Marxismus und Anarchismus

Hanns Graaf

Vorbemerkung: Dieser Beitrag befasst sich mit dem problematischen Verhältnis von Anarchismus und Marxismus. Der tiefe Graben zwischen diesen beiden Strömungen der Linken und der Arbeiterbewegung, der schon seit Jahrzehnten besteht, verhindert fast jede sachliche Debatte und praktischen Kooperation zwischen ihnen. Die Reihe von Vorwürfen, Missverständnissen und Feindschaften ist unübersehbar lang, dafür sind die Beispiele einer seriösen und produktiven Zusammenarbeit eher rar. Die schon lange bestehende tiefe Krise beider Strömungen ist Teil der historischen Degeneration der Linken und der Arbeiterbewegung. Letztere kann nur überwunden werden, wenn auch die anarchistische und die „marxistische“ Linke ihre dogmatischen Verkrustungen und gegenseitigen Schuldzuschreibungen überwinden und eine Aufarbeitung beginnt, die auf theoretisch sauberer Arbeit und historische Erfahrungen verarbeitendes Herangehen beruht. Als Bezugspunkt unseres Artikels haben wir einen Beitrag des Anarchisten Daniel Guérin (1904-88) gewählt (https://anarchistischebibliothek.org/library/daniel-guerin-anarchismus-und-marxismus), weil dieser grundlegende Thesen zu unserem Thema enthält und uns daher als Ausgangspunkt gut geeignet erscheint. Zudem ist es das Anliegen Guerins, einen produktiven und kritischen Austausch zwischen Marxismus und Anarchismus zu befördern. Wir geben Guerins Text hier ungekürzt wider und fügen in ihn unsere Kommentare (kursiv gesetzt) ein. Wir gehen nicht auf jede seiner Thesen und Argumentationen ein – was nicht als automatisch als Zustimmung gewertet worden sollte -, sondern beschränken uns auf uns besonders wichtig erscheinende Aspekte.

Daniel Guérin

Anarchismus und Marxismus

I

Wenn man dieses Thema behandeln will, steht man vor mehreren Schwierigkeiten, Beginnen wir mit der ersten: Was verstehen wir unter dem Begriff „Marxismus“? Um welchen „Marxismus“ handelt es sich?

Ich halte es für notwendig, hierauf sofort zu antworten. Wir nennen im folgenden „Marxismus“ die gesamten Schriften von Marx und Engels selbst, nicht jedoch die ihrer mehr oder weniger treuen Nachfolger, die für sich die Etikette „Marxisten“ in Anspruch genommen haben. Mit Sicherheit schließen wir den entstellten Marxismus, ja man könnte sagen: den verratenen Marxismus der deutschen Sozialdemokratie aus.

Guerin unterscheidet hier ganz richtig zwischen dem Marxismus von Marx und Engels und dem ihrer Nachfolger, die in wenigen Bereichen eine methodisch konsistente Weiterentwicklung erreichten, oft jedoch dessen schöpferische Erweiterung unterließen oder ihn sogar in wesentlichen Fragen verballhornten. Neben der von Guerin erwähnten insgesamt eher negativen Rolle der Sozialdemokratie hätte hier v.a. aber der unheilvolle Einfluss des Stalinismus erwähnt werden müssen.

Dazu einige Beispiele: In den ersten Jahren der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, zu Lebzeiten von Marx, prägten die Sozialdemokraten die Forderung nach dem „Volksstaat“. Marx und Engels waren vermutlich so glücklich und so stolz darauf, dass es in Deutschland endlich eine Massenpartei gab, die sich auf sie berief, dass sie ihr gegenüber eine unangebrachte Nachgiebigkeit an den Tag legten. Erst musste Bakunin in heftigen und wiederholten Angriffen gegen den „Volksstaat“ polemisieren, erst musste – um die gleiche Zeit – ein heimliches Übereinkommen der Sozialdemokraten mit den radikal-bürgerlichen Parteien zustande kommen, bevor sich Marx und Engels genötigt sahen, den Begriff und die Praxis des Volksstaats fallen zu lassen.

Dieser Vorwurf Guerins an Marx und Engels ist nicht stichhaltig. Beide haben bereits 1847 im „Kommunistischen Manifest“ eine „Staatsauffassung“ für die Übergangsgesellschaft dargelegt, die mit einem Volksstaat nichts zu tun hat. Sie plädierten für eine Diktatur des Proletariats, unter der sie die revolutionäre und zugleich demokratische Herrschaft der Arbeiterklasse verstanden. Von einem klassenindifferenten „Volksstaat“ ist bei ihnen nicht die Rede. Mit der Analyse der Pariser Kommune 1871 präzisierte Marx seine Staatstheorie dahingehend, dass der bürgerliche Staat nicht nur zerschlagen werden muss (das vertrat er schon vorher), sondern er verwies nun auch auf die konkrete Form, die an seine Stelle gesetzt werden muss: die Räte-Demokratie der Kommune.

Später erarbeitete der alternde Engels, als er 1895 sein berühmtes Vorwort zu Marxens „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ schrieb, eine vollständige Revision des Marxismus zum Reformismus, indem er den Akzent vor allem auf den Gebrauch des Wahlzettels legte, der ihm als geeignetes, wenn nicht gar als einziges Mittel zur Erringung der Macht galt.

Diese Aussage ist falsch. Engels hat weder in diesem Vorwort noch sonst wo eine vollständige oder auch nur teilweise Revision von Marx vorgenommen. Niemals hat er den Reformismus als einzigen oder Hauptweg zum Sozialismus angesehen. Immer hat er die Bedeutung des revolutionären Bruchs betont (Enteignung des Privateigentums, Zerschlagung des Staates usw.). Ihm ging es aber darum, zu zeigen, dass die Klassenkampfbedingungen und -methoden sich seit dem Tod von Marx (1883) und seit der Pariser Kommune (1871) geändert haben. Das Proletariat war 1895 eine massenhafte Klasse geworden mit einer starken Arbeiterbewegung und spezifisch proletarischen Kampfmethoden. Zu diesen gehören auch Wahlen. Davor waren diese weniger bedeutsam, weil die Klasse und die Arbeiterbewegung noch zu klein waren und zudem undemokratische Wahlsysteme Wahlerfolge der Arbeiter vereiteln konnten. Es ist absurd anzunehmen, Engels hätte den „Gebrauch des Wahlzettels (…) als als einziges Mittel zur Erringung der Macht“ angesehen.

Schließlich wurde dann Karl Kautsky der zwielichtige Nachfolger von Marx und Engels. Theoretisch erhob er zwar den Anspruch, noch auf der Grundlage des Kampfes der revolutionären Klassen zu stehen, in der Praxis jedoch deckte er die Handlungsweise seiner Partei, die sich mehr und mehr opportunistisch und reformistisch verhielt.

Das ist nicht von der Hand zu weisen, doch Kautsky war immer Zentrist, kein Reformist. Daher ging er ja auch in die USPD. Dass er der KPD feindlich gegenüber stand, hatte u.a. damit zu tun, dass diese unter dem Einfluss der Bolschewiki und Komintern und umso mehr Stalins in zentralen Fragen mit Marx gebrochen hatte und kein freiheitlich-sozialistisches Potential mehr hatte. Kautskys Zentrismus resultierte auch daraus, dass der Marxismus von Marx zu vielen, ja fast allen Fragen kein ausgearbeitetes theoretisch-programmatisches System hatte und die gesamte Sozialdemokratie sich kaum darum bemühte. Das wiederum hing damit zusammen, dass der Kapitalismus mit dem 20. Jahrhundert in seine imperialistische Phase eingetreten war, neue Problem aufwarf und andere Bedingungen schuf, während Marx´ Bezugspunkt der „frühe“ Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war, der weitgehend noch unterentwickelte Wirtschafts- und Sozialstrukturen aufwies.

Zur selben Zeit forderte Eduard Bernstein, der sich ebenfalls für einen „Marxisten“ ausgab, Kautsky auf, konsequent zu sein und den Klassenkampf abzulehnen, den er für überholt hielt. Dagegen sprach er sich für Wahlen, Parlamentarismus und Sozialreformen aus.

Dass Bernstein den Klassenkampf ablehnte, stimmt so nicht. Allerdings hatte er eine andere Auffassung davon, was dabei wesentlich ist. Hier treffen die Kritiken von Kautsky und Luxemburg an ihm insgesamt zu, wenngleich beider Kritik auch etwas Dogmatisches anhaftet und sie auf einige kreative Ideen und Fragestellungen gar nicht eingingen. 120 Jahre nach der Revisionismus-Debatte wissen wir, dass Bernstein mit einigen Aussagen recht hatte, z.B. hinsichtlich der Klassenstruktur oder der Konzentrationstendenzen des Kapitals.

Kautsky selbst behauptete, dass es völlig verfehlt sei, zu sagen, dass das sozialistische Bewusstsein eine notwendige und direkte Folge des proletarischen Klassenkampfs sei. Wenn man ihm glauben würde, so wären Sozialismus und Klassenkampf nicht abhängig voneinander. Sie gingen aus verschiedenen Bedingungen hervor. Das sozialistische Bewusstsein entstünde aus der Wissenschaft. Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die intellektuelle Bourgeoisie. Erst durch diese würde der Sozialismus den Proletariern „vermittelt“. Folglich: „Das sozialistische Bewusstsein ist ein Element, das von Außen in den Klassenkampf des Proletariats eingeführt wird, und nicht eines, das spontan aus dem Klassenkampf hervorgeht.“

Guerin kritisiert hier zu recht die Auffassung, dass das sozialistische Bewusstsein nur von außen ins Proletariat getragen werden könnte. Allerdings greift seine Kritik aber zu kurz. 1. ist es durchaus möglich und notwendig, sozialistisches Bewusstsein auch (!) von außen in die Klasse zu tragen. So ergibt sich etwa die theoretische und historische Systematisierung von revolutionärer Politik keineswegs spontan aus Klassenkämpfen, sie muss stattdessen von einem „besonderen Mechanismus“ erarbeitet werden. Dieser „Mechanismus“ ist die Partei, die in dieser Hinsicht auch von keiner anderen Struktur ersetzt werden kann. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Proletariat im Kapitalismus eine ausgebeutete und unterdrückte Klasse ist, die deshalb objektiv über verschiedene Möglichkeiten der „Welterkenntnis“ nicht oder nur eingeschränkt verfügt. Selbst die Bourgeoisie schafft sich dafür ihre Strukturen und Thinktanks.

Die einzige Theoretikerin in der deutschen Sozialdemokratie, die dem ursprünglichen Marxismus treu geblieben ist, war Rosa Luxemburg. Allerdings musste sie viele taktische Zugeständnisse an die Führung ihrer Partei machen. Sie wagte es nicht, Bebel und Kautsky offen zu kritisieren. Sie trat vor 1910 nicht in offenen Konflikt mit Kautsky, als nämlich ihr Ex-Tutor die Idee des politischen Massenstreiks verwarf. Vor allen Dingen aber bemühte sie sich, die enge Übereinstimmung abzustreiten, die zwischen dem Anarchismus und ihrer Konzeption der revolutionären Spontaneität der Massen bestand, indem sie die Anarchisten in verzerrten Darstellungen verleumdete. Und dies tat sie, um eine Partei nicht zu erschrecken, mit der sie sich sowohl ihrer Überzeugung nach verbunden fühlte, aber auch – man muss es deutlich sagen – durch materielle Interessen.

Das stimmt so nicht. Zum einen arbeitete Luxemburg den „ursprünglichen“ Marxismus weiter, z.B. in Gestalt ihrer (u.E. falschen Krisentheorie) oder mit ihrem Beitrag zur Generalstreikfrage. Gerade bei der Streikfrage hat sie ihre Ansicht sehr offensiv gegen die Revisionisten (u.a. Jaures) und die Gewerkschaftsführer vertreten. Diese, nicht aber Kautsky, waren auch die Hauptvertreter des Reformismus in dieser Frage. Es gab zwar gewisse Übereinstimmungen zwischen den Auffassungen Luxemburgs und des Anarchismus hinsichtlich der „revolutionären Spontaneität“, aber eine „enge Übereinstimmung“ gab es eben nicht. Im Unterschied zum Anarchismus betonte Luxemburg immer die besondere und zentrale Rolle der Partei. Sie hat die Partei oft genug „erschreckt“, so sehr, dass sie im Januar 1919 mit Billigung der rechten SPD-Führer umgebracht wurde. Anstatt ihr wie Guerin zu unterstellen, dass sie aus „materiellen Interessen“ auf Kritik verzichtet hätte, erlauben wir uns darauf zu verweisen, dass sie nicht ein Ministeramt anstrebte, sondern sich der Revolution verschrieb und Mitbegründerin der KPD war. Guerin unterstellt hier Luxemburg Opportunismus, weil sie nicht die Position des Anarchismus einnahm. Sie hat diesen auch nicht einfach pauschal kritisiert, sondern für bestimmte Positionen, so z.B. dafür, dass er das Agieren auf der politischen Ebene (u.a. bei Wahlen) ablehnte, tw. auf individuellen Terror setzte und den Aufbau einer Partei ablehnte. In all diesen Fragen hatte Luxemburg recht und hat ihre Positionen in vielen Artikeln dargelegt und begründet. Trotzdem kann man Guerin im Folgenden ganz allgemein zustimmen:

Aber abgesehen von den unterschiedlichen Darstellungsweisen, gab es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem anarcho-syndikalistischen Generalstreik und dem Massenstreik Rosa Luxemburgs. Ebenso sind ihre Kontroversen mit Lenin (1904) und mit dem zur Macht gelangten Bolschewismus (1918) vom Anarchismus nicht weit entfernt. Dasselbe gilt auch von ihren Zielvorstellungen zu Ende 1918 in der Spartakus-Bewegung, von einem Sozialismus, der von unten nach oben durch die Arbeiterräte getragen wird. Rosa Luxemburg ist einer der Berührungspunkte von Anarchismus und ungetrübtem Marxismus.

Aber der ursprüngliche Marxismus ist nicht nur von der deutschen Sozialdemokratie entstellt worden. Er ist maßgeblich von Lenin verändert worden, der deutlich einige der jakobinischen und autoritären Züge verstärkte, die zuweilen – jedoch keineswegs immer – in den Schriften von Marx und Engels auftauchten. Er erweiterte diese auch um einen Ultrazentralismus, eine enge und sektiererische Konzeption der Partei und vor allem um die Praxis der Berufsrevolutionäre als Führer der Massen. Von diesen Punkten ist in den Schriften von Marx nicht viel zu finden, wo sie höchstens im Kern und unterschwellig vorhanden sind. Indessen beschuldigte Lenin die Sozialdemokraten aufs heftigste, die Anarchisten verunglimpft zu haben und in seinem Buch „Staat und Revolution“ widmete er einen besonderen Abschnitt ihrer Würdigung hinsichtlich ihrer Treue zur Revolution.

Hier ist Guerin zuzustimmen. Nur der letzte Satz unterstellt Lenin eine Position, die er so nicht hatte. Lenin tadelte die Sozialdemokratie in „Staat und Revolution“ nicht dafür, dass sie die Anarchisten kritisiert hat, sondern wie. Sie warf dem Anarchismus nämlich die anti-staatliche Ausrichtung vor. Diese deckt sich aber durchaus mit Marx. Nur in dieser Hinsicht, nicht pauschal, verteidigt Lenin den Anarchismus gegen seine sozialdemokratischen Kritiker. Eine andere, von Guerin hier nicht erwähnte, Frage ist, dass Lenins eigene Staatsauffassung ebenfalls von der von Marx abweicht. Sie läuft nämlich darauf hinaus, dass der bürgerliche Staat zwar zerschlagen werden muss, aber wiederum durch einen neuen, proletarischen Partei-Staat ersetzt werden soll. Von Räten und einem Rätesystem ist bei Lenin in „Staat und Revolution“ keine Rede und in der späteren praktischen Politik der Bolschewiki auch immer weniger wenig zu spüren. Es waren keineswegs nur die ungünstigen objektiven Umstände, welche die Bolschewiki daran gehindert haben, ein Rätesystem aufzubauen bzw. zu fördern, sondern ihre falsche Konzeption zum Staat.

II

Unserer Aufgabe stellt sich ein zweites Problem. Das Denken von Marx und Engels ist auch in sich reichlich schwierig zu verstehen, weil es sich im Laufe der Arbeit eines halben Jahrhunderts sehr stark weiterentwickelt hat, und weil Marx und Engels ständig versucht haben, die tatsächlichen Ereignisse ihrer Zeit widerzuspiegeln. Trotz aller Versuche einiger ihrer heutigen Kommentatoren – unter ihnen ein Kirchenvater – gibt es kein marxistisches Dogma.

Nehmen wir einige Beispiele: Der junge Marx, Humanist und Schüler des Philosophen Feuerbach, entwickelt sich anschließend zu einem rigiden wissenschaftlichen Deterministen. Der Marx der „Neuen Rheinischen Zeitung“, der nur Demokrat genannt werden wollte, und der die Verbindung mit der fortschrittlichen deutschen Bourgeoisie suchte, ähnelt in nichts dem Marx von 1850, Kommunist und sogar Blanquist, Befürworter der permanenten Revolution, der unabhängigen, politischen kommunistischen Aktion und der Diktatur des Proletariats.

Welch ein Unterschied auch zwischen den Abschnitten im Kommunistischen Manifest 1848, welche forderten, dass der Staat die Gewalt über die gesamte Ökonomie erlange und den späteren Erklärungen, in denen der Staat durch die „assoziierten Produzenten“ ersetzt wird. Der Marx der folgenden Jahre, der die internationale Revolution auf wesentlich später verschob und sich in die Bibliothek des Britischen Museums einschloss, um sich umfassenden wissenschaftlichen Studien zu widmen, ist noch einmal völlig anders als der aufständische Marx von 1850, der an eine allgemeine, unmittelbar bevorstehende Erhebung glaubte.

Die Konstruktion „verschiedener“ Marxe erzeugt ein falsches Bild. Zwar gibt es bei Marx kein Dogma (dieses entstand erst bei seinen Epigonen), doch es gibt sehr wohl vom frühen bis zum späten Marx ein in sich logisches System von Anschauungen. Dieses besteht wesentlich u.a. darin, dass das Proletariat das historische Subjekt von grundlegenden Veränderungen ist, dass der bürgerliche Staat zerschlagen und durch eine demokratische Struktur der „assoziierten Produzenten“ ersetzt und dass das Privateigentum überwunden werden muss. Der Marx von 1847, als das „Kommunistische Manifest“ entstand, unterschiedet sich nicht grundlegend von dem von 1850 nach der 1848er Revolution. Der Unterschied bestand „lediglich“ darin, dass nach der Revolution bestimmte taktische und methodische Schlüsse gezogen werden konnten, was so davor nicht möglich war. Sicher: Marx war durchaus zu optimistisch, was die Revolution von 1848 anging, aber das war keine grundlegende Differenz hinsichtlich der historischen Perspektive.

Der Marx von 1864-1869, der zunächst hinter den Kulissen die Rolle des heimlichen und an der Macht uninteressierten Beraters der in der I. Internationalen zusammengeschlossenen Arbeiter gespielt hatte, wird ab 1870 plötzlich ein sehr autoritärer Marx, der von London aus den Generalrat der Internationalen dirigiert.

Das hat weniger mit autoritärem Verhalten zu tun (das Marx aber durchaus eigen war), sondern mit grundlegenden konzeptionellen Differenzen mit den Anarchisten.

Der Marx, der Anfang 1871 vor einer Erhebung in Paris heftig warnt ist nicht derselbe, wie der, der nachher in seiner berühmten Adresse unter dem Titel „Bürgerkrieg in Frankreich“ die Commune von Paris in den Himmel lobt, von der er – nebenbei bemerkt – einige Züge idealisiert.

Letzteres stimmt, doch es ist derselbe Marx, der objektiv korrekt einschätzte, dass die Erfolgschancen der Kommune gering waren, wie der, der die Kommune trotzdem unterstützte, wie der, der wichtige programmatische Erkenntnisse aus ihr ableitete.

Schließlich ist der Marx, der in der gleichen Schrift versichert, die Commune habe den Verdienst, den Staatsapparat zerschlagen und durch die Kommunale Macht ersetzt zu haben, keineswegs derselbe Marx wie der, der in seinem Brief über das Gothaer Programm unbedingt beweisen will, dass der Staat nach der proletarischen Revolution noch für eine relativ lange Zeit überleben müsse.

In seinen „Randglossen zum Gothaer Programm“ fällt Marx´ Kritik tatsächlich zu kurz und tw. etwas oberflächlich aus und er benennt einige grundlegende Mängel des Programms nicht. Bezüglich der Staatsstruktur der Übergangsgesellschaft kritisiert er korrekt die Formel vom „freien Volksstaat“, doch er führt leider nicht aus, was die Alternative wäre (die er ja nach 1871 schon erkannt hatte).

Wir könnten all diese Widersprüche und diesen Zickzack-Kurs durch die Jahre hindurch verfolgen. Es kann nunmehr wohl keine Frage mehr sein, dass der ursprüngliche Marxismus, derjenige von Marx und Engels, kein einheitlicher Block ist. Wir müssen ihn einer kritischen Prüfung unterziehen und können nur Teile von ihm übernehmen, die zu unserem libertären Kommunismus in keinem Widerspruch stehen.

Von Widersprüchen und einem Zickzackkurs zu sprechen, ist völlig unangemessen. Eine Weiterentwicklung, eine Präzisierung der Positionen ist kein Zickzack! Allerdings: es gibt „Widersprüche“ in Marxens Konzeption, etwa den zwischen seiner Betonung des Zentralismus einerseits und der Betonung der kommunalen bzw. genossenschaftlichen Selbstverwaltung. Doch 1. ist das der Unentwickeltheit der Verhältnisse seiner Zeit (vor-imperialistischer Kapitalismus, noch schwaches Proletariat, unentwickelte Arbeiterbewegung und nicht voll ausgeprägter Klassenkampf) geschuldet und 2. besteht das Problem hier v.a. darin, dass Marx und Engels unerhört viele Themenbereiche behandelt haben, jedoch zu den meisten nur Ansätze einer Theorie, verstreute Aussagen und Ideen formuliert haben, aber keine systematische Theorie.

III

Wir stehen nun einer dritten Schwierigkeit gegenüber. Der Anarchismus bildet, noch weniger als der Marxismus, eine einheitliche Lehre. Wie ich es in meinem kleinen Buch „Anarchismus“ dargelegt habe, bewegt die Libertären speziell die Ablehnung der Autorität und der Schwerpunkt, der auf die Vordringlichkeit der individuellen Entscheidung gelegt wird, wie es Proudhon in einem Brief an Marx ausgedrückt hat, „sich zum Antidogmatismus zu bekennen“. Auch sind die Ansichten der libertären verschiedener, fließender und schwieriger zu erfassen als die der autoritären Sozialisten.

Es gibt unterschiedliche Strömungen im Anarchismus. Neben den libertären Kommunisten gibt es Individualanarchisten, sozietäre Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und wie sie wissen, zahlreiche weitere Anarchismen: Gewaltfreie Anarchisten, Anarcho-Pazifisten, vegetarische Anarchisten usw.

Hier verweist Guerin ganz richtig auf die Differenziertheit des Anarchismus, was schon insofern ein Problem ist, als der Marxismus sich oft in einer „Rundumkritik“ am Anarchimus gefiel, die den einzelnen Ausprägungen und historischen Entwicklungen nicht gerecht wurden. Wenn Lenin z.B. die Anarchisten als „Liberale mit Pistole“ sah, so bezog sich das v.a. auf den individuellen Terrorismus, der immer nur einen Teil des Anarchismus repräsentierte und z.B. auf den Anarcho-Kommunismus und Anarcho-Syndikalismus gar nicht zutraf.

Die Frage stellt sich nun, welche Spielarten des Anarchismus wir mit dem ursprünglichen Marxismus konfrontieren wollen, mit dem Ziel, herauszubekommen, in welchen Punkten die zwei Hauptschulen des revolutionären Denkens sich decken und in welchen sie auseinandergehen. Es scheint mir klar, dass die Richtung des Anarchismus, die dem Marxismus am wenigsten entfernt sein dürfte, der konstruktive Anarchismus ist, der sozietäre, kollektivistische oder kommunistische Anarchismus. Und diese Tatsache beruht keineswegs auf einem Zufall, wie ich in dem Buch „Anarchismus“ bereits betont habe.

IV

Wenn man in die Probleme etwas tiefer einsteigt, so ist es unschwer festzustellen, dass sich in der Vergangenheit Anarchismus und Marxismus gegenseitig beeinflusst haben. Malatesta, der bekannteste italienische Anarchist, hat einmal geschrieben: „Nahezu die gesamte anarchistische Literatur des 19. Jahrhunderts war durch den Marxismus beeinflusst“.

Sie wissen, dass Bakunin eine große Hochachtung gegenüber den wissenschaftlichen Fähigkeiten von Marx hatte, und dass er damit begonnen hat, das „Kapital“ ins Russische zu übersetzen. Des weiteren veröffentlichte Bakunins Freund, der italienische Anarchist Carlo Cafiero italienische Kurzfassungen des „Kapitals.“ Umgekehrt haben die ersten Bücher Proudhons: „Was ist das Eigentum?“ (1840) und vor allem sein großes Werk „Systeme des contradictions economiques ou philosophie de la misere“ (1846) den jungen Marx stark beeinflusst, auch wenn wenig später der undankbare Ökonom seinen Lehrer durch den Kakao zog und gegen ihn „Misere de la philosophie“ schrieb.

Trotz ihrer Auseinandersetzungen verdankte Marx vieles den Ideen Bakunins. Wir wollen hier nur zwei Beispiele anführen: Die Adresse, die von Marx über die Commune verfasst wurde, steht stark unter bakunistischem Einfluß – wie es von Arthur Lehning, dem Herausgeber des „Archives Bakounine“ herausgearbeitet worden ist. Und, wie ich es bereits erwähnt habe, wurde Marx Dank Bakunins dazu gezwungen, die Forderung nach dem Volksstaat, die seine sozialdemokratischen Verbündeten aufgestellt hatten, zu verwerfen.

V

Marxismus und Anarchismus haben sich nicht nur gegenseitig beeinflusst, sie haben auch einen gemeinsamen Ursprung. Sie gehören quasi derselben Familie an. Als Materialisten glauben wir nicht, dass die Ideen so einfach in den Köpfen der Menschen entstehen. Sie widerspiegeln lediglich die Erfahrungen der Massenbewegungen, die diese in ihren Klassenkämpfen gemacht haben. Die ersten sozialistischen Autoren, sowohl Anarchisten wie Marxisten, haben ihre gesamte Inspiration zuerst aus der großen Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts geschöpft, später von 1840 an aus den Bemühungen der französischen Arbeiter, die das Ziel hatten, sich selbst zu organisieren, um gegen die kapitalistische Ausbeutung zu kämpfen.

Wenige nur wissen, dass es 1840 in Paris einen Generalstreik gab. Und während der 40er Jahre folgte diesem Generalstreik eine Blüte der Arbeiter-Zeitungen wie „L’Atelier“. Im selben Jahr 1840 – die Übereinstimmung ist verblüffend – veröffentlichte Proudhon seine Denkschrift gegen das Eigentum. Und vier Jahre später, 1844, legte der junge Marx in seinem berühmten Manuskripten den Bericht seines Besuches bei den Pariser Arbeitern vor und betonte den tiefen Eindruck, den diese Handarbeiter auf ihn gemacht hatten. Im vorhergehenden Jahr hatte eine bemerkenswerte Frau, Flora Tristan, den Arbeitern die Arbeiterunion gepredigt und eine Tour de France unternommen, um mit den Arbeitern der Großstädte Kontakt aufzunehmen.

Sowohl der Anarchismus als auch der Marxismus schöpfen anfangs aus derselben Quelle. Und unter dem Eindruck der neu entstandenen Arbeiterklasse legen beide dasselbe Endziel fest, d.h. den kapitalistischen Staat abzuschaffen, den sozialen Reichtum, die Produktionsmittel den Arbeitern selbst anzuvertrauen. Dies war die Grundlage der kollektiven Übereinstimmung, die zwischen Marxisten und Bakunisten auf dem Kongress der I. Internationalen, kurz vor Beginn des deutsch-französischen Kriegs von 1870, zustande gekommen war. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Übereinkunft gegen die letzten Schüler Proudhons (gest. 1865) gerichtet war, die sich zu Reaktionären entwickelt hatten. Einer von ihnen, Tolain, hatte sich dem Privateigentum an Produktionsmitteln verschrieben.

VI

Bisher habe ich erwähnt, dass die ersten Sprecher der französischen Arbeiterbewegung ihre Inspiration auf eine bestimmte Weise aus der großen Französischen Revolution gezogen haben. Kommen wir darauf zurück.

Tatsächlich bestanden innerhalb der Französischen Revolution zwei sehr verschiedene Formen von Revolution, oder besser gesagt, zwei verschiedene, entgegengesetzte Kräfte. Eine wurde vom linken Flügel der Bourgeoisie gebildet, die andere von einem Vorläufer des Proletariats: kleine Handwerker und Lohndiener. Die erste war autoritär, ja diktatorisch, zentralistisch, repressiv gegenüber den Nicht-Privilegierten. Die zweite war demokratisch, föderalistisch und zusammengesetzt aus, wie man heute sagen würde, den Arbeiterräten, d.h. den innerhalb der Pariser Commune assoziierten 48 Sektionen der Stadt und den Volksvereinen in den Städten der Provinz.

Ich zögere nicht zu sagen, dass diese zweite Kraft einen libertären Inhalt hatte und in gewisser Weise der Vorläufer der Pariser Commune von 1871 und der russischen Sowjets von 1917 war, wohingegen die erste Kraft im 19. Jahrhundert eine jakobinische Fortsetzung fand.

Marx hatte der „zweiten“, proletarischen Strömung allerdings zu recht den Vorwurf gemacht, dass sie schwere taktische Fehler gemacht hat, die letztlich den Sieg der Kommune vereitelt haben. So haben die Kommunarden die Staatsbank nicht übernommen und es versäumt, gleich zu Anfang auf Versailles zu marschieren und die bürgerliche Regierung zu stürzen und deren damals noch schwache Armee zu schlagen. M.a.W.: Wie zentralistisch oder demokratisch ein Arbeiterstaat bzw. die Übergangsgesellschaft sein kann oder muss, hängt wesentlich von den Kampfbedingungen ab und kann nicht doktrinär ein für alle Mal festgelegt werden. Schließlich ist die Übergangsgesellschaft noch kein Kommunismus, in dem bestimmte Prinzipien gelten. Die Differenz zwischen dem Marxismus (von Marx) und dem Anarchismus besteht überhaupt zum großen Teil darin, dass der Anarchismus die Notwendigkeit und den Charakter der Übergangsphase nicht versteht und quasi vom Kapitalismus sogleich einen direkten Sprung in den Kommunismus vollziehen zu können glaubt. Diese Sicht ist ahistorisch und voluntaristisch, weil sie verkennt, dass der Übergang von einer in eine andere, noch dazu historisch völlig neuartige Produktionsweise nur Ergebnis eines Prozesses und kein einmaliger Akt sein kann.

In Wahrheit ist jedoch das Wort „jakobinisch“ ungenau zweideutig und künstlich. Es war der Name eines Pariser Volksclubs der „Gesellschaft der Jakobiner“, die diesen wiederum vom Konvent eines Klosterordens übernommen hatte, in dessen Gebäude der Club sich eingerichtet hatte. Tatsächlich verlief die Trennungslinie des Klassenkampfs zwischen revolutionärem Bourgeois und Nicht-Privilegierten auch innerhalb der Gesellschaft der Jakobiner und quer durch sie hindurch. Genauer, auf ihren Treffen gerieten die Mitglieder der einen und der anderen Richtung in Streit miteinander. Dennoch wird in der späteren Literatur das Wort Jakobiner angewandt, um eine revolutionäre bourgeoise Tradition zu bezeichnen, die von oben mit autoritären Mitteln Land und Revolution dirigiert; der Begriff wurde in diesem Sinne sowohl von den Anarchisten als auch den Marxisten verwandt. So nannte sich z.B. Charles Delecluze, der Führer des rechten Mehrheitsflügels im Rat der Commune von Paris, selbst ein Jakobiner, einen Anhänger Robespierres.

Proudhon und Bakunin haben in ihren Schriften die Politik der revolutionären Bourgeoisie als „jakobinisches Denken“ bekämpft. Dagegen hatten Marx und Engels einige Mühe, sich von diesem jakobinischen Mythos freizumachen, der durch die Helden der bürgerlichen Revolution berühmt und glorifiziert wurde, unter ihnen Danton (der in Wirklichkeit ein korrumpierter Politiker und Doppelagent war) und Robespierre (der als Diktator endete.) Die Libertären wurden Dank ihrer anarchistischen Erkenntnis nicht zu den Geprellten des Jakobinertums. Sie begriffen sehr gut dass die Französische Revolution nicht nur ein Bürgerkrieg zwischen der absoluten Monarchie und dem revolutionären Bürgertum war, sondern auch – etwas später – ein Bürgerkrieg zwischen Jakobinertum und Communalismus, wie ich ihn einmal nennen möchte. Ein Bürgerkrieg, der im März 1794 zur Niederlage der Commune von Paris und zur Enthauptung ihrer beiden Stadtmagistraten, Chaumette und Hebert, führte, d.h. zur Abschaffung der Herrschaft von unten, genau wie die russische Oktoberrevolution zur Liquidierung der Fabrikräte führte.

Marx und Engels schwankten ständig zwischen Jakobinertum und Communalismus. Anfangs lobten sie die „rigorose Zentralisierung, wie sie in Frankreich 1793 modellhaft vorgeführt wurde“. Aber später – wohl zu spät – 1895, bemerkte Engels, dass sie sich im Irrtum befunden hätten, und die besagte Zentralisation den Weg zur Diktatur Napoleons I. geebnet habe. Es kam vor, dass Marx einmal schrieb, die Enrages, die Anhänger des linksradikalen Ex-Priesters Jaques Roux, der ein Sprecher der arbeitenden Bevölkerung der Vorstädte war, seien „die Hauptvertreter der revolutionären Bewegung“ gewesen. Während Engels ein andermal behauptete, dem Proletariat von 1793 „hätte überhaupt nur von oben her Unterstützung zuteil werden können.“ Später dann zeigte sich Lenin wesentlich jakobinischer als seine Lehrer Marx und Engels. Ihm zufolge stellt das Jakobinertum „einen der höchsten Gipfel dar, den die unterdrückte Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung erreicht hat“. Und er schätzt es, sich selbst einen Jakobiner zu nennen, dem er jedoch hinzufügt: „ein Jakobiner, der mit der Arbeiterklasse verbunden ist“. Daraus ergibt sich für uns, dass die Libertären mit den Marxisten nur unter der Bedingung zusammenarbeiten können, dass diese vollständig alle jakobinischen Überbleibsel verwerfen.

Hier verweist Guerin sehr richtig auf einen Unterschied zwischen Marx und Lenin, der 1. darin bestand, dass Marx stärker die genossenschaftliche Selbstorganisation des Proletariats betonte, während Lenin das Element des staatlichen Zentralismus hervorhob. Zum 2. ging Marx davon aus, dass der Staat – und hier ist jede Art von „selbstständigem“, „abgehobenem“ Staat, also auch ein proletarischer Staat gemeint, im Kommunismus abgestorben sein würde – was einen Prozess der Rückbildung, des Zurückdrängens der staatlichen Strukturen und deren Ersetzung durch Räte-artige Selbstverwaltungsstrukturen bedeutet. Lenin hingegen bekennt sich zwar auch zur These des Absterbens, verschiebt dieses aber auf eine ferne kommunistische Zukunft und widmet der Frage, wie dieser Prozess bereits vorher aussehen könnte, in „Staat und Revolution“ keinen einzigen Satz. Im Gegenteil: er schreibt, dass alle Arbeiter Angestellte des Staates werden sollen.

Fassen wir nun die Hauptunterschiede zwischen Marxismus und Anarchismus zusammen. Zunächst, wobei sie in dem Endziel der Abschaffung des Staats übereinstimmen, halten es die Marxisten für notwendig, nach der siegreichen proletarischen Revolution, für eine unbestimmt lange Zeit einen neuen Staat zu schaffen, den sie „Arbeiterstaat“ nennen und von dem sie dann versprechen, dass dieser neue Staat – gelegentlich auch „Halbstaat“ genannt – damit endet, dass er von selbst verschwindet. Dagegen wenden die libertären Kommunisten ein, dass der neue Staat sogar noch allmächtiger und noch unterdrückender als der bürgerliche Staat sein wird, weil sich die gesamte Wirtschaft im staatlichen Besitz befindet und weil sich seine ständig wachsende Bürokratie weigern wird, einfach „zu verschwinden“.

Der historische Beleg für diese Gefahr ist die Degeneration der UdSSR und später des Ostblocks. Hier wurden die Anfänge des Rätesystems zerstört, dort gab es sie erst gar nicht oder sie wurden von den Moskauer Bürokraten und ihren nationalen Satrapen sogleich eliminiert.

Außerdem reagieren die libertären Kommunisten einigermaßen misstrauisch auf jene Aufgaben, die von den Marxisten der kommunistischen Minderheit gegenüber der Bevölkerung zugesprochen werden. Wenn sie in den Heiligen Schriften von Marx und Engels nachlesen, so tun sie gut, in diesem Punkt gewisse Zweifel zu hegen. Sicher, im Kommunistischen Manifest kann man lesen, dass die Kommunisten „keine getrennten Interessen vom Gesamt-Proletariat“ haben, und dass sie ständig das „Interesse der Gesamtbewegung repräsentieren“. Ihre theoretischen Konzeptionen, so schwören die Autoren des Manifests, „beruhen in keiner Weise auf den Ideen, auf den erfundenen Prinzipien des einen oder anderen Weltverbesserers, sie sind nur der allgemeine Ausdruck eines bestehenden Klassenkampfs, einer historischen Bewegung, die sich vor unseren Augen abspielt“. Ja sicher, mit diesem Punkt werden wir Libertären auch einverstanden sein!

Aber das nun folgende Zitat steht dazu einigermaßen im Widerspruch und alarmiert: „Theoretisch haben die Kommunisten gegenüber dem Rest der proletarischen Masse den Vorteil, klar die Bedingungen, den Weg und die schließlichen Ergebnisse der proletarischen Bewegung zu verstehen“.

