Räte (russ. Sowjets) sind Organisationsformen des Klassenkampfes und der nachkapitalistischen Gesellschaft. Die ersten räteähnlichen Strukturen entstanden schon während der französischen Revolution von 1789 als Kampf- und kommