2. fokussierte sich das Programm auf eine (vor)revolutionäre Situation, für den „Tageskampf“ war es daher tw. irrelevant (was Trotzki auch selbst betonte). Zudem muss bedacht werden, dass das ÜP ein „allgemeines“ Programm für die Internationale war und keine Programmatik, die den unterschiedlichen und konkreten Bedingungen einzelner Länder angemessen sein konnte.

Die Permanente Revolution

Genauso bedeutend für den Marxismus wie das ÜP ist Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“, in der er den marxschen Ansatz der Revolution als einer internationalen Dynamik verteidigte und an Lenins Auffassung des Imperialismus als einer Epoche des revolutionären Übergangs anknüpfte. Damit wandte er sich auch konkret gegen Stalins Konzept vom „Sozialismus in einem Land“. Dieses mündete nämlich ab Mitte/Ende der 1920er in eine Strategie der Koexistenz mit dem Weltimperialismus und der Opferung der Revolution für ein Goodwill des Imperialismus. Ausdruck dessen war die Volksfrontpolitik. Andererseits betonte Trotzki die Prozesshaftigkeit der Revolution im imperialistischen Zeitalter und stellte sich konsequent gegen Modelle, die eine mechanische Trennung von bürgerlich-demokratischer Phase und sozialistischer Umwälzung vornahmen wie etwa die Volksfront-Politik.

Seine schon 1906 in „Ergebnisse und Perspektiven“ skizzierte Konzeption für die (permanente) Russische Revolution, verallgemeinerte er nach und nach zu einer internationalen Strategie. Ihr Kern besteht in der These, dass in der Ära des Imperialismus auch die bürgerlich-demokratischen Aufgaben (Landfrage, Demokratisierung usw.) nur unter Führung des Proletariats gelöst werden könnten und es dazu die Macht ergreifen müsse (Diktatur des Proletariats). Diese Konzeption verallgemeinerte die Erfahrungen von 1917 und knüpfte u.a. an die Aussagen von Marx in dessen Analyse der 1848er Revolution in Deutschland an (u.a. Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, 1850). Damit gelang Trotzki (wie schon mit dem ÜP) ohne Frage eine Weiterentwicklung und Präzisierung der revolutionären Programmatik auf marxistischer Basis.

In Trotzkis umfangreichen Schriften zu wichtigen Klassenkampfereignissen und Entwicklungen der 1920er und 30er Jahre – er wurde 1940 auf Befehl Stalins ermordet – wandte er seine Programmatik konkret an. Er kritisierte dabei v.a. die fatale Politik Stalins und der Komintern: erst deren zentristische Fehler und Schwankungen (bis 1934), danach deren konterrevolutionäre Volksfrontkonzeption, die alle revolutionären Chancen der Arbeiterklasse vereitelte (China in den 1920ern, falsche Politik der KPD vor 1933, Volksfront in Frankreich, Spanien 1936, Griechenland 1946 oder der Eintritt der KPen in Frankreich und Italien in bürgerliche, „antifaschistische“ Regierungen 1945. Wie recht Trotzki mit seiner Einschätzung hatte, dass der Stalinismus eine konterrevolutionäre Agentur ist, zeigte sich dann auch nach 1945, wo nach den bürokratischen Umstürzen von oben in Osteuropa keine rätedemokratischen Ordnungen entstanden bzw. alle Ansätze dazu eliminiert worden sind.

Gegen die Volksfront

Es spricht für die Weitsicht Trotzkis, dass er bereits Mitte der 1920er die Politik Stalins und der Komintern in China kritisierte. Moskau bewegte die Chinesische KP damals dazu, quasi eine strategisches (!) Bündnis mit der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang Tschiang Kai Schecks einzugehen und deren Politik zu unterstützen. Die blutige Quittung für diese Politik erhielt die KP dann 1927 in Shanghai, als die Kuomintang-Truppen die dortigen KP-Mitglieder (man verfügte über die Mitgliederlisten der KP) und Gewerkschafter zu Tausenden umbrachten. Hier zeigte diese frühe Form von Volksfrontpolitik zum ersten Mal ihre konterrevolutionäre Konsequenz für das Proletariat.

