ABC des Marxismus XLVI: Was ist revolutionärer Defätismus?

Defätismus bedeutet Hoffnungslosigkeit, Resignation, nicht an den Sieg glauben. Eine Haltung der Ablehnung des Krieges wird oft als „defätistisch“ bezeichnet. In Diktaturen ist Defätismus, v.a. in Form der Kriegsdienstverweigerung, im Kriegsfall ein Straftatbestand. Der Begriff „revolutionärer Defätismus“ bezeichnet die Taktik von Revolutionären zum Krieg zwischen imperialistischen Mächten, wie es etwa der Erste Weltkrieg war. Er geht davon aus, dass alle Ziele und Methoden sowie die Ergebnisse imperialistischer Kriege reaktionär sind und daher von Linken und der Arbeiterklasse nicht unterstützt werden dürfen, ja im Gegenteil strikt bekämpft werden müssen.

Als Paradebeispiel für eine solche Einstellung kann die Haltung der Marxistin Rosa Luxemburg gelten. Sie wandte sich gegen Militarisierung und Aufrüstung schon Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Sie betonte, dass die systemimmanenten Krisenpotentiale und Konflikte zwischen den imperialistischen Großmächten letztlich zum Krieg führen müssen, weil der nationale Markt für die riesigen Produktionskapazitäten der Konzerne zu eng wird. Wie alle Marxisten leitete Luxemburg den Krieg im Zeitalter des Kapitalismus aus dessen sozialen Verhältnissen ab: aus den Verwertungskrisen und der Konkurrenz um Marktanteile, Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Imperialismus ist für Marxisten nicht nur eine bestimmte aggressive Politik, sondern Ausdruck der Widersprüche und der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise.

Rosa Luxemburg und die Spartakusgruppe, zu der u.a. Karl Liebknecht gehörte, traten für Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse gegen Aufrüstung und Krieg ein und kritisierten die sozialdemokratischen Führer für deren Anpassungs- und Beschwichtigungspolitik. Doch der immer stärkere Reformismus der Apparate der SPD und der Gewerkschaften führte dazu, dass es meist bei halbherzigen Proklamationen blieb, die Arbeiterklasse nicht wirklich mobilisiert wurde und nicht mehr die Überwindung des Kapitalismus, sondern nur noch dessen Reformierung angestrebt wurde. Im August 1914 schließlich kapitulierten die SPD und die Gewerkschaften endgültig, es gab keine Versuche der Mobilisierung der Klasse gegen den Krieg. Die reformistischen Führer unterstützten den Krieg „ihrer“ Bourgeoisie und opferten den Klassenkampf einer Burgfriedenspolitik. Somit waren sie mitverantwortlich für das millionenfache Sterben auf den Schlachtfeldern und das massenhafte Elend zu Hause. Als sich abzeichnete, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen würde und sich die soziale Lage der Massen dramatisch verschlechterte, kam es zu Protesten und Streiks gegen die Regierung und gegen den Krieg. Parallel dazu kam es 1916 auch zur Linksabspaltung der USPD von der SPD. Im November 1918 brach schließlich die Revolution aus.

Ab 1915 formierten sich auch die sozialistischen Kriegsgegner. Zu ihnen gehörten u.a. Lenin und Trotzki (Luxemburg und Liebknecht, die bekanntesten deutschen Kriegsgegner, saßen damals im Gefängnis). Sie wandten sich gegen die nationalistische, den Klassenkampf aufgebende Politik der Parteien der II. Internationale. Besonders Lenin betonte, dass der Krieg und seine sozialen Folgen zu revolutionären Situationen führen würden, die zum Sturz des Kapitalismus genutzt werden müssten. Der imperialistische Krieg, so seine These, sollte in einen revolutionären „Bürgerkrieg“ umgewandelt werden. Das besagt auch die Losung „Dreht die Gewehre um!“. Die Umgruppierung bzw. Neuformierung der internationalistisch-revolutionären Linken mündete schließlich 1919 in die III. (kommunistische) Internationale (Komintern) und war mit der Entstehung etlicher kommunistischer Parteien in der Welt nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland verbunden.

Die Politik der russischen Bolschewiki (v.a. auf Betreiben Lenins) bestand darin, für die Beendigung des Krieges und einen Frieden ohne Annektionen und für die Achtung der Rechte der vom Imperialismus unterdrückten Nationen einzutreten. Keine imperialistische Seite sollte unterstützt werden. Die Bolschewiki betrieben intensive Propaganda in der Armee, was ihnen die zunehmende Unterstützung der Soldaten sicherte.

Der Pazifismus appelliert letztlich nur an den bürgerlichen Staat oder die „aufgeklärten“, „friedlicheren“ Teile der Bourgeoisie, nicht aber an die (proletarischen) Massen, die einzig und allein die Macht haben, den Kriegstreibern in den Arm zu fallen. Revolutionärer Defätismus hingegen ist nicht nur wie beim Pazifismus eine letztlich hilflose Ablehnung des Krieges, sondern bedeutet Kampf gegen ihn durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse. Dazu gehören z.B. Streiks gegen die Unternehmer für höhere Löhne usw. – auch wenn das eigene Land im Krieg steht. Er bedeutet Blockaden von Militärstützpunkten, Häfen und Bahnhöfen, um den Nachschub zu behindern u.a. Maßnahmen. Revolutionäre treten in allen Ländern für ein solches Vorgehen ein. Diese Politik kann evtl. die militärische Niederlage des eigenen Landes – genauer: der eigenen Bourgeoisie – befördern. Eine solche Niederlage wäre aber weniger schlimm als die Einstellung des Klassenkampfes, denn egal, welche imperialistische Seite auch gewinnt: die Massen werden von jeder Bourgeoisie ausgebeutet und ausgeplündert. In diesem Sinn ist auch die Losung Karl Liebknechts „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ zu verstehen. Dieselbe Haltung beziehen Revolutionäre auch bei Konflikten zwischen halbkolonialen (kapitalistischen) Ländern, die formal selbstständig, aber vom Imperialismus abhängig sind.

Jede politische Taktik wird auch von den jeweiligen Bedingungen bestimmt. Davon hängt ab, ob sie angewendet werden kann und wie. Für Marxisten spielt es keine Rolle, welche Seite den Krieg begonnen hat. Für sie ist bei militärischen Konflikten entscheidend, welchen Klassencharakter die Akteure repräsentieren bzw. welche Rolle ein Land in der Weltordnung spielt. Entscheidend ist für Marxisten die Frage, welche Klasse aus dem Krieg einen Vorteil zieht und wessen Sieg den Prozess der Befreiung der Arbeit und der Überwindung des Kapitalismus nützt. Auch Marxisten sind zwar generell gegen den Krieg, weil er eine inhumane Lösung von Konflikten darstellt und immer auf den Schultern der Massen ausgetragen wird und von ihnen die größten Opfer fordert. Doch es gibt Situationen, wo eine militärische Auseinandersetzung unvermeidlich ist bzw. der Krieg oder der Bürgerkrieg dem Proletariat aufgezwungen werden. In diesem Fall nützt ein abstrakter Pazifismus nichts – der Konflikt kann nur durch den Sieg einer Seite beendet werden. Der Marxismus kennt daher auch gerechte Kriege, wo die fortschrittlichere Seite bzw. jene Seite, deren Sieg progressive Folgen hat, unterstützt werden muss.

Ein besonderer Fall ist ein Krieg zwischen einem nichtkapitalistischen „Arbeiterstaat“ und dem Imperialismus (oder einem vom Imperialismus abhängigen, von ihm hochgerüsteten und instrumentalisierten Land). In diesem Fall kämpfen Revolutionäre für die Niederlage des Imperialismus, auch durch das Anfachen des internationalen Klassenkampfes gegen ihn.

Ein anderer Fall ist der Konflikt zwischen einer Kolonie oder Halbkolonie und dem Imperialismus. Auch hier treten Revolutionäre für die Niederlage des Imperialismus ein – unabhängig davon, welcher Art das Regime der Halbkolonie ist. Sie tun das, weil eine Schlappe des Imperialismus seine Stellung und seinen Einfluss schwächt und den Klassenkampf positiv beeinflusst. Doch die Unterstützung des antiimperialistischen Kampfes bzw. der Regierung der Halbkolonie ist nur eine militärische, keine politische, weil die Führung dieses Kampfes und das dort herrschende Regime selbst zumeist bürgerlich-nationalistisch ist. Die schwache halbkoloniale Bourgeoisie strebt nach mehr Unabhängigkeit vom Imperialismus, will aber das Privateigentum und die Ausbeutung aufrechterhalten. Daher müssen die Arbeiterklasse u.a. werktätige Schichten zugleich auch für ihre politischen und sozialen Rechte eintreten und diese nicht wegen des Krieges zurückstellen. Sie müssen darauf gefasst sein, dass ihre Regierung einen faulen Kompromiss mit dem Imperialismus schließen oder den Kampf sogar offen verraten kann. Sie sollten dafür eintreten, möglichst viel Einfluss auf den Kampf zu nehmen und eigene Formationen aufzustellen. Sie dürfen ihre Politik und ihre Organisationen nicht den bürgerlich-nationalistischen Kräften unterordnen. Der Sieg gegen den Imperialismus muss dazu genutzt werden, die eigene Bourgeoisie zu stürzen. Beispiele für solche Konflikte sind etwa beide Kriege zwischen dem Irak und den USA bzw. der Nato oder der Kampf gegen die imperialistische Besatzung Afghanistans.

Ein Sonderfall ist aktuell der Krieg in der Ukraine, wo sich mit der Ukraine und Russland eine Halbkolonie und eine imperialistische Macht gegenüberstehen. Hier kann trotzdem keine Unterstützung der Ukraine erfolgen, weil diese die Rolle eines Vortrupps der USA, der Nato und des EU-Imperialismus spielt. Die Ukraine ist zwar in gewissem Sinn auch Opfer der Rivalität der Großmächte, agiert aber zugleich als Teil des Westens, als dessen Speerspitze. Die Nato hat sich seit 1990 – entgegen den Zusicherungen an die UdSSR – nach Osten erweitert, stört somit das strategische Gleichgewicht und stellt für Russland objektiv eine Bedrohung dar, der es begegnen musste. Dieses Vorgehen ist Teil der US-Strategie der Einkreisung und Schwächung Russlands durch Militärstützpunkte und die Inszenierung von „Farbenrevolutionen“, um rings um Russland ihm feindliche, westlich orientierte Regime zu installieren. Deshalb beförderte der Westen in der Ukraine 2014 den Maidan-Putsch und unterstützte anti-russische, reaktionäre, halb-faschistische Regime wie aktuell das unter Selensky. Diese unterdrücken die nationalen Minderheiten, v.a. die russische im Osten der Ukraine, und terrorisieren sie seit 2014, so dass dort bis Februar 2022 über 14.000 Tote zu beklagen waren. Der Hauptaggressor ist der Westen, nicht Putin, obwohl er im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat.

Weder der Sieg Putins, geschweige denn der des Westens bietet eine positive Perspektive – weder für die Ukraine noch für Russland oder den Westen. Daher treten Revolutionäre für die schnellstmögliche Beendigung dieses Krieges – möglichst durch Klassenkampfaktionen der Arbeiterklasse – und gegen jede Waffenlieferung an eine imperialistische Seite sowie gegen Wirtschaftssanktionen ein. Letztlich kann der Frieden nur hergestellt und gesichert werden, wenn die Hauptursache von Kriegen – die imperialistische Weltordnung mit Privateigentum, Konkurrenz und Profitorientierung – gestürzt wird.

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