Der Spätimperialismus (Teil 2 von 2)

Hanns Graaf

Ab Ende des 20. Jahrhunderts markieren verschiedene Prozesse und Faktoren eine neue Periode des Kapitalismus: den Spätimperialismus. Er weist u.a. folgende Merkmale auf:

  • 1989/90 brach der Stalinismus zusammen. Chinas Staatskapitalismus kollabierte nicht wie in Osteuropa, sondern gewann durch das Anziehen westlichen Kapitals und die Ausweitung des privaten Sektors an Dynamik.
  • Die ab den 1990ern forcierte Globalisierung beruhte a) auf der Ausweitung des (westlichen) Weltmarktes nach Osten und der damit verbundenen Nutzung von Billigarbeit und der Zurückdrängung staatlicher Regulierungen (Umwelt, Steuern, soziale Standards, Binnenmarktschutz usw.) und b) auf der Verbilligung und Rationalisierung des Seetransports (Container, Digitalisierung der Logistik, größere Schiffe).
  • Der Kollaps des staatskapitalistischen Ostblocks (der meist irrtümlich als „sozialistisch“ angesehen wird), war mit der Niederlage v.a. jener Teile der Linken und der Arbeiterbewegung verbunden, die sich auf ihn positiv bezogen. Die ideologische Offensive des Neoliberalismus, jahrzehntelange Niederlagen und der Druck der Globalisierung drängten die Linke und die Arbeiterbewegung insgesamt in die Defensive und verstärkten die Degeneration der „revolutionären Linken“.
  • Die Digitalisierung hat viele wirtschaftliche und soziale Abläufe effektiviert und öffnete riesige neue Anlagesphären.
  • Durch die neoliberale Zurückdrängung bzw. Privatisierung vormals staatlicher Bereiche erschloss sich das Privatkapital neue, lukrative Profitquellen.
  • Etablierte Formen des Verhältnisses Proletariat-Bourgeoisie (Sozialpartnerschaft) wurden ausgedünnt, prekäre Arbeitsverhältnisse nahmen zu.

Veränderte Klassenstrukturen

Auch die soziale Struktur des Imperialismus hat sich stark verändert. Siegreiche Attacken auf die Linke und die Arbeiterbewegung, neoliberale Reformen und Angriffe auf Errungenschaften des Proletariats, wie sie von Pinochet, Reagan, Thatcher oder Schröder umgesetzt worden sind, haben Spuren der Verwüstung hinterlassen. Der Reformismus (der „Dritte Weg“ von Blair und Schröder) ging noch weiter nach rechts, die revolutionäre Linke wurde demoralisiert und war unfähig, neue gesellschaftliche und politische Trends (Ökologiebewegung) zu verstehen und darauf zu reagieren.

Bereiche wie Wissenschaft, Bildung, Kultur, Medien, Verwaltung und soziale Dienste sind gegenüber der Zeit von Marx oder Lenin – entsprechend den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise (Konkurrenz, Rationalisierung, Organisation der Gesellschaft und des Lohnarbeitssystems) – unerhört gewachsen. Damit war eine deutliche Veränderung der Klassenstruktur der Gesellschaft v.a. der imperialistischen Länder verbunden. Zum einen wuchs die Schicht der Arbeiteraristokratie, der besser gestellten, qualifizierteren, die Stammbelegschaften der Konzerne und des Öffentlichen Dienstes stellenden Teile der Lohnabhängigen. Damit verbunden erhöhte sich zeitweilig (v.a. während des Langen Booms) auch der Einfluss der Arbeiterbürokratie, d.h. der Beamten und Funktionsträger der (reformistischen) Arbeiterbewegung (Sozialdemokratie, Gewerkschaften, Betriebsräte, Abgeordnete usw.).

Mit dem Neoliberalismus und der Ausweitung des Dienstleistungssektors wurden immer größere Teile der Arbeiterklasse in prekäre, „individualisierte“, (schein)selbstständige Strukturen gedrängt. Die gegenüber dem 19. Jahrhundert deutlich kürzere Arbeitszeit (Wochenstunden, Urlaub, diverse Freistellungsmöglichkeiten) sowie der spätere Berufseinstieg – oft erst mit Ende 20 oder Anfang 30 – stellen eine erhebliche Änderung des Lebens und damit der Erfahrungen und Einstellungen des Proletariats dar. Die Lohnarbeit, die früher fast das ganze Leben des (meist männlichen) Arbeiters direkt bestimmte, hat heute einen für ihn zwar noch zentralen, doch niedrigeren Stellenwert. Die verlängerte Jugendzeit, die von Schule, Ausbildung und Studium geprägt ist, Freizeit, Kultur, Medien usw. sind Faktoren, die einen deutlich größeren Raum im gesellschaftlichen und im individuellen Leben einnehmen als vor 100 oder 150, ja selbst vor 50 Jahren und somit auch das Bewusstsein der Lohnarbeiterschaft stärker prägen als früher.

Gibt es noch eine Arbeiterklasse?

Die Passivität der Arbeiterbewegung, Strukturveränderungen in der Arbeiterklasse und die Agonie der revolutionären Arbeiterbewegung führen viele Menschen zu der Annahme, dass es die Arbeiterklasse als solche nicht mehr geben würde. Dabei spielen eine Reihe von Fehleinschätzungen – die von bürgerlichen Ideologen übernommen werden – eine große Rolle. Dazu gehört etwa die Behauptung, dass der Dienstleistungssektor immer größer wird. Das stimmt zwar, aber die meisten Jobs im Dienstleistungsbereich werden von Lohnarbeitern verrichtet, die ihrer sozialen Lage nach zur Arbeiterklasse gehören. Auch die Tatsache, dass in Deutschland die arbeiteraristokratische Facharbeiterschaft tw. mehr verdient als die Mittelschicht, ändert nichts daran, dass sie nach wie vor zur Arbeiterklasse gehört. Hier zeigt sich v.a. der Einfluss bürgerlichen Denkens, das an die Stelle marxistischer Theorie tritt. Nach Marx´ Kriterien zeichnet sich die Arbeiterklasse dadurch aus, dass sie a) über keine Produktionsmittel verfügt, b) lohnabhängig ist und c) eine untergeordnete, „diskriminierte“ Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Es geht also um objektive Kriterien und nicht darum, ob sich der Arbeiter selbst als Teil seiner Klasse „fühlt“ oder mehr oder weniger Lohn erhält als andere.

So ist heute die Zahl der Lohnabhängigen relativ und absolut fast überall höher als vor 100 Jahren, nicht kleiner. Auch in Deutschland kann die Mehrheit der über 40 Mill. Beschäftigten zur Arbeiterklasse gerechnet werden. Natürlich haben sich die Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft stark verändert, sie sind komplexer und differenzierter geworden. Fast alle Arbeitsplätze haben sich gewandelt. Wissenschaft und Technik, Informationsverarbeitung und Servicedienste haben weit größere Bedeutung als früher. Die Arbeits- und Lebensweise der Lohnabhängigen hat sich stark verändert – deshalb sind sie aber immer noch Arbeiter und keine Kleinbürger. Anstatt zu konstatieren, dass die Linke und die Arbeiterbewegung über Jahrzehnte aufgrund der Dominanz von Reformismus und Stalinismus nur Niederlagen erlitten und so Organisation und Bewusstsein der Arbeiterbewegung ruiniert hat, drehen „moderne“ Ideologen die Sache um und behaupten, das Fehlen von Klassenkampf oder das Ausbleiben revolutionärer Offensiven der Klasse wären daraus zu erklären, dass es die Arbeiterklasse nicht mehr geben würde. Ideologien wie die der „Zweidrittelgesellschaft“ kollidieren nicht nur mit der sozialen Realität, sondern erfüllen ganz direkt eine reaktionäre Funktion, indem sie eine Gemeinsamkeit von Malocher und Millionär konstruieren. Allein die Tatsache, dass der DGB heute immerhin noch knapp 6 Mill. Mitglieder hat und periodisch auch Tarifstreiks durchführt, sollte jene, die die Existenz einer Arbeiterklasse leugnen, zum Nachdenken anregen.

Die Mittelschichten

Anders, als Marx vorausgesagt hat, wurde das traditionelle Kleinbürgertum nicht wesentlich proletarisiert, das trifft nur auf die selbstständigen Bauern zu. Das städtische Kleinbürgertum hingegen hat sich gewandelt, ist aber nicht verschwunden oder geschrumpft. Während es selbstständige Kleinhändler und bestimmte Handwerksberufe weniger oder kaum noch gibt, sind andere Bereiche (IT-Service, Elektriker, Automechaniker usw.) neu entstanden. Trotz der Dominanz der Großindustrie existiert weiterhin ein enormer Bereich von Mittel- und Kleinproduktion, Servicediensten und Verwaltungen verschiedener Art, welche die soziale Grundlage der Mittelschichten bilden.

Deutlich sichtbar vergrößerte sich das Milieu der lohnabhängigen Mittelschicht (nicht zu verwechseln mit dem Kleinbürgertum), das in nahezu allen sozialen Bereichen, v.a. in Wissenschaft, Bildung, Kultur, Management und im Sozialbereich anzutreffen ist. Es ist einerseits lohnabhängig, andererseits aber Teil des „Managements“ und damit Träger von Strukturen und Akteur in Verfahrensweisen zur Organisation und Sicherung der kapitalistischen Gesellschaft – was diese Schicht von anderen Lohnabhängigen unterscheidet, die diese Funktion nicht haben. Insgesamt spielt die lohnabhängige Mittelschicht eine wesentlich größere Rolle im gesellschaftlichen Mechanismus als früher.

Die meisten politischen und sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte sind stark von ihr geprägt („grüne“ und studentische Bewegungen, NGOs usw.). Ihre Ideologie und ihre Praxis sind – entsprechend ihrer sozialen Mittelstellung zwischen den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat – schwankend. Diese urbane, akademisch geprägte Schicht pendelt zwischen „Links“ und „Rechts“, ihre Ideologie ist oft stark irrational gefärbt. Die heutige „Mittelschichts-Linke“ – von Wagenknecht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ recht gut beschrieben – ist nicht nur mehrheitlich kein Teil der Arbeiterklasse, sie steht ihr auch oft fremd gegenüber, deren Situation, deren Interessen tangieren sie kaum. Die Eigentums- oder Systemfrage, der zentrale Ansatzpunkt des Marxismus und der revolutionären Linken, stellen sie kaum noch – oder nur in „schiefer“ Weise; nicht mehr die Überwindung des Privateigentums ist das Ziel, sondern eine CO2 -neutrale Wirtschaft.

V.a. in Nordamerika und in der EU sehen sich das Großkapital, ihre Politiker und die Intellektuellen, v.a. in den Sozialwissenschaften, an Unis und in Medien, die Funktionäre von Weltbank, IWF, WTO oder WEF, die Vertreter globalistischer Stiftungen wie Bertelsmann, Rockefeller, Goldman-Sachs usw. sowie die globalistischen Denkfabriken wie der „Atlantikbrücke“ als globale Elite, die auf die Bevölkerung mit Verachtung blicken und sich für die gesamte Welt zuständig fühlen. Diese „Elite“ stört, dass sie auf Russland und China keinen ausreichenden Zugriff hat; sie sucht nach globalen Lösungen für Marktbereinigungen und die Vernichtung kleinerer Kapitale und des Kleinbürgertums, dessen Marktanteile von den Plattform-Konzernen wie Amazon übernommen werden sollen. Dazu forciert sie ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse und die (untere) Mittelschicht.

Neuordnung der Welt

Gates, Bezos, Schwab und Co. geht es um eine Neuordnung der Welt. Durch die Zerstörung von Teilen des Mittelstands und der Vernichtung von „überschüssigem“ Kapital soll ein Wiederaufbau aus den Ruinen ermöglicht und den überlebenden Kapitalgruppen ein neuer Boom beschert werden. Kriege, Massenimpfungen, Lockdowns, die Verdrängung von Mittelständlern durch Plattform-Konzerne, aber auch vorgeblich „grüne“, staatlich alimentierte Investitionen sind Mittel dazu. Diese ökonomische Neuordnung ist verbunden mit der Einschränkung von Demokratie und ideologischer Indoktrination, was gerade in der Corona-Politik besonders zum Ausdruck kam. Völlig überzogene, teils unsinnige Lockdown-Maßnahmen, gekoppelt mit irrationaler Propaganda haben erreicht, dass Milliarden Menschen in Angst versetzt und gleichgeschaltet wurden. Nur eine Minderheit stellte sich dagegen. Allerdings kostete es viele Regierungen zig Milliarden an „Rettungsgeldern“, um einen sozialen Kollaps zu vermeiden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden waren trotzdem enorm.

Die absichtlich erzeugte Corona-“Pandemie“ hat offenbart, wie leicht es dem Kapital heute gelingen kann, autoritäre Zustände zu etablieren und dafür Politik, Staat, Medien und Wissenschaft zu instrumentalisieren. Die dabei zum Ausdruck kommende Tendenz einer Global Governance (Weltregierung) ist unverkennbar. Es handelt es sich dabei um globale ungewählte Netzwerke von Milliardären, Banken, Konzernen, Medien und NGOs, die mit ihrem Zugriff auf UN-Institutionen (z.B. WHO), Gerichte und Regierungen ihre Interessen durchsetzen. Die bürgerliche Demokratie wird immer mehr zur Fassade. Corona war eine Art Generalprobe für einen neuen Faschismus – aus Sicht des Kapitals war sie gelungen.

Doch diese Strategie sieht sich auch großen Problemen gegenüber, indem sie auch Widerstand erzeugt und Illusionen in das System zerstört. Die imperiale Neuordnung provoziert auch massiven Widerstand der Bevölkerungen, deren Lebensgrundlagen zunehmend erodieren. Im Zuge dieses Widerstands ist es auch möglich, die etablierten reformistischen Führungen der Arbeiterbewegung herauszufordern und neue, kämpferisch-antikapitalistische aufzubauen. Die Lösung der historischen Führungskrise des Proletariats, die Trotzki schon in den 1930er Jahren konstatierte, kann dann endlich angebahnt werden.

Der Crashkurs des Großkapitals führt – neben kurzfristigen Schüben – auch dazu, dass ganze Weltregionen zerstört und zurückgeworfen werden, wie es derzeit die Ukraine erlebt. Die Ruinierung von Millionen bedeutet aber auch, dass diese als Konsumenten ausfallen. Der Bankrott weiter Teile des unteren Kleinbürgertums schränkt auch den Aktionsraum des Gesamtkapitals ein. Beide Prozesse konterkarieren damit den Prozess der Ausweitung des Weltmarktes, der mit der Aufstiegsperiode des Kapitalismus verbunden war und sie ermöglicht hat.

Sozialer Abstieg

Von einem sozialen Aufstieg des Proletariats wie im Langen Boom kann keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: immer größere Teile rutschen (in den imperialistischen Ländern) in eine prekäre Lage ab. Die „Sozialsysteme“ erodieren, die Staatsverschuldung steigt. Fast im Jahrestakt beutelt uns eine neue Krise. All das ist letztlich Ausdruck der zunehmenden Verwertungsprobleme des Kapitals. Diese führen u.a. zum inzwischen normalen Anwerfen der Gelddruckmaschinen durch die Zentralbanken, zu verschärften sozialen Angriffen, zu neuen Handelskrisen und zu Kriegen um geostrategischen Einfluss. Das Profitstreben und die immer stärkere Rolle der internationalen Hochfinanz (Großbanken, Fonds wie Blackrock u.a.) führen dazu, dass auch die „Realwirtschaft“ immer mehr desorganisiert und der Mittelstand geschröpft wird.

Das zeigte sich v.a. in der Corona-Krise, als ein Virus künstlich zu einem Megaproblem aufgeblasen wurde. Die Folge davon war der weitere Ruin der Staatsfinanzen und damit eine noch größere Abhängigkeit der Staaten vom Finanzkapital und globalen Wirtschaftsstrukturen. Eine andere Folge war der Wachstumsschub für IT-Konzerne und die „Plattformwirtschaft“ (Google, Amazon, Lieferando u.a.) auf Kosten des Kleinbürgertums. Viele soziale Strukturen und Mechanismen (Bildung, Kultur, soziales Miteinander) wurden unterminiert und geschädigt. Hunderte Millionen wurden weltweit ins soziale Abseits gedrängt. Das Agieren des (stark US-basierten) Finanzkapitals steckt auch hinter dem aberwitzigen Hype um die angebliche Klimakatastrophe, die durch eine Energiewende und die Dekarbonisierung eingedämmt werden müsse. Die Folge dessen ist eine Investitionsoffensive in systemisch ungeeignete, unrationelle und technisch perspektivlose „erneuerbare“ Energietechniken, die massive soziale, wirtschaftliche und auch ökologische Schäden verursachen, die Stromversorgung unsicherer machen und verteuern. Die aktuelle Energiekrise, die nur z.T. mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat, ist eine Folge davon.

Neue Herrschaftsmechanismen

Der wachsende IT-Sektor, die auf diesem Gebiet aktiven Konzerne und deren Verknüpfung mit der Hochfinanz, der Politik, dem Staat und den Medien hat um die Jahrhundertwende zu neuartigen Machtkonglomeraten geführt. Nachdem die Führungsmacht USA ab den 1970ern v.a. wirtschaftlich gegenüber Europa und Japan an Boden verlor, aber politisch, militärisch und finanziell immer noch die Nr. 1 in der Welt war, hat sie in den letzten Jahren wirtschaftlich wieder Boden gutgemacht, v.a. auf dem IT-Sektor, wo die USA am besten in der Lage waren, neue Technologien zu entwickeln und neue IT-basierte Weltkonzerne zu etablieren. Die Digitalisierung ist die technische Basis der Globalisierung und ermöglichte es den Tech- und Plattform-Konzernen überhaupt erst, den gesamten Weltmarkt flächendeckend zu nutzen und überall tief einzudringen.

V.a. Japan und die EU haben dabei das Nachsehen. Die EU hat ihr in der „Lissabon-Agenda“ verkündetes Ziel, zum „dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt“ zu werden und mit dem Euro eine Weltwährung zu etablieren, verfehlt und befindet sich in einer tiefen Krise. In Folge dessen ist Europa wieder stärker in die Abhängigkeit der USA und der von ihr dominierten NATO geraten.

Doch die Verwertungskrise des Weltkapitalismus führte auch dazu, dass China durch den (kontrollierten) Zustrom ausländischen Kapitals seinem Staatskapitalismus einen enormen Schub geben und zur Nr. 2 unter den imperialistischen Globalplayern werden konnte. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass es zwei große imperialistische Blöcke geben wird, die die Entwicklung der Welt prägen, sie vor neue Probleme stellen und in neue Konflikte stürzen wird: der Westblock um die USA und der Ostblock um China und Russland. Der Kampf um den Ausbau und die Dominanz dieser beiden Blöcke wird die nächste Periode bestimmen – und er kann zu gewaltigen Konflikten bis hin zum 3. Weltkrieg führen. Beide Blöcke werden versuchen, Indien u.a. „Mittelmächte“ wie Brasilien, die Türkei und etliche asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Länder für sich zu gewinnen.

Für den Klassenkampf bedeutet das:

  • die Phase der Prosperität des Imperialismus, partielle soziale Verbesserungen für die Massen und relativ hohe Sozialstandards wird von einer Periode größerer Konflikte und Angriffe des Kapitals auf die Massen abgelöst; die relative und tw. absolute Verarmung erheblicher Teile der Lohnabhängigen und der Mittelschichten steigt;
  • Krisen, Kriege, Militarisierung, Rüstung und autoritäre Politik nehmen zu;
  • der Spielraum für den Reformismus erodiert und damit auch sein Zugriff auf die Arbeiterklasse;
  • Protest und Widerstand der Arbeiterklasse u.a. Unterdrückter nehmen zu;
  • linke und revolutionäre Tendenzen in der Linken und der Arbeiterbewegung verstärken sich – aber auch rechts-autoritäre und faschistische Tendenzen in der Gesellschaft.

Mit dem 20. Jahrhundert, v.a. in dessen zweiter Hälfte, haben sich neben dem Lohnarbeitsverhältnis andere, historisch neuartige Herrschaftsmechanismen etabliert. Dazu zählen etwa kulturelle Mechanismen, die Medien, die Bildung und die Wissenschaft, die eine weit größere Rolle im Leben der Bevölkerung und der Arbeiterklasse dabei spielen, bürgerliche Ideologie zu etablieren wie z.B. Egoismus und Konsumismus. Die Lohnarbeit selbst spielt, schon rein quantitativ, ein geringere, wenn auch immer noch zentrale Rolle im Leben der meisten Menschen, bes. in den imperialistischen Ländern. Durch die Verkürzung des Arbeitstages, die Zunahme von Freizeit und Urlaub, die längere Ausbildungs- und Schulzeit sowie die längere Rentenzeit aufgrund des längeren Lebens nimmt die soziale Prägung durch nicht direkt an die Lohnarbeit gebundene Lebensphasen zu. Eine Unmenge „kultureller Faktoren“ beeinflussen uns. Diese sind Ausdruck von sozialem Fortschritt und von größeren Möglichkeiten im Leben, aber zugleich auch Errungenschaften des Klassenkampfs des Proletariats. Neben der Ausbeutung durch das Lohnarbeitsverhältnis spielen heute verschiedene Formen der Unterdrückung – nach „Rasse“, Nationalität, Geschlecht, Sexualität usw. – sowie die ideelle Indoktrinierung eine bedeutendere Rolle als noch vor 100 oder 150 Jahren.

Die unerhört gewachsenen sozialen Bereiche wie Bildung, Wissenschaft, Kultur, Verwaltung usw. brachten es mit sich, dass die ideologische Beeinflussung der Bevölkerung und ihre Einbindung in Herrschaftsmechanismen (z.B. Verwaltung, Management) größer geworden ist. Vor 100 oder 150 Jahren hingegen spielten sie für die Massen und das Proletariat fast keine Rolle. Andererseits ist mit der umfangreicheren Bildung und dem größeren Erfahrungsbereich des Proletariats auch dessen Fähigkeit, die Gesellschaft zu „managen“, größer geworden.

Dass die Herrschaftsmethoden von Staat und Kapital oft so gut funktionieren, liegt auch daran, dass die Menschen weitgehend – und stärker als früher – atomisiert leben, aufgespalten in Kleinhaushalte, Eigenheimsiedlungen, Kleinfamilien usw. Der Versuch der Arbeiterbewegung, die Lohnabhängigen politisch (!) zu organisieren, in Parteien und Gewerkschaften, griff viel zu kurz, weil damit deren soziale (!) Atomisierung nicht überwunden und ihre durch bürgerliche Strukturen und Traditionen erzeugten Denk- und Verhaltensweisen kaum aufgebrochen werden konnten. Die ideelle und strukturelle Einbindung der Massen in „künstliche“ Gemeinschaften (Staat, Nation, Rasse, Belegschaft, Volksgemeinschaft, Privatbesitzer usw.) fördert ihre Beherrschbarkeit. Die Arbeiterbewegung hat sich zu einseitig nur auf die politische und ökonomische Szenerie orientiert, die revolutionäre Bewegung nur auf den Sturz des Kapitalismus, aber fast nicht auf die Veränderung von Strukturen schon im Kapitalismus. Die Schaffung von selbstverwalteten, genossenschaftlichen Strukturen in allen (!) Bereichen der Gesellschaft, die Etablierung von proletarischer Kontrolle über soziale Bereiche wurden weitgehend ignoriert.

Das hat auch damit zu tun, dass man den Staat – den bürgerlichen oder den „proletarischen“ – als Instrument gesellschaftlicher Umwälzungen ansah. Die damit verbundene erneute Unterordnung und Entmündigung vereitelte die Möglichkeit der Konstituierung der Arbeiterklasse und der Massen zum Subjekt der Entwicklung. Wo dies in Ansätzen möglich war, z.B. im anarchistischen Teil Spaniens ab 1936, zeigte sich, welch unerhörte Potentiale in den Massen schlummern. Marx sah die Konzeption von Robert Owen als positiv, aber (damals) auch als utopisch an. Doch Marx´ Nachfolger sahen nicht, dass eine größere und entwickeltere Arbeiterklasse Owens Modellprojekte in größerem Stil hätten verwirklichen können. Dieses Versäumnis rächte sich bitter, weil das Kapital und sein Staat immer weiter, bis in der letzten Pore der Gesellschaft, ihre Strukturen und Mechanismen etablierten. Dagegen stehen selbst massenhafte Arbeiterparteien und Gewerkschaften auf verlorenem Posten. Nur ein zugleich etabliertes umfangreiches Selbstverwaltungssystem, eine proletarische Gegenkultur, kann in Keimform eine Alternative zum Kapitalismus darstellen und aufzeigen. Das macht die Revolution, den qualitativen Bruch, nicht überflüssig, im Gegenteil: sie mobilisiert dafür ein größeres Potential; die Revolution kann heute überhaupt nur dadurch siegen.

Wir haben skizziert, worin einige neue Elemente des Imperialismus ab den 1990ern bestehen. Wir haben gezeigt, dass und wie sich der Imperialismus im Laufe seiner über 100 Jahre Existenz verändert hat: in der Struktur des Kapitals, in der Klassenstruktur und in seiner Herrschaftsweise. Daher sind wir der Meinung, dass die Phase des „Frühimperialismus“ von etwa 1890-1990 vorbei ist und die Periode des „Spätimperialismus“ begonnen hat. Er stellt historisch nichts generell Neues dar, sondern er „bewahrt“ einerseits grundlegende Merkmale des imperialistischen Kapitalismus (Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals), weist andererseits aber neue Elemente auf (starker Staatseinfluss, neue Herrschaftstechniken, IT-Finanz-Komplex, größere lohnabhängige Mittelschicht usw.).

Wir haben dargelegt, dass der Grundkonflikt des Kapitalismus zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht verschwunden ist, ja sich eher wieder verschärfen wird. Wir haben gezeigt, dass und warum die Arbeiterbewegung und die revolutionäre Linke historische Niederlagen erlitten haben und in einer tiefen Krise stecken. Davon ausgehend müssen wir erarbeiten, wie der Klassenkampf, wie die Programmatik aussehen müssen, um künftig erfolgreicher sein und eine neue revolutionäre Linke aufbauen zu können, die in der Lage ist zu siegen und den Spätimperialismus zum letzten Kapitel des Kapitalismus zu machen.

4 Gedanken zu „Der Spätimperialismus (Teil 2 von 2)“

  1. Die äußerst komische Entscheidung zu den Wärmepumpen und dieser ganze Energie-Themen-komplex führen mich zu der Frage, ob es sich vielleicht um eine langfristige Planung handelt, um von Rohstoff-Lieferanten unabhängiger (und vielleicht sogar fast komplett unabhängig zu werden)? Keine Gas-Lieferungen, deutlich weniger Öl-abhängigkeit? Und wenn das so ist, dann könnte es ein Hinweis auf eine langfristige Konfrontation mit den jeweils liefernden Ländern sein. Also so würde diese Irrationalität Sinn machen! Als rationaler Teil des imperialistischen Krieges gedacht, nicht als Irrationalität in Bezug auf marktwirtschaftliche Aspekt.
    Ich nehme Bezug auf den folgenden Textabschnitt: „Die Folge dessen ist eine Investitionsoffensive in systemisch ungeeignete, unrationelle und technisch perspektivlose „erneuerbare“ Energietechniken, die massive soziale, wirtschaftliche und auch ökologische Schäden verursachen, die Stromversorgung unsicherer machen und verteuern. Die aktuelle Energiekrise, die nur z.T. mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat, ist eine Folge davon.“

    1. Von der Irrationalität des Kapitalismus zu sprechen bezieht sich auf die Auswirkungen z.B. der Energiewende auf die Gesellschaft. In Bezug auf die Profitinteressen einzelner Kapitale ist die Energiewende durchaus rational.

  2. Im Allgemeinen hast du meiner Meinung nach die Grundtendenzen der gegenwärtigen Epoche zutreffend erkannt, worauf ich nicht weiter eingehen will. In einigen Punkten stimme ich dir allerdings nicht zu:
    1. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus war nicht nur mit der Niederlage jener Teile der Linken und der Arbeiterbewegung verbunden, die ihn positiv sich auf bezogen. Er betraf alle Linke. Auch diejenigen Strömungen wurden für seine Fehler und Stalins Verbrechen in Mithaftung genommen, die diese kritisiert und vor einem Zusammenbruch des Sozialismus gewarnt hatten.
    2. Von einem Staatskapitalismus in der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas kann nicht die Rede sein, denn die kapitalistischen Bewegungsgesetze wirkten dort nicht. Auch gab es bis 1989 keine Kapitalisten. Trotzkisten sprechen im Allgemeinen von einem degenerierten Arbeiterstaat, um diese Gesellschaften zu beschreiben. Alfred Kosing dagegen sagte, dort und in der Sowjetunion habe ein Rohbau des Sozialismus existiert, der freilich noch weit von seiner Vollendung entfernt gewesen war. Diese Formel hat etwas für sich, denn sie beschreibt nicht nur die Verbrechen und Fehler, die dort vorkamen, sondern auch die zivilisatorischen Fortschritte und Errungenschaften, die es ebenso gegeben hat. Je länger diese Gesellschaften der Vergangenheit angehören und je schneller die westliche Zivilisation zerfällt, desto heller strahlen diese realsozialistischen Gesellschaften. Besser ein schlechter Sozialismus als das, was wir jetzt haben.
    3. Ich finde die Vehemenz irritierend, Marx ständig irgendwelche Fehler und Irrtümer ankreiden zu wollen. Dass sich die Wissenschaft des historischen Materialismus in 150 Jahren weiterentwickelt, halte ich für selbstverständlich. Im konkreten Fall hat Marx den Rückgang des selbständigen Kleinbürgertums zutreffend vorhergesagt. Schließlich ist sein Anteil an der deutschen Bevölkerung nach dem Projekt Klassenanalyse von 34,0% 1907 auf 8,3 % im Jahr 1985 geschrumpft. Dem steht eine Zunahme der lohnabhängigen Mittelklasse von 13,0 auf 24,8% und der Arbeiterklasse von 50 auf 65,4% gegenüber. Der Anteil der Kapitalisten (definiert als eine Person, die mehr als 7 Menschen ausbeutet) hat sich von 3 auf 1,5% halbiert.
    4. Wie Trotzki in seinen Schriften über Deutschland zutreffend feststellte, schwankt das Kleinbürgertum (in diesem Fall fast ausschließlich die lohnabhängigen Mittelklasse) nicht nur zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, sondern schließt sich regelmäßig der stärkeren Klasse an. Da es eine organisierte Arbeiterbewegung nicht mehr gibt, ist logisch, welcher Klasse es zuneigt. Das Kleinbürgertum ist regelmäßig die Brutstätte des Faschismus, der besonders in Krisenzeiten endemisch wird. Eine solche Entwicklung können wir verstärkt seit 2020 beobachten, auch wenn die psychischen Mechanismen heute etwas anders gelagert sind als in den 30er Jahren.
    5. Du schreibst: „Neben der Ausbeutung durch das Lohnarbeitsverhältnis spielen heute verschiedene Formen der Unterdrückung – nach „Rasse“, Nationalität, Geschlecht, Sexualität usw. – sowie die ideelle Indoktrinierung eine bedeutendere Rolle als noch vor 100 oder 150 Jahren.“ Das kann allenfalls auf das verkehrte Bewusstsein einer kleinen Schicht von wohlhabenden Kleinbürgern zutreffen, nicht aber auf die Realität. Vor 100 Jahren, also 1923 gab es in Südafrika und den USA nicht nur vollausgebildete Apartheidsstrukturen, sondern auch eine eklatante Diskriminierung und Hyperausbeutung der großen Kolonialbevölkerung bis hin zu Systemen des Zwangsanbaus, die sich kaum von der Sklaverei unterschieden.
    Geschlecht: Erst 1918 nach der Novemberrevolution erlangten die Frauen das Wahlrecht in Deutschland. Das änderte aber nichts daran, dass der Mann immer noch als Haupt der Familie galt, in allen entscheidenden Fragen das letzte Wort hatte, Frauen nur mit seiner Erlaubnis arbeiten durften und eine Scheidung kaum möglich war. Zudem war Abtreibung ohne wenn und aber verboten. Sogar Ehebruch und voreheliche Sexualität waren verboten und wurden bestraft.
    Sexualität: Homosexualität war vollständig bis in die 70er Jahre, in einigen Konstella-tionen sogar bis in die 90er Jahre in Deutschland verboten.
    Sicherlich sind alle diese Diskriminierungsformen heute noch nicht vollständig verschwunden, wenn sie auch stark abgemildert wurden. Ein größeres Problem ist heute vielmehr, dass die Normalbevölkerung diskriminiert wird. Wenn zum Beispiel ein unglaubliches Bohei gemacht wird um LGBTQ-Dingsbums-Personen, mit Awareness-Monaten, Flaggenmeeren, Veranstaltungen etc. und das nur für bestenfalls 10% der Bevölkerung, die weit überwiegend der Elite angehören und allein deshalb schon sozial privilegiert sind, wird der große Rest natürlich dadurch benachteiligt. Die Medien fahren zudem richtige Hasskampagnen gegen weiße alte Männer. In den stereotypen Vorstellungen des vor dem Fernseher in seinem Unterhemd sitzenden und Chips in sich hineinmampfenden weißen alten Mannes verbirgt sich ein noch nicht einmal besonders gut getarnter Hass der Bessergestellten auf die Arbeiterklasse.
    6. Genossenschaften: Ich habe den Eindruck, dass du mit dem Bestehen auf eine Genossenschaftsbewegung eine Erklärung suchst, warum der Übergang zum Sozialismus in den westlichen Ländern nicht funktioniert hat und was man besser ma-chen könnte. Dabei war der genossenschaftliche Sektor neben Partei und Gewerkschaft eine der drei Säulen der Arbeiterbewegung und hatte in vielen Ländern eine be-trächtliche Stärke erlangt (Konsumgenossenschaften, Baugenossenschaften, etc.). Davon, dass er von der Arbeiterbewegung vernachlässigt worden sei, kann überhaupt nicht die Rede sein. Genossenschaften existierten in der BRD noch bis in die 80er Jahre und in der DDR sogar bis 1989. Ihr Niedergang in der BRD ist auf ihre Anpassung an den Kapitalismus, Managementfehler und bewusste regulatorische Benachteiligung durch Bundesregierungen von Adenauer bis Schmidt zurückzuführen. Unter heutigen Bedingungen sind größere Genossenschaftsgründungen aus der Arbeiterklasse schlicht nicht mehr möglich. Hauptursache des Scheiterns der Revolution in den westlichen Ländern waren meiner Meinung neue Herrschaftstechniken der Bourgeoisie und die Degeneration der KomIntern als Weltpartei des Proletariats zu einer Revolutionsverhinderungsagentur.

    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar. Eine Antwort auf Deine vielen Punkte würde den Rahmen eines Kommentars leider weit überschreiten. Daher werde ich in Form eines Artikels antworten, der hier demnächst erscheint. Bis dahin bitte ich um Geduld. MfG Hanns Graaf

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