Was bedeutet Volksfront- im Unterschied zur Einheitsfrontpolitik? Es handelt sich hier 1. nicht nur um ein begrenztes taktisches Aktionsbündnis, sondern um ein strategisches und Regierungsbündnis; 2. geht es nicht um ein Bündnis zwischen Kräften der Linken und der Arbeiterbewegung, sondern um ein Bündnis mit bürgerlichen Parteien; 3. beruht die Volksfont bzw. die Bereitschaft der Bürgerlichen, ein solches Bündnis überhaupt einzugehen, darauf, dass die Linken ihre Ziele des Sturzes des Kapitalismus, der eigenen Machtergreifung und der Enteignung des Privateigentums aufgeben bzw. auf eine spätere Phase „vertagen“. Letztlich bedeutet die Volksfront Unterordnung des Proletariats unter die Bourgeoisie. Die Politik der Volksfront ist seit den 1930ern die zentrale politische Taktik der Stalinisten und einiger reformistischer und zentristischer Formationen. Auch die Politik der LINKEN oder (früher) der DKP beruht(e) darauf.

Leninismus

Die Akzeptanz der Grundlagen der Leninschen Auffassungen zur nachkapitalistischen Gesellschaft führten Trotzki aber auch zu Auffassungen, die partiell mit der Methode von Marx brachen. Das betrifft die Rolle der Partei, wo Trotzki im Grunde dasselbe vertritt wie Lenin. Anstatt ihr eine spezifische Rolle innerhalb eines Rätesystems zuzuweisen, sah Lenin sie grundsätzlich in einer Rolle als permanente Führerin über dem Rätesystem, die sie mittels einer engen Symbiose mit einem „separaten“ Staatsapparat, der nicht auf Räteorganen beruht (!), ausübt. Zusammen mit dem System einer staatlichen Wirtschaft – im Unterschied zu einer auf Selbstverwaltung beruhenden – führte dieses Partei-Staats-System zur Enteignung und Entmachtung der Klasse und dem Aufstieg der Bürokratie zur Herrschaft.

Obwohl Trotzki diese Entwicklung analysierte, kritisierte und bekämpfte, erkannte er diese konzeptionellen Wurzeln der sozialen Fehlentwicklungen in der UdSSR nicht und machte dafür einseitig v.a. die objektiven Bedingungen verantwortlich. Die verschiedenen Richtungen des Trotzkismus hielten – trotz aller Unterschiede – an dieser „schiefen“ Analyse Trotzkis hinsichtlich der Partei, des Staates und der Staatswirtschaft fest. Sie betonten wie Trotzki zu recht die Brüche zwischen Stalin und Lenin, sahen aber zu wenig die Kontinuitäten zwischen den Auffassungen und der konkreten Politik beider.

Hinsichtlich der Struktur der Wirtschaft der Übergangsgesellschaft knüpft Trotzki an Lenins Konzept der zentralen, durch einen bürokratischen Apparat gelenkten Staatswirtschaft an. Daran ändert auch seine Kritik am Bürokratismus Stalins und seine Forderung nach Reorganisation der Sowjetdemokratie nichts Wesentliches, da er an der Notwendigkeit des Staatseigentums und der Staatsverwaltung nie gezweifelt hat. Die Rätedemokratie, für die Trotzki eintrat, war für ihn nicht das Wesen der sozialen Strukturen im Arbeiterstaat, sondern eher ein demokratisches „Beiwerk“ zum Partei-Staat. Die Tatsache der Enteignung des Privateigentums und der Etablierung von Staatseigentum „verwechselte“ Trotzki mit Vergesellschaftung und glaubte daher, dass die UdSSR auch noch ab 1930 ein degenerierter Arbeiterstaat sei. Insofern stellte er nur die Losung der politischen Revolution zum Sturz der Bürokratie auf, jedoch nicht die Losung der sozialen Revolution, die mit einer grundsätzlichen Umwälzung der staatskapitalistischen Produktionsweise und der Wiederaneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse verbunden gewesen wäre. Trotzkis Kritik blieb eine Halbheit. Der methodische Widerspruch zu Marx lag darin, dass dieser eine nachkapitalistische Gesellschaft anpeilte, die auf lebendiger Arbeiter-Räte-Demokratie und Genossenschaftlichkeit und Selbstverwaltung beruhen sollte, während Lenin und Trotzki auf eine Staatswirtschaft unter Führung eines Partei-Staatsapparats orientierten – zumindest für die Übergangsphase.

IV. Internationale

Es überrascht kaum, dass sich die meisten linken Anti-Stalinisten nicht der IV. Internationale anschlossen, weil sie Trotzki nicht ganz zu unrecht als Mitverantwortlich für die Erdrosselung der Opposition (Kronstadt, Machno, Fraktionsverbot) und die Etablierung des Staatskapitalismus in Sowjetrussland ansahen. Anstatt der IV. Internationale, die ein sehr kleines Minderheiten-Projekt blieb und bleiben musste, hätte eine internationale Kooperation nach dem Muster der I. Internationale aufgebaut werden sollen – als Zwischenschritt zu einer wirklichen neuen revolutionären Massen-Internationale. So hätte auch ein breitere Schichten der Linken einbeziehender umfassender theoretisch-programmatischer Klärungsprozess stattfinden können, der neben Teilen des Anarchismus (Anarcho-Kommunisten und -Syndikalisten, Plattformisten, die „Freunde Durrutis“) auch Räte- und Linkskommunisten wie z.B. die SAP und die KPD(O) hätte einbinden können. So aber wurden sie von Trotzkis „enger“ Programmatik abgestoßen. Mehr noch: die Trotzkisten selbst differenzierten und spalteten sich schon in den 1940 und 1950er Jahren, weil es ihnen nicht gelang, über Trotzkis Schemata kritisch-schöpferisch hinauszugehen oder aber mit ihnen brachen (die Staatskapitalismus-Anhänger).

Marx sah eine Internationale nicht als permanent an, sondern v.a. als taktisches Mittel, um die internationale Kooperation des Proletariats voranzubringen, und als abhängig von Auf und Ab des Klassenkampfes. Insofern löste er die I. Internationale, als sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen konnte, auf. Mit der Stabilisierung der konterrevolutionären Bi-polaren Weltordnung nach 1945 und der Tatsache, dass nicht die IV. Internationale, sondern der Stalinismus und die bürgerlichen Kräfte im Westen den Sieg davon getragen hatten, hätten die Trotzkisten die IV. Internationale als gescheitert ansehen und sich dem Aufbau einer neuen Internationale zuwenden müssen. Stattdessen pflegten sie ihre jeweiligen Mini-Pseudo-Internationalen als angeblich einzig legitime Nachfolger der „Vierten“. Der darin zum Ausdruck kommende „Internationalismus“ ist in Wahrheit v.a. Ausdruck von Sektierertum und der Unfähigkeit, eine historisch-kritische Aufarbeitung und programmatische Erneuerung vorzunehmen, auf deren Basis auch die fatale Zersplitterung der Linken hätte überwunden werden können.

Führungskrise

Eine Hauptthese Trotzkis war die von der „historischen Führungskrise des Proletariats“, die er v.a. nach der Niederlage der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus 1933 betonte. Bis dahin hatte er noch die Möglichkeit einer Spaltung oder Gesundung des Stalinismus und der Komintern gesehen. 1933 zeigte aber, dass diese Möglichkeit nicht mehr realistisch ist.

Trotzki konstatierte zu recht, dass die revolutionären Möglichkeiten ungenutzt bleiben, dass die revolutionären Vorstöße ins Leere gehen, wenn die Führungen der Klasse – sei es die Sozialdemokratie, der Stalinismus oder der Anarchismus – sich als untauglich oder unwillig erweisen, den Kapitalismus zu stürzen. Damit hatte Trotzki ohne Frage recht. Nur zog er selbst nicht vollständig die programmatischen Konsequenzen für die IV. Internationale. Es gelang Trotzki und seinen Nachfolgern nicht, die grundlegenden Veränderungen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ausreichend zu analysieren und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Das Fehlen einer umfänglichen historisch-kritischen Aufhebung des Leninismus und des Sozialdemokratismus (Staatsfrage, Wirtschaft, Klassenbewusstsein, Rolle der Partei, Selbstorganisation des Proletariats) war ein Ballast, der nie abgeworfen wurde. Gerade die Unterschätzung der sozialen (!) Selbstorganisation des Proletariats (Genossenschaften) war nicht nur unmarxistisch – es vereitelte die Möglichkeit der Schaffung eines alternativ-antikapitalistischen Potentials in der Gesellschaft.

Trotzkis These, die Krise der Menschheit sei im Kern eine Führungskrise des Proletariats, ist durchaus korrekt. Doch sie besteht nicht nur darin, wie Trotzki meinte, dass die Arbeiterbewegung von nicht-revolutionären Organisationen und Ideologien – sozialdemokratischer Reformismus, Stalinismus, Anarchismus – dominiert wird. Sie umfasst – was Trotzki nicht sah – auch den Umstand, dass der „Marxismus“ selbst auf Abwege geraten war und nicht so weiterentwickelt wurde, dass er den Bedingungen des Kapitalismus und den Anforderungen des Klassenkampfes im 21. Jahrhundert entsprechen könnte. Bevor der Marxismus wieder eine stärkere Rolle im Denken und in der Aktion der Arbeiterklasse und der fortschrittlichen Kräfte spielen kann, braucht er selbst eine Blutauffrischung, eine grundsätzliche Renovierung. Das bedeutet ganz allgemein, die historisch-kritische Methode von Marx auf den Marxismus (und auf den Trotzkismus) selbst anzuwenden.

Die Vorstellung „des Trotzkismus“ von der Revolution war stark am Beispiel der Russischen Revolution orientiert. Diese war hinsichtlich der objektiven Bedingungen und der wirkenden Faktoren aber gerade kein Modell, sondern eher die Ausnahme einer proletarischen Revolution, v.a. für entwickeltere Länder. Viele westeuropäische Marxisten haben das auch erkannt, wurden aber immer an den Rand der „kommunistischen Weltbewegung“ gedrängt. Die längerfristige, auf Einheitsfrontpolitik und Selbstorganisation orientierte „reformistische“ Politik – nicht gegen die Revolution, sondern eingebettet in eine revolutionäre Konzeption – wurde oft sträflich unterschätzt oder gar bekämpft zugunsten kurzfristiger „blanqistischer“ Konzepte. Trotzkis weitgehend unrealistische Einschätzung des „deutschen Oktobers“ 1923 ist ein Beispiel dafür. Weit ärger noch war die Politik der KPD danach unter dem Einfluss Sinowjews und Stalins (Sozialfaschismus-These, Dritte Periode usw.), die allerdings von Trotzki weitgehend korrekt kritisiert wurde.

Trotzkis Analysen verschiedener wesentlicher Klassenkämpfe der 1920/30er Jahre sind in vieler Hinsicht vorbildlich und ein bedeutendes Kompendium revolutionärer Politik. Sie sollten Pflichtlektüre für alle Revolutionäre sein. Trotzki widmete sich u.a. den Vorgängen in China, in der UdSSR, in Spanien, Frankreich und Deutschland. Anhand der Spanischen Revolution ab 1936 zeigte Trotzki nicht nur den diametralen Unterschied in der Politik der Bolschewiki und der Moskau-treuen spanischen KP auf, sondern kritisierte auch die Politik der Anarchisten, die durchaus in der Lage gewesen wären, die Revolution zum Sieg zu führen, diesen aber aufgrund ihrer fehlerhaften Politik vereitelten. Spanien war aber nur ein Beispiel für die stalinsche Volksfrontpolitik, die dem Proletariat immer und überall nur Niederlagen beschert hat.

Geradezu grandios sind Trotzkis Analysen, Kritiken und Vorschläge bezüglich des Kampfes gegen den Faschismus in Deutschland. Er zeigte frühzeitig auf, dass die Politik von SPD und KPD ungeeignet war und letztlich Hitler den Sieg ermöglichen könnte. Man mag von Trotzki halten, was man will, man kann ihm aber angesichts der Katastrophe von 1933 kaum absprechen, dass er richtig lag – es sei denn, man ist ein engstirniger und ideologisch völlig indoktrinierter Mensch oder ein Reaktionär. Doch auch hier zeigte sich der Trotzkismus nach 1945 weitgehend unfähig, Trotzkis Faschismus-Theorie weiterzuarbeiten und z.B. die sozial-analytischen Erkenntnisse von Wilhelm Reich einzuarbeiten.

Der sog. Trotzkismus von heute ist ein Sammelsurium von Klein- und Kleinstgruppen, die in sektiererischen Pseudo-Internationalen zusammengefasst sind. Ihre positionellen und methodisch-programmatischen Unterschiede sind oft so groß, dass von „dem Trotzkismus“ keine Rede mehr sein kann. Alle diese Gruppen und Strömungen haben dabei versagt, das Wirken Trotzkis historisch-kritisch aufzuarbeiten, weiter zu entwickeln und dessen Schwächen zu überwinden. Daher konnte der Trotzkismus nicht die Lösung der Führungskrise darstellen noch vermag er es künftig.

Ein Grund – neben der „schiefen“ Analyse der UdSSR -, warum der Trotzkismus letztlich scheiterte und degenerierte, war sein Festhalten am Leninismus (Staatsfrage, Parteifrage usw.) und der Unterbelichtung bzw. Ablehnung der proletarischen Selbstverwaltung.

Trotzki kommt als Theoretiker einerseits das Verdienst zu, den Marxismus v.a. hinsichtlich der Programmatik weiterentwickelt und gegen die konterrevolutionären Konzepte des Stalinismus verteidigt zu haben, anderseits perpetuierte er aber auch grundlegende Fehler der II. Internationale und des Bolschewismus.

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