Bedeutet das nicht, dass die Kommunisten aufgrund eines solchen „Vorsprungs“ ein historisches Recht darauf haben, sich die Führung des Proletariats anzumaßen? Wenn es so wäre, wären wir libertären Kommunisten nicht mehr einverstanden. Wir bestreiten, dass es außerhalb des Proletariats überhaupt eine Avantgarde geben kann, und wir sind der Meinung, dass wir nur die Rolle von uneigennützigen Beratern an der Seite oder innerhalb des Proletariats spielen können, um den Arbeitern in ihren Anstrengungen zu helfen, mit dem Ziel, einen höheren Bewusstseinsstand zu erreichen.

Hier zeigt Guerin ein Problem auf, verheddert sich bei seiner Lösung des Problems jedoch. Man mag zwar bestreiten, „dass es außerhalb des Proletariats überhaupt eine Avantgarde geben kann“, doch es gab immer eine Form von Avantgarde, die auch immer in dieser oder jener Form organisierte Formen annahm. Dass dem so ist, zeigt schon, dass die Avantgarde ein natürliches Ergebnis des Klassenkampfes ist und nicht nur eine Kopfgeburt von Marxisten. Letztlich ist der Anarchismus selbst auch eine Form von Avantgarde, auch wenn sie nicht die Form einer Partei annimmt. Selbst eine Gewerkschaft ist eine Form von Vorhut der Klasse. Wenn Guerin dagegen für die Anarchisten „nur die Rolle von uneigennützigen Beratern an der Seite oder innerhalb des Proletariats“ vorsieht, dann muss die Frage erlaubt sein, ob die Beraterfunktion ohne Strukturen auskommen könne? Das reale Problem der Führung resp. der „Beratung“ der Klasse glaubt Guerin dadurch lösen zu können, dass er einen anderen Begriff wählt, dass er statt „Führung“ „Beratung“ setzt.

Das Verhältnis zwischen Führung (Partei) und Klasse ist kein statisches, sondern ein historisches und dialektisches und kann in verschiedenen Phasen des Klassenkampfes sehr unterschiedlich sein. In einer Revolution etwa, wo es v.a. um die Macht geht, wo also v.a. politische Fragen auf der Tagesordnung stehen, fällt die Führung normalerweise der Partei zu, in Phasen des friedlichen Aufbaus jedoch ist die Partei gar nicht in der Lage, auf allen Gebieten der Gesellschaft als Avantgarde voranzugehen. Hier ist es das Rätesystem und die darin in allen Bereichen der Gesellschaft sich repräsentierenden Erfahrungen, Kenntnisse und Bedürfnisse der Massen, das die „Führung“ übernimmt. Diesen Paradigmenwechsel nicht zu verstehen und – wie die Bolschewiki oder später die Stalinisten – auf der politischen und administrativen (!) Führungsrolle zu beharren, endet darin, dass eine Bürokratie die Gesellschaft dominiert, die schöpferischen Kräfte blockiert und den Kommunismus verhindert.

Das führt uns zu der Frage nach der revolutionären Spontaneität der Massen, einem typischen anarchistischen Begriff. Wir finden in den Schriften von Proudhon und Bakunin in der Tat sehr häufig die Worte „spontan“ und „Spontaneität“. Aber, was sehr seltsam ist, niemals in den Schriften von Marx und Engels in ihrer ursprünglichen Fassung. In den Übersetzungen tauchen diese Worte von Zeit zu Zeit auf, sie sind jedoch nur ungenaue Wiedergaben. Tatsächlich beziehen sich Marx und Engels nur auf die Selbsttätigkeit der Massen, was eher weniger ist als Spontaneität. Sicherlich kann sich eine revolutionäre Partei neben ihren hervorragenden Aktivitäten ein gewisses Maß an Selbsttätigkeit der Massen erlauben, aber die Spontaneität der Massen würde ihren Anspruch auf die führende Rolle gefährlich in Frage stellen. Rosa Luxemburg war die erste Marxistin, die in ihren Schriften in deutscher Sprache das Wort „spontan“ gebrauchte, das sie von den Anarchisten übernommen hatte; und sie legte auch das Schwergewicht auf die Spontaneität in der Massenbewegung. Man kann annehmen, dass die Marxisten gegenüber sozialen Bewegungen ein bestimmtes Unbehagen hegen, die keinen ausreichenden Platz für das Eindringen ihrer anmaßenden Führer lassen.

Das sind ungerechtfertigte Behauptungen. Rosa Luxemburg betonte zwar tatsächlich die Selbsttätigkeit bzw. die Spontaneität der Massen, jedoch wies sie zugleich immer auf die Rolle der Partei hin. Sie sah die Wechselwirkung beider Faktoren als entscheidend für den Erfolg im Klassenkampf an. Marxisten, die wirklich Marxisten sind, sehen das auch so und haben durchaus kein Unbehagen gegenüber sozialen Bewegungen. Dieses Unbehagen ist vielmehr für die Sozialdemokratie und den Stalinismus kennzeichnend.

Sodann sind die libertären Kommunisten nicht allzu sehr erbaut, wenn sie von Zeit zu Zeit beobachten, dass es die Marxisten nicht verschmähen, die Mittel und die Kunsttricks der bürgerlichen Demokratie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Die Marxisten bedienen sich nicht nur mit Vergnügen des Wahlzettels, den sie für eines der besten Mittel halten, die Macht zu erringen, sondern es kommt auch vor, dass sie sich darin gefallen, mit den liberalen oder radikalen Bürgerparteien ekelhafte Wahlbündnisse zu schließen, wenn sie nur mit Hilfe solcher Wahlbündnisse zu Parlamentssitzen kommen können.

Die Gleichsetzung von (bürgerlicher) Demokratie mit „Kunsttricks“ ist sehr einseitig. Marxisten haben sich immer für die Ausnutzung und Ausweitung der bürgerlichen Demokratie eingesetzt. Dabei bekämpften sie die Einschränkungen und manipulativen Elemente der bürgerlichen Demokratie. Gerade das hat ihren Einfluss in den Massen stark erhöht. Jedoch haben sie nie geglaubt, dass der Wahlzettel das beste Mittel sei, die Macht zu erringen – schon, weil die Macht nicht beim Parlament liegt. Marx betonte immer wieder, dass es letztlich darum gehe, die Eigentumsverhältnisse zu ändern und nicht nur die Strukturen des Überbaus. Auch die Praxis, mit den liberalen oder radikalen Bürgerparteien Wahlbündnisse zu schließen oder gar in bürgerliche Regierungen einzutreten, war nie eine Option für Marx, sondern nur der Reformisten und Stalinisten (Volksfrontpolitik).

Natürlich haben die libertären Kommunisten keine metaphysische Abscheu vor Wahlurnen. Proudhon wurde einmal in die Nationalversammlung von 1848 gewählt. Ein anderes Mal unterstützte er die Wahl von Raspail. Auch später unter dem zweiten Empire befürwortete er, dass die Arbeiter Kandidaten zu den Wahlen aufstellten. Das war für ihn nur eine Frage der Opportunität. Bei anderer Gelegenheit vermieden es die spanischen Anarchisten 1936, gegen die Wahlbeteiligung der Volksfront eine starre Haltung einzunehmen.

Die spanischen Anarchisten haben vor 1936 immer eine Beteiligung an Wahlen abgelehnt. Das führte dazu, dass erst 1936, als die Anarchisten ihre Position ausnahmsweise änderten, eine linke Mehrheit entstand und eine revolutionäre Arbeiterregierung hätte gebildet werden können. Diese Möglichkeit wurde dadurch vereitelt, dass die KP auf Geheiß Moskaus mit den bürgerlichen Parteien koalierte – auf Basis des Ausbremsens der Revolution. Die Unausgewogenheit der spanischen Anarchisten zeigte sich dann darin, dass sie einerseits die Volksfrontregierung von links kritisierten, dann aber doch in diese Regierung eintraten, anstatt sie zu stürzen, wie es 1917 die Bolschewiki gemacht hatten. Dieses „Schwanken“ der Anarchisten war (neben der konterrevolutionären Politik der KP und der Sozialdemokratie) die Hauptursache dafür, dass Franco siegen konnte.

Aber abgesehen von diesen, sehr seltenen Ausnahmen, beschreiten die Anarchisten ganz andere Wege, um den kapitalistischen Gegner zu Fall zu bringen: Direkte Aktion, gewerkschaftliche Aktion, Arbeiterautonomie und Generalstreik.

Die Haken an dieser anarchistischen Strategie sind allerdings, dass diese 1. den Kampf auf der politischen Ebene, zu der nicht nur die Wahlen und der Parlamentarismus zählen, nicht aufnimmt, so dass die Bourgeoisie auf diesem Gebiet ungehindert ihre Macht durchsetzen kann und 2., dass der eigentliche revolutionäre Bruch, der Akt der Revolution selbst, im taktischen Portfolio des Anarchismus (zumindest bei Guerin) gar nicht auftaucht. Die Geschichte des Klassenkampfes enthält viele Beispiele dafür, wie bedeutsam das Areal des Politischen ist. Der Kampf für mehr Demokratie und ein gerechteres Wahlsystem etwa war ein bedeutendes Element der Konstituierung der Arbeiterbewegung und der Etablierung günstigerer Bedingungen für den Klassenkampf. Oder: Die spanischen Anarchisten waren 1936 trotz ihrer riesigen Massenbasis nicht imstande, die gesamte Macht zu erobern, weil sie ein falsches Verständnis von Klassenkampf und Staat in einer offen revolutionären Krise hatten.

Kommen wir nun auf folgende Zwickmühle zu sprechen: Verstaatlichung der Produktionsmittel oder Selbstverwaltung? Hier zögern Marx und Engels erneut. Im Kommunistischen Manifest von 1848, geschrieben unter dem direkten Einfluss des französischen Staatssozialisten Louis Blanc, kündigten sie ihre Absicht an, „alle Produktionsmittel in den Händen des Staates zu zentralisieren“. Aber unter dem Begriff Staat verstanden sie „das als herrschende Klasse organisierte Proletariat“. Gut, aber warum zum Teufel nennen sie eine solche proletarische Organisation „Staat?“ Und weiter: Warum fügten sie später, im Juni 1872, ein Vorwort zur Neuauflage des Manifests hinzu, in dem sie sich von ihrer früheren Liebe zum Staat distanzieren und annehmen, dass die Produktion in die Hände der „assoziierten Produzenten“ überführt werden soll?

Ob das „Kommunistische Manifest“ unter dem Einfluss von Louis Blanc entstand, darf bezweifelt werden. Vielmehr zeigt es, dass Marx und Engels bereits in dieser frühen Phase ihres Schaffens weit über das Konzept von Blanc u.a. hinausgegangen waren. Sie fügten zur Frage des Staates nicht zufällig die Ergänzung an, dass der Arbeiterstaat „das als herrschende Klasse organisierte Proletariat“ ist. Wenn sie diesen „Staat“ auch nur als „normalen“ Staat alten Typs gehen hätten: warum dann dieser Zusatz?! Als sie 1872 im erwähnten neuen Vorwort zum „Manifest“schrieben, dass die Produktion in die Hände der „assoziierten Produzenten“ überführt werden soll, so stellte das keineswegs eine Positionsänderung dar, wie Guerin behauptet, sondern nur eine erneute Betonung ihrer früheren Aussagen. Als Belege mögen hier einige Zitate dienen.

Schon im „Kommunistischen Manifest“ wird gesagt, dass die „Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert“ sein soll. In den „Randglossen“ (1875) spricht Marx bezüglich der nach-kapitalistischen Wirtschaft von einer „genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft“.

Engels schrieb 1875 an Bebel: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“

Wiederholt spricht Marx von genossenschaftlichen Strukturen. „Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d.h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.“ (MEW 25, 456)

Bereits in einer Resolution für die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) schrieb Marx 1866 zum Genossenschaftswesen: „Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.“

Kein Wort von einer Staatswirtschaft, stattdessen ein klares Plädoyer für ein genossenschaftliches System.

Oder hier: „Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.“ (MEW 25, 456)

Nun werden die Kritiker sofort entgegnen, dass Marx und Engels durchaus auch von der Verstaatlichung sprechen. Das ist richtig. Nur müssen wir bedenken, dass Verstaatlichung zunächst v.a. Enteignung der Kapitalisten per Ukas der Regierung bedeutet und nicht Schaffung von dauerhaftem Staatseigentum. Engels bringt das z.B. hier zum Ausdruck: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst (sic!) in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. (…) Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab.“ (Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft). Trotzdem behauptet Guerin:

Diese Gesinnungsänderung war nur das Ergebnis der Vereinbarung, die, wie wir gesehen haben, auf dem Kongress der I. Internationalen, der dem Krieg von 1870 vorausging, mit den Bakunisten zustandegekommen war. Aber es ist hervorzuheben, dass Marx die Wege, wie die Selbstverwaltung zu erreichen sei, niemals gründlich untersucht hat, während Proudhon ihr Seite um Seite seines Werks widmete. Proudhon, der sein Leben als Arbeiter begonnen hatte, wusste wovon er sprach, er hatte mit intensiver Aufmerksamkeit die Arbeiterassoziationen beobachtet, die während der Revolution von 1848 entstanden waren. Der Grund für Marx Haltung ist vermutlich, dass er diese Frage mit Geringschätzung als „utopisch“ ansah. Heute gehören wir libertäre Kommunisten zu denen, denen es gelungen ist, wenigstens in Westeuropa die Selbstverwaltung zu einer aktuellen, sehr konkreten Frage zu machen und sie auf die Tagesordnung zu setzen – eine Frage, die darüber hinaus bereits derart in Mode gekommen ist, dass sie heute von fast allen politischen Strömungen vereinnahmt, verbogen und verkürzt wird.

Marx und Engels haben es tatsächlich versäumt, die Frage von Selbstverwaltung und Genossenschaftlichkeit systematischer auszuführen. Marx selbst hat das eingeräumt. Dieses Manko hat die Orientierung der Sozialdemokratie, des Leninismus und des Stalinismus auf Staatswirtschaftsmodelle sicher begünstigt. Noch heute ist der sog. Marxismus auf diesem Auge blind. Insofern kommt dem Anarchismus das Verdienst zu, diesen Aspekt revolutionärer Strategie – wenn auch oft in schiefer Weise – betont zu haben.

VII

Erwähnen wir nun, wie Anarchisten und Marxisten von ihrer proletarischen Entstehung an in Konflikt miteinander geraten sind. Der Schlagabtausch wurde von Marx und Engels eröffnet, mit ihrem bösartigen, gegen Stirner gerichtetem Buch „Die Deutsche Ideologie“. Es beruht auf einem gegenseitigen Missverständnis. Stirner hebt nicht deutlich genug hervor, dass er hinter seiner übersteigerten Hervorhebung des Ich, des Individuums, das er als Einziges ansah, darüber hinaus tatsächlich die freiwillige Assoziation dieses Einzigen mit anderen vorsieht, d.h. eine neue Gesellschaft, die auf der Freien Wahl der Föderation und auf dem Recht beruht, sich von der Föderation wieder zu trennen; eine Idee, die später von Bakunin aufgenommen werden sollte, und schließlich von Lenin verwandt wird, wenn er über die nationale Frage schreibt. Ihrerseits interpretieren Marx und Engels Stirners Schmähschriften gegen den Kommunismus falsch, die sie für reaktionär hielten, wohingegen Stirner eigentlich gegen einen völlig anderen Kommunismus anstänkerte, gegen den „plumpen“ Staatskommunismus der utopischen Kommunisten seiner Zeit, wie Weitling in Deutschland und Cabet in Frankreich, denn – so Stirner – er gefährde die individuelle Freiheit.

Dann der rasende Angriff von Marx gegen Proudhon, teilweise aus denselben Gründen, der besagte Proudhon feiere das Privateigentum, weil er in ihm eine Garantie der persönlichen Freiheit sähe. Aber Marx erfasste nicht, dass sich Proudhon für den Bereich der Großindustrie, in anderen Worten, im kapitalistischen Bereich zum Anwalt des kollektiven Besitzes machte. Notierte er nicht in seinen „Carnets“, dass die „Kleinindustrie eine genau so dumme Sache sei wie die Kleinkultur?“ Im Bereich der Großindustrie ist er leidenschaftlicher Kollektivist. Den Arbeiter-Gesellschaften, wie er sie nennt, soll in seinen Augen eine bedeutende Rolle zukommen, nämlich die der Verwaltung der großen Industrien, wie die der Eisenbahnen, der Manufakturen, des Bergbaus, der Metallverarbeitung, der Marine usw.

Andererseits forderte Proudhon gegen Ende seines Lebens in „Die Fähigkeiten der arbeitenden Klassen“ die vollständige Trennung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den Klassenkampf. Das hielt Marx nicht davon ab, so infam zu sein, den Proudhonismus als kleinbürgerlichen Sozialismus zu behandeln.

Jetzt kommen wir auf den heftigen und wenig sauberen Streit zwischen Marx und Bakunin zu sprechen, den der I. Internationalen. Auch hier spielten teilweise Missverständnisse eine Rolle. Bakunin unterstellte Marx schreckliche, autoritäre Absichten, einen Machthunger nach Herrschaft über die Arbeiterbewegung. Bakunin überzog sicherlich, erstaunlich ist jedoch, dass er sich als Prophet in dieser Frage herausstellte. Er hatte eine sehr hellseherische Vision der späteren Zukunft. Er sah das Entstehen einer „roten Bürokratie“ vorher, genauso wie die Tyrannei, die schließlich von den Führern der III. Internationale (Komintern) auf die Arbeiterbewegungen der ganzen Welt ausgeübt wurde. Marx schlägt gegen Bakunin zurück, indem er ihn aufs niedrigste verleumdet, und indem er auf dem Haager Kongress 1872 seinen Ausschluss erreicht.

Von nun an sind die Brücken zwischen dem Anarchismus und dem Marxismus zerstört. Ein verheerendes Ereignis für die Arbeiterklasse, weil beide Bewegungen die theoretischen und praktischen Beiträge der jeweils anderen sehr nötig gehabt hätten. Während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts scheiterte der Versuch, eine geschrumpfte anarchistische Internationale zu schaffen. Der gute Wille hierzu fehlte nicht, aber der Anarchismus hatte sich von der Arbeiterbewegung getrennt nahezu isoliert.

Guerins Darstellung des Konflikts zwischen Marx und Bakunin ist eine sehr verkürzte. Marx´ Kritik bezog sich auf mehrere zentrale Punkte, darunter die Ablehnung des politischen Kampfes durch die Anarchisten oder ihren Spontaneismus, der den Klassenkampf tendenziell zu einem voluntaristischen Abenteurertum macht und ihn aus dem Zusammenhang mit den objektiven Bedingungen reißt. Allerdings ist Guerin zuzustimmen, wenn er beklagt, dass Marx in der Wahl seiner Mittel manchmal unseriös vorging und einseitig und tw. demagogisch argumentierte. Diese Art von „Kampf“ stieß nicht nur viele Anhänger von Marx ab, sie vertiefte den Graben zwischen Marxismus und Anarchismus und blockierte jede sachliche Debatte zwischen ihnen – bis heute.

In derselben Zeit entwickelte sich der Marxismus sehr rasch, in Deutschland mit dem Anwachsen der Sozialdemokratie und in Frankreich durch Gründung der Arbeiterpartei durch Jules Guesdes. Später vereinigten sich die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, um die II. Internationale zu gründen. Auf ihren folgenden Kongressen entwickelten sich heftige Kämpfe mit den Libertären, denen es gelungen war, an ihren Kongressen teilzunehmen. 1893 machte der holländische libertäre Sozialist Domela Nieuwenhuis in heftigen und brillanten Worten der deutschen Sozialdemokratie den Prozess und erntete dafür Hohngelächter. In London beschimpften 1896 die Tochter von Marx, Aveling und der französische Sozialistenführer Jean Jaures die Anarchisten, die als Delegierte verschiedener Arbeitersyndikate in den Kongress gelangt waren, und ließen sie hinauswerfen.

Diese Beispiele sind Belege dafür, dass die Sozialdemokratie schon sehr früh, eigentlich schon seit der Gründung der deutschen Partei 1875 in Gotha, einer Programmatik folgte, die nur in Ansätzen als revolutionär gelten kann. Wie z.B. die Beiträge Luxemburgs zeigen, gab es schon Ende der 1880er deutliche Anzeichen für das Abgleiten in den Reformismus – nicht nur in Deutschland, sondern auch z.B. in Frankreich (Jaures, Millerand) oder in Belgien mit dem Abbruch der Massenstreiks für die Wahlrechtsreform. Die Erarbeitung taktischer Prinzipien für den Klassenkampf hing gegenüber der Kritik der Linken am Revisionismus zurück. Erst mit der Massenstreikdebatte in der Folge der Revolution von 1905, die v.a. von Luxemburg angeregt wurde, wurde begonnen, dieses programmatische Manko zu überwinden. Allerdings hatte sich der Reformismus zu diesem Zeitpunkt bereits als Hauptströmung in der Sozialdemokratie etabliert.

Guerin verweist korrekt auf die Kritik einiger linker Sozialdemokraten (Junge Wilde), die später meist zum Anarchismus wechselten, an diesem Kurs. Allerdings vergisst er dabei zu erwähnen, dass diese sich auch deshalb nicht durchsetzen konnten und ausgeschlossen wurden, weil sie sich auch massiv gegen die Beteiligung an Wahlen wandten und sich damit eine Grundlage der Sozialdemokratie, nämlich den Kampf auch auf politischem Gebiet zu führen, ablehnten.

Es stimmt, dass der anarchistische Terrorismus, der in Frankreich zwischen 1890-1895 wütete, nicht wenig zu der hysterischen Ablehnung den Anarchisten gegenüber beigetragen hat, die von nun an als „Banditen“ behandelt wurden. Die ängstlichen und auf Legalität bedachten Reformisten waren nicht in der Lage, deren revolutionäre Beweggründe zu verstehen, ihren Rückgriff auf die Gewalt, ihre aufsehenerregenden Protestaktionen gegen eine verabscheuungswürdige Gesellschaft.

Verstanden haben sie die Beweggründe der Anarchisten sicherlich, doch sie sahen v.a. die völlige Untauglichkeit, ja Schädlichkeit ihrer Taktik.

Von 1860 bis 1914 schieden die deutsche Sozialdemokratie und mehr noch die schwere Maschinerie der deutschen Arbeitergewerkschaften den Anarchismus aus: Selbst Kautsky wurde von den Arbeiterbürokraten jener Zeit, als er sich zu Gunsten des Massenstreiks aussprach, verdächtigt, ein Anarchist zu sein. In Frankreich spielte sich eine gegensätzliche Entwicklung ab. Der parlamentarische, auf Wahlen bedachte Reformismus von Jaures stieß die Arbeiter ab, die soweit fortgeschritten waren, dass sie die Gründung einer revolutionären, syndikalistischen und äußerst kämpferischen Organisation in Angriff nahmen, der berühmten CGT, deren Pioniere Fernand Pelloutier, Emile Pouget und Pierre Monatte aus der anarchistischen Bewegung kamen.

Das greift zu kurz. Die Arbeiter lehnten nicht den Parlamentarismus an sich ab, sondern v.a. die Teilnahme der Sozialdemokraten an einer bürgerlichen Regierung, wie es z.B. bei Millerand war, der Minister wurde.

Die russische Revolution und später die Spanische Revolution vertieften den Abgrund zwischen Anarchismus und Marxismus, ein Abgrund, der nicht mehr nur ideologisch, sondern auch durch die blutige Praxis begründet war. Um diese Überlegungen zur Vergangenheit von Marxismus und Anarchismus zu beenden, muss ich noch folgendes anmerken:

  1. Bestimmte Marx-Forscher, wie z.B. in Frankreich Maximilian Rubel sind in gewisser Weise – wenn auch nicht vollständig – im Irrtum, wenn sie in Marx einen „Libertären“ sehen.
  2. Einige sektiererische und engstirnige Anarchisten, wie in Frankreich Gaston Leval, sind in gewisser Weise im Irrtum, wenn sie Marx hassen als sei er der Teufel persönlich. Ich möchte mich irgendwo zwischen diesen beiden Männern mit extremen Positionen ansiedeln, die jedoch beide meine Freunde sind.

VIII

Wie steht es nun mit der Gegenwart? Zweifellos erleben wir in unseren Tagen eine Renaissance des libertären Sozialismus. Ich muss ihnen wohl kaum erzählen, wie diese Renaissance in Frankreich im Mai 1968 entstanden ist. Sie war die spontanste, die überraschendste, die am wenigsten geplante aller Erhebungen. Ein starker Freiheitswille durchfegt das Land, so zerstörerisch und gleichzeitig so schöpferisch, dass nichts mehr dem ähnlich sein wird wie es früher war. Das Leben hat sich verändert, oder, wenn sie lieber mögen, wir haben das Leben verändert. Aber diese Wiedergeburt fand statt im Rahmen einer allgemeinen Renaissance der gesamten revolutionären Bewegung, vor allem bei der studentischen Jugend (statt). Deshalb gibt es keine dichten Trennwände mehr zwischen den libertären Bewegungen und denen, die sich zu einem angeblichen „Marxismus-Leninismus“ bekennen. Es gibt sogar eine gewisse nicht-sektiererische Durchdringung dieser Bewegungen untereinander.

Junge Genossinnen in Frankreich wechseln von autoritären marxistischen Gruppen zu Anarcho-Gruppen über, und auch der umgekehrte Fall kommt vor. Ganze Gruppen von „Maoisten“ zerbrechen unter dem libertären Einfluss, spüren die Anziehungskraft der anarchistischen Ideen. Selbst trotzkistische Organisationen verändern teilweise ihre Ansichten und werfen einige ihrer früheren Betrachtungsweisen über Bord, dank dem Einfluss anarchistischer Theorien und Schriften. Menschen wie Jean Paul Sartre und seine Freunde bringen heute in ihrer Monatsschrift anarchistische Ideen zum Ausdruck, und einer ihrer jüngeren Artikel trug den Titel „Lenin Ade“.

Sicherlich gibt es noch immer nicht wenige autoritäre marxistische Gruppen, die im besonderen Maße anti-libertär eingestellt sind, genauso wie man weiterhin anarchistische Gruppen findet, die ausgesprochen anti-marxistisch auftreten.

Die beiden libertär-kommunistischen Organisationen, die es in Frankreich gibt, und die Absicht haben, sich bald zu vereinigen, befinden sich am Rande von Marxismus und Anarchismus. Sie haben mit den klassischen Anarchisten ihre Zugehörigkeit zur antiautoritären Strömung gemeinsam, die bis auf die I. Internationale zurückgeht. Aber sie haben mit den Marxisten die Tatsache gemeinsam, dass sie sich entschlossen zum Klassenkampf des Proletariats bekennen und zum Kampf mit dem Ziel, die bürgerliche, kapitalistische Gewalt zu brechen.

Auf der einen Seite versuchen die libertären Kommunisten alle konstruktiven Punkte im Beitrag der Anarchisten der Vergangenheit zu beleben – nebenbei bemerkt, war dies auch das Ziel bei den Buchveröffentlichungen von „Anarchismus“ und „Ni Dieu/ ni Maitre“ – andererseits beziehen sich die libertären Kommunisten im Erbe von Marx und Engels auf die Teile, die ihnen immer noch gültig und fruchtbar erscheinen, und die vor allem auf Bedürfnisse unserer Zeit antworten. So z.B. der Begriff der Entfremdung, der in den Manuskripten von 1844 des jungen Marx erscheint und sich so gut verträgt mit der Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten. Oder der Leitgedanke, dass die Befreiung des Proletariats nur die Sache der Arbeiter selbst sein kann, der allen Auffassungen widerspricht, die revolutionäres Bewusstsein von außen in die Arbeiterklasse hineintragen wollen. Schließlich die bekannte Methodik des dialektischen und historischen Materialismus, die eine der Leitfäden bleibt zum Verständnis der Ereignisse in der Vergangenheit und in der Gegenwart – jedoch unter der Bedingung, dass diese Methode nicht starr und dogmatisch angewandt wird, mechanisch oder als Entschuldigung für die Abkehr vom Kampf unter dem Vorwand, die materiellen Bedingungen für eine Revolution seien noch nicht gegeben, wie es die Stalinisten in Frankreich 1936, 1945 und 1968 gleich drei Mal taten. Eine weitere Bedingung ist das Vertrauen auf die beiden elementaren Kräfte, zum einen des individuellen Willens sowie der revolutionären Spontaneität der Massen.

Wie es der libertäre Geschichtsschreiber Kaminsky in seinem hervorragenden Buch über Bakunin ausgedrückt hat, ist eine Synthese zwischen Anarchismus und Marxismus nicht nur notwendig, sondern auch unvermeidlich. „Die Geschichte“, fügt er hinzu, „schafft sich ihre Kompromisse selbst“. Ich möchte anmerken – und das ist meine eigene Meinung – dass ein libertärer Kommunist, Ergebnis einer solchen Synthese, zweifellos die tiefen Wünsche – auch wenn sie sich dessen bisher manchmal noch nicht voll bewusst sind – der fortgeschrittenen Arbeiter ausdrückt, die man heute die „Arbeiterlinke“ nennt, vielmehr als der degenerierte autoritäre Marxismus und der versteinerte Altanarchismus.

Diese, sehr optimistischen Aussichten Guerins haben sich leider bisher nicht bestätigt. Die Situation der Linken und der Arbeiterbewegung ist heute zweifellos schlechter als sie je war. Ist das nicht übertrieben? Nein! Zum einen ist diese Einschätzung schon deshalb berechtigt, weil die Arbeiterklasse heute absolut wie relativ deutlich größer ist als zu Zeiten von Marx oder Lenin. Insofern müsste ihr Einfluss auf soziale Prozesse größer sein und eine revolutionäre Lösung müsste weit realistischer erscheinen als früher. Das Gegenteil ist der Fall. Andererseits gab es Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch starke revolutionäre Organisationen, während es heute weltweit keine einzige gibt, die quantitativ und qualitativ von Belang ist. Die Arbeiterbewegung ist heute in einem Maß reformistisch geprägt wie nie zuvor. Dazu kommt eine immer größere Zersplitterung der Linken in verschiedene, in sich noch einmal gespaltene Ismen, die sich oft genug bekämpfen, anstatt miteinander zu kooperieren und die Differenzen in zentralen Fragen von Strategie und Taktik aufzuarbeiten. Die Distanz zwischen Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung ist gegenwärtig extrem groß. Die letzten Revolutionen oder revolutionären Kämpfe liegen lange zurück, die revolutionäre Kontinuität, die früher noch ein starkes Tau war, ist heute ein nur mühsam zusammengeknüpfter dünner Faden.

All das zeigt, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung an einem historischen Tiefpunkt angelangt ist. Die von Guerin aufgezeigte Dynamik der 68er-Bewegung war mit einigen wichtigen Fortschritten verbunden: die Stärkung bzw. Entstehung einer nichtreformistischen und antistalinistischen Linken und die bewusste Hinwendung zur Revolution, die wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Doch letztlich waren Stalinismus und Sozialdemokratie als bürgerliche Agenturen in der Arbeiterklasse und -bewegung noch zu stark, als dass sich die neue Linke hätte gegen sie durchsetzen können. Zum anderen war die historische Kontinuität revolutionärer Politik bereits weitgehend zerrissen, so dass eine Neuerarbeitung einer revolutionären Programmatik hätte erfolgen müssen. Das geschah nicht oder nur in Ansätzen. Ein Umstand dabei war, dass die neue Linke sich wesentlich aus den Milieus von Studenten und Jugendlichen rekrutierte. Sie war von der reformistisch bzw. stalinistisch dominierten Arbeiterbewegung meist getrennt und sie war oft auch nicht Ergebnis großer Klassenkämpfe, sondern von Konflikten in diesen Milieus und zudem stark ideologisch geprägt.

Es waren drei Hauptfaktoren, welche die weitere Entwicklung der Linken stark beeinflusst haben: 1. die Niederlagen linker und antikapitalistischer Bewegungen (Paris und Prag 1968, Portugal, Chile 1973 u.a.); 2. der größere soziale Einfluss der lohnabhängigen Mittelschicht (LMS) auf Gesellschaft und Politik, wie er sich z.B. in den grünen Parteien und Bewegungen und deren Ideologien (Klimakatastrophismus) zeigt; 3. der Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks, der jede antikapitalistische Perspektive in Frage stellte, v.a. bei den stalinistischen Kräften) und eine Reformperspektive „realistischer“ erscheinen ließ.

Damit verbunden waren verschiedene strukturelle Veränderungen des imperialistischen Kapitalismus. Dazu zählen (neben der Bedeutungszunahme der LMS): 1. die Krise des Keynesianismus als bürgerlicher Konfliktstrategie und das Vordringen des Neoliberalismus; 2. die Fortschritte der Produktivkräfte (Automatisierung, Digitalisierung), die zu einer Neustrukturierung der Arbeitswelt und der Arbeiterklasse führten; 3. die Ausweitung von Sektoren wie Bildung, Wissenschaft, Verwaltung, soziale Dienste (stark verknüpft mit den LMS); 4. die Globalisierung (Eingliederung des Ostblocks in den westlichen Kapitalismus, stärkere internationale Vernetzung von Information, Handel, Produktion), die zu einem konjunkturellen Aufschwung und einer Beschleunigung der Kapitalakkumulation führten; 5. der wachsende Einfluss des immer stärker zentralisierten und sich von der „Realwirtschaft“ tendenziell „ablösenden“ Finanzkapitals auf Ökonomie und Gesellschaft. Letzteres zeigte sich u.a. 2008 in der Finanzkrise, als die Staaten die Banken retteten, oder 2020 in der Corona-Krise, wo unter dem Vorwand einer angeblich verheerenden Pandemie ein System staatlicher Zwangsmaßnahmen durchgesetzt wurde. Die Pandemiepolitik oder auch der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Aufrüstung und blinde Gefolgschaft Europas gegenüber den USA und der NATO, die von breiten Bevölkerungsmehrheiten (und großen Teilen der Linken) mitgetragen wurden und werden, zeigen, dass die Indoktrinierung der Gesellschaft ein weit höheres Maß erreicht hat, als je zuvor im Kapitalismus. Das Gros der Linken zeigt sich seit Jahrzehnten unfähig, diese neuen Herrschaftsstrategien, deren Mechanismen und Ideologien zu analysieren, geschweige denn, sich dagegen zu stellen.

Es geht daher also darum, die revolutionäre Linke an Haupt und Gliedern, politisch-programmatisch wie organisatorisch radikal zu erneuern, damit sie wieder zu einem relevanten Faktor wird, der in die Arbeiterklasse und -bewegung hineinwirken kann und die historische Führungskrise des Proletariats (Trotzki) überwinden kann. Ein Aspekt dabei ist zweifellos das Verhältnis des „Marxismus“ zum Anarchismus. Es gab – v.a. von Seiten einiger Anarchisten – durchaus Bemühungen, die Mauer des Schweigens zwischen Anarchismus und Marxismus zu überwinden (die Plattformisten um Machno, die Freunde Durrutis u.a.). Daran muss angeknüpft werden! Das kann jedoch nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn Marxismus und Anarchismus selbst historisch-kritisch betrachtet und erneuert werden. Das heißt u.a.: Überwindung der Staatsgläubigkeit des „Marxismus“ nach Marx, Überwindung der Überbetonung der Partei und der einseitigen Auffassung von Klassenbewusstsein, das als nur politisches verstanden wird und nur von außen in die Klasse getragen werden könne. Für den Anarchismus bedeutet das v.a. die Überbetonung des Spontaneismus zu überwinden, die generelle Parteifeindlichkeit abzulegen, die Ablehnung des Kampfes auf der politischen Ebene (wovon der Parlamentarismus nur ein Teil ist) aufzugeben und den Charakter der Übergangsgesellschaft zu verstehen. Die Betonung des außerparlamentarischen Kampfes, der individuellen Freiheit und der demokratischen genossenschaftlichen Selbstorganisation sind hingegen Qualitäten, die der Anarchismus in den Prozess der Neuformierung der revolutionären Linken einbringen kann.

Jede Krise ist auch eine Chance. Die politisch-programmatische Schwäche der Linken, ihre Marginalität, ihre Erfolglosigkeit bewegt auch immer mehr Linke dazu, über die Ursachen dieser Misere nachzudenken und nach Alternativen zu suchen. So richtig es ist, sich auf historische Richtungen, Schulen und Persönlichkeiten zu berufen – die wichtigste Lehrmeisterin der Arbeiterklasse ist die Geschichte, sind die realen Erfahrungen des Klassenkampfes. Theorien, Programme und Prinzipien können nur Hilfsmittel zum Verständnis historischer Erfahrungen sein, sie können es nur dann sein, wenn sie historisch-kritisch betrachtet werden und nicht als Dogmen. „Proletarische Revolutionen kritisieren beständig sich selbst“ betonte einst Marx. Lasst uns beginnen!

3 Gedanken zu „Marxismus und Anarchismus“

  1. Auch ich möchte meinen Dank für diesen interessanten Text aussprechen. Sehr aufschlussreich mal über die Entwicklung in diesem spannungsreichen Verhältnis mal aus einer anderen Perspektive zu lesen.

  2. Ein guter Text. Leider sind keine kursiven Abschnitte auszumachen, so dass es schwer ist zu unterscheiden wo der Kommentar zum Text ist. Vielleicht könntet ihr das noch ausbessern, dann wird es leichter verständlich und lesbar

  3. Holla, was ein guter Artikel. Ich bin bereits unabhängig irgendwelcher Theoretiker zu ähnlichen Gedanken gelangt. Wie könnte man beide Strömungen dazu bringen, wieder sachlich und rational zu diskutieren.

    Ich komme aus der „marxistischen“ Ecke, habe mich aber wegen dem Dogmatismus und der Unfähigkeit, jenseits von Phrasen zu diskutieren, von denen abgewandt. Seit gut 40 Jahren habe ich mich dann autodidaktisch weiter „radikalisiert“. Jetzt wo es „brennt“ würde ich mich freuen, auf Menschen von beiden Seiten zu treffen, welche den Dialog aufnehmen wollen. Seit ein paar Jahren suche ich schon nach dieser Möglichkeit.

    Was mich stört, dass die unterschiedlichen Sprecher im Text nicht voneinader abgegrenzt werden. Es ist nicht auf Anhieb zu erkennen, was Rede und Gegenrede ist, auf was sich die Antwort bezieht. Das ist eher verwirrend als hilfreich.

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