Graaf gefragt: Widerstand in der Krise

Redaktion: Wie schätzt Du die wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland ein?

Hanns Graaf: Die ärgsten Befürchtungen hinsichtlich der Situation im Energiebereich haben sich nicht bestätigt. Nach einem Stotterstart hat sich die Ampel berappelt und dafür gesorgt, dass es wahrscheinlich keine größeren Probleme bei der Energieversorgung geben wird – weder für die Wirtschaft noch für die Privatverbraucher. Das bewirken u.a. die verschiedenen „Preisdeckel“. Auch bei der Lieferung von Energie hat man Alternativen zum Gas und Öl aus Russland gefunden. Das heißt allerdings nicht, dass alles in Butter wäre. Viele Brachen der Wirtschaft haben große Probleme, die Zusatzkosten für Energie, die nur zum Teil vom Staat begrenzt wurden, zu stemmen. Doch der befürchtete Kollaps ganzer Bereiche wird wohl ausbleiben.

Für Millionen Menschen wird die Inflation, die v.a. von den Energiekosten getrieben wird, aber dazu führen, dass sich ihre Lage verschlechtert. Damit erhält der schon seit Jahrzehnten wirkende Trend der Vergrößerung des prekären Sektors aus Niedriglohn, Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Armut einen neuen Schub.

Redaktion: Also können wir mit einer Entspannung auf dem Energiesektor rechnen?

    Hanns Graaf: Die Energiepreise werden trotz der staatlichen Interventionen höher als Ende 2021 bleiben. Dafür sorgt 1. schon die Weiterführung der Politik der Energiewende (EW) mit dem Ausbau der „Erneuerbaren“. Deren Strom ist teurer als jener der traditionellen Erzeuger, wenn man  wirklich alle Kosten für Netze, Speicher, Backup, Laufzeiten u.a. einrechnet. Die EW bedeutet auch, dass die Abhängigkeit von den natürlichen Schwankungen bei Wind und Sonne zunimmt. Die dadurch steigende Gefahr von Brown- oder Blackouts kann nur beherrscht werden, wenn riesige Volumina von Speichern oder/und Backup-Kraftwerken vorgehalten werden. Dadurch steigen aber die Kosten für die Energieversorgung weiter an. 2. wird parallel zum Ausstieg aus Kohle und Kernkraft, d.h. der Reduktion zuverlässiger Erzeuger, der Stromverbrauch durch E-Mobilität, Wärmepumpen, umfangreichere Speicherung bzw. Speicherverluste sowie durch den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft ansteigen. Auch die Einfuhr von teurem LNG-Frackinggas aus den USA trägt dazu bei. Diese, v.a. von den Grünen verfolgte, Strategie unterminiert objektiv die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie, weil der Rest der Welt diesen absurden Kurs nicht mitträgt.

    Die Schäden durch die Lockdown-Politik, die gestörten internationalen Lieferketten und die Sorgen, die China mit seiner gescheiterten Null-Covid-Strategie hat, stellen eine brisante Kombination dar, die v.a. die exportorientierten Bereiche treffen wird. Dazu könnte sich auch die internationale Lage weiter zuspitzen. Der vom Westen angeheizte Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist insofern nur ein Vorbote der sich verschärfenden Konflikte zwischen den imperialistischen Blöcken um die USA und die Nato bzw. um China und Russland.

    Redaktion: In Deutschland gibt es, tw. anschließend an die Corona-kritische Bewegung, Proteste gegen die Inflation, die Energiepolitik und die Aufrüstungs- und Kriegspolitik der Ampel-Regierung. Wie schätzt Du deren Perspektiven ein?

    Hanns Graaf: Proteste gibt es zwar an vielen Orten, doch sie sind zu klein, um wirklich Druck ausüben zu können. Zudem ist die Bewegung fast nur im Osten verankert, was angesichts der nach wie vor größeren sozialen Probleme und des größeren kritischen Potentials dort erklärlich ist. Die Beteiligung hat zuletzt aber stark nachgelassen. Da die Gewerkschaften und die Linke nicht eingebunden sind, ist die Schlagkraft der Bewegung ohnehin zu gering. Es bleibt beim Protest, Streiks u.a. Aktionsformen gibt es nicht. Ein anderes Problem ist die politische Ausrichtung. Sie ist – entsprechend dem stark kleinbürgerlichen Einfluss – stark „demokratistisch“ und von Forderungen an „Die da oben“ geprägt. Doch „Die da oben“ lässt das kalt. Es gibt richtige Forderungen, v.a. bezüglich des Krieges und der Energiepolitik: „Deutschland raus aus der Nato!“, “Keine Waffenlieferungen!“ oder „Für Öl und Gas aus Russland“ u.a. Daneben gibt es aber auch rechte Losungen, etwa zur grundsätzlichen Begrenzung von Migration. Ernsthafte Bemühungen zur nationalen Vernetzung der Oppositionsbewegung sind kaum erkennbar.

    Redaktion: V.a. durch Vertreter der Partei „Die Basis“ erfolgt eine starke Orientierung auf Runde Tische.

    Hanns Graaf: So will man die „Herrschenden“ (auf kommunaler Ebene) überzeugen. Diese Orientierung ist in mehrfacher Hinsicht falsch: 1. ist die Bewegung viel zu schwach, um die Gegenseite am Runden Tisch beeindrucken zu können, die Lage ist ganz anders als etwa 1989. 2. wird die Stärkung und Ausweitung der Opposition zugunsten des „Dialogs“ aufgegeben. 3. erfolgt damit eine Orientierung auf bürgerliche Kräfte, anstatt auf die Lohnabhängigen. Daher gibt es auch keine offensive Politik zu den Gewerkschaften oder der Linkspartei.

    Die Oppositionsbewegung – gemeint sind hier die Montagsdemos und die sog. Querdenker – ist insgesamt aber nicht rechts, wie viele Linke meinen. Doch es gibt, v.a. in Sachsen, auch Demos, wo z.B. die AfD oder die „Freien Sachsen“ dominant sind – was aber auch nicht automatisch bedeutet, dass alle Teilnehmer rechts sind. Da die Linken selbst oft inaktiv sind oder erst verspätet reagieren, können Menschen, die gegen die Ampel-Politik protestieren wollen, oft nur an diesen Aktionen teilnehmen. Nicht ganz zu unrecht wird die Linkspartei auch als Gegner gesehen, weil sie die Corona-Politik und in weiten Teilen auch die „grüne“ Energiepolitik sowie tw. sogar die Ukraine-Politik der Ampel mitträgt.

    Redaktion: Die Linkspartei wird auch von anderen Linken kritisiert.

    Hanns Graaf: Ja, aber diese Kritik geht oft am Kern der Dinge vorbei. Erstens wird meist v.a. deren Inaktivität kritisiert, weniger jedoch die Strategie und Programmatik. Die LINKE trägt die ruinöse Klima- und Energiepolitik mit, ja sie überholt sie noch von links. Teile von ihr unterstützen die Waffenlieferungen an Kiew und die Embargopolitik. Ja, die LINKE ist sogar hauptverantwortlich dafür, dass der Protest von linkeren und proletarischen Milieus und jener der „Querdenker“ nicht zusammen kommen. Sie diffamiert diesen Teil der Proteste. Dabei stört sie sich z.B. an deren tw. radikalen Losungen wie „Gegen das System“ oder „Gegen die Diktatur“. Das sagt schon alles über das Linkssein der LINKEN aus. Damit nicht genug: unter den Fittichen der Linkspartei agiert auch die spalterische Antifa. Etwas besser ist die Position von Wagenknecht. Sie urteilt zwar differenzierter, gibt aber konkret auch keine Aktionsorientierung und mobilisiert nicht.

    Redaktion: Haben die Proteste eine Zukunft?

    Hanns Graaf: In dieser politisch indifferenten Form sicher nicht. Es ist aber möglich, dass die Proteste im Frühjahr wieder zunehmen – abhängig davon, welche politischen oder sozialen Entwicklungen es gibt. Das Hauptproblem der Proteste ist, dass es keine politische Partei gibt, die sich auf die Arbeiterklasse stützt oder bezieht und eine antikapitalistische Ausrichtung hat. Nur eine solche Partei könnte wirklich mobilisieren bzw. die Gewerkschaften dafür unter Druck setzen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass es ohne eine solche Kraft effektiven Widerstand geben könnte.

    Viele politischen Bewegungen der letzten Jahre in Europa, nicht nur in Deutschland, waren entweder Bewegungen der Mittelschichten oder von ihnen dominiert bzw. initiiert. Typisch dafür sind etwa die „grünen“ Bewegungen, die Gelbwesten bis hin zu „Me too“ oder die Querdenker-Bewegung. Dieses Phänomen sozialer Bewegungen, die nicht wesentlich proletarisch sind, was Programm, Führung, Struktur und Klassenbasis anbelangt, widerspiegelt zwei wichtige Veränderungen der imperialistischen Gesellschaften in den letzten 100 Jahren: 1. das enorme Wachstum und der größere Einfluss der lohnabhängigen Mittelschicht und 2. die tiefe Krise der Arbeiterbewegung, v.a. was die linken bzw. „Arbeiter“parteien anbelangt. Aus dem gewerkschaftlichen Milieu heraus wird es keinen qualitativen Impuls geben. Das ist die ureigene Aufgabe einer Partei.

    Redaktion: Welche Aufgaben leiten sich daraus für die revolutionäre Linke ab?

    Hanns Graaf: Proteste und Ansätze zur Bildung neuer politischer Strukturen gibt es immer wieder. Die entscheidende Frage ist aber, auf welche Klasse sich sich orientieren und welches Programm sie haben. Der Bezug auf das Proletariat ist der zentrale Punkt. Das bedeutet aber nicht, den „schlafenden Leu“ einfach zu wecken. Es bedeutet vielmehr, einen politischen Kampf gegen jene Kräfte zu führen, die die Lohnabhängigen „einlullen“, sie bürokratischen Apparaten, bürgerlichen Strukturen und Verfahrensweisen unterzuordnen. Es bedeutet Kampf gegen den Reformismus – und den Staatsglauben vieler Linker.

    Damit verbunden geht es darum, eine Programmatik zu erarbeiten, die Methoden und Taktiken aufzeigt, wie der Klassenkampf erfolgreich geführt werden kann. Zentrale Achsen eines solchen Programms sind: Übergangforderungen, Einheitsfronttaktik, Betonung der Selbstorganisation der Klasse nicht nur in politischen, sondern auch in wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Genossenschaften. Diese Fragen müssen auch in den Aufbau einer neuen revolutionären Arbeiterpartei einfließen.

    Redaktion: Ist eine neue Arbeiterpartei nicht geradezu utopisch angesichts der aktuellen Situation, der Inaktivität der Klasse und der Schwäche der Linken?

    Hanns Graaf: Ja, das kann man so sehen. Doch woran mangelt es denn im Klassenkampf, bei jeder Protestbewegung? Eben an einer starken Partei, die politisch führt, die verschiedene Bereiche koordiniert, die über eine Programmatik verfügt und eine allgemeine gesellschaftliche und historische Perspektive aufzeigt. Eine solche Partei wäre in etwa das, was nach 1918 die KPD war, bevor sie zum Stalinismus degenerierte – trotz ihrer in mancher Hinsicht politischen Unreife und etlicher Fehler. Doch aus Fehlern kann man lernen – was die deutsche Linke leider kaum tut. Das Dilemma der Linken besteht ja auch darin, dass sie den Aufbau einer Partei nicht wirklich thematisiert, geschweige denn angeht.

    Natürlich kann eine wirkliche Massenpartei – und selbst die Zwischenstufe einer Kaderpartei von wenigen Tausenden – nicht einfach ausgerufen oder gegründet werden. Sie kann nur Ergebnis eines Prozesses sein, der die Erarbeitung einer Programmatik mit politischer Praxis und Kooperation aller Linken und die Verbindung mit den Lohnabhängigen koppelt. Das ist schwierig genug angesichts der inhaltlichen Schwindsucht und des Sektierertums der linken Gruppen. Aus diesem Milieu kann auch im besten Fall keine qualitativ neue Partei „herbeifusioniert“ werden. „Getretner Quark wird  breit, nicht stark“, sagte einst Goethe. Es muss ein anderer Weg eingeschlagen werden. Eine neue Partei kann nur im Zusammenhang mit einem Aufschwung des Klassenkampfes erfolgen, nicht als linke Kopfgeburt. Eine andere Voraussetzung ist eine (noch) tiefere Krise des Reformismus. Da kann man von Marx lernen, dem diese Zusammenhänge immer bewusst waren, und der deshalb nie immer und überall auf Teufel komm raus Organisationen, z.B. eine Internationale, kreiert hat. 1872, nach der Niederlage der Kommune und dem Aufkommen der Reaktion hat er die IAA aufgelöst. Erst das Wachstum der Klasse und der Arbeiterbewegung bereitete dann den Boden für die II. Internationale. Die diversen linken Glashäuschen – ob Kleinstgruppe oder Mini-“Internationale“ – behindern die Diskussion und Kooperation, anstatt sie zu befördern.

    Es geht heute um die Anwendung der Arbeiterparteitaktik. Diese besagt, dass verschiedene politische Milieus der Arbeiterklasse dafür angesprochen und gewonnen werden müssen. D.h. dass der Charakter der Partei am Anfang offen ist: revolutionäre, zentristische, anarchistisch-syndikalistische oder links-reformistische Vorstellungen kommen da zum Ausdruck. Diese unterschiedlichen Vorstellungen kämpfen untereinander, stehen im Wettstreit. Revolutionäre müssen in diesen Prozess aber mit einem revolutionären Programm eingreifen, nicht mit einem „Kompromiss“. Letztlich wird sich zeigen, was und wer sich durchsetzt und den Charakter der Partei bestimmt. Es kann dabei auch Fraktionen, Spaltungen, Fusionen und Übergangsformen geben.

    Redaktion: Was wäre damit gewonnen?

    Hanns Graaf: Wenn die Arbeiterpartei-Initiative wirklich größere Kräfte mobilisiert, als das jetzige Milieu der Linken umfasst, wirkliche Dynamik entwickelt und damit auch Ausstrahlung hat, würden selbst bei einer Spaltung mehr revolutionäre Kräfte „übrigbleiben“, als es zuvor gab – auf  einem höheren Level von praktischer Kooperation und Programmatik. Selbst im ungünstigsten Fall wäre damit ein Fortschritt erreicht. Es geht ja darum, die völlig verkrustete und sektiererische „radikale Linke“ umzukrempeln und zu einer positiven Dynamik zu bringen.

    Redaktion: Das klingt alles etwas nach Wunschprogramm …

    Hanns Graaf: Vielleicht. Doch was ist die Alternative? Weiterwurschteln wie bisher? Es gab 2005 mit der WASG und 2018 mit Aufstehen durchaus Projekte, die gezeigt haben, dass es reale Kräfte und ein Bedürfnis nach einem Neustart gibt. Leider wurden diese Ansätze jedes Mal dadurch ins Abseits manövriert, dass reformistische Kräfte von Beginn an dominierten und das Gros der „radikalen Linken“ sich fernhielt, anstatt zu intervenieren. Ich gehe aber davon aus, dass a) die reformistischen Organisationen (SPD, DGB, LINKE) für die Massen weiter an Attraktivität verlieren, weil sie sich b) dem zunehmenden sozialen Abwärtstrend kaum widersetzen oder ihn gar wie die SPD noch befeuern. Die Krise des Reformismus schwelt schon lange, was sich an den Mitglieder- und Wählerzahlen von SPD, Linkspartei und DGB deutlich zeigt. Aber auch in Teilen der „radikalen Linken“ wächst die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Natürlich kann niemand die Zukunft genau voraussagen, aber die Vorbereitung auf eine grundlegende Um- und Neuformierung der Linken – und dadurch der Arbeiterbewegung insgesamt – muss schon heute erfolgen.

    Redaktion: Was heißt das konkret? Was wäre ein erster Schritt?

    Hanns Graaf: So wie es aussieht, ist Aufruhrgebiet die einzige linke Struktur, die den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei überhaupt öffentlich vertritt und konkrete Vorstellungen dazu unterbreitet. Wir möchten dazu mit anderen Linken – Einzelpersonen wie Strukturen – eng kooperieren. Der Ball ist gespielt – wir werden sehen, wer den Pass aufnimmt. Zunächst geht es darum, eine „Vorhut-Struktur“ zu schaffen, die das Projekt „Neue Arbeiterpartei“ popularisiert und anfängt, konzeptionell zu arbeiten. Wir sind insofern erst im embryonalen Stadium. Die Verhältnisse in Deutschland sind heute ganz anders als etwa nach 1914, als es in der und um die Sozialdemokratie noch Hunderttausende subjektive Sozialisten gab und daher der Übergang zur KPD als Massenpartei über die „Zwischenstufe“ USPD relativ schnell erfolgen konnte. Auch Krise und Krieg haben aktuell noch lange nicht die Dimension von damals – doch das wird sich, auch international, ändern. Und Erfolg ist, wenn Vorbereitung auf Chance trifft.

    Ein Gedanke zu „Graaf gefragt: Widerstand in der Krise“

    1. Zumindest vom Rande des Ruhrgebietes kann ich berichten, dass die Proteste hier durchaus z.T. von Proletariern geprägt sind, was ihre soziale Stellung angeht. Sie sehen sich allerdings nicht als solche sondern vielmehr als bürgerliche Mitte. Wie impft man denen denn das nötige Klassenbewusstsein ein? Oder sind diese armen Schäfchen schon verloren, weil sie es nicht aufgrund einer frühen Proletarierschulung quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben?

      Vielleicht sollte man auch mal das Konzept überdenken, von irgendeiner sozialen Gruppe allein, die (Welt-)revolution zu erwarten, ohne dass es irgendwelche Anzeichen dafür gäbe, dass sie auch nur im mindesten revolutionärer gesonnen wäre als andere.

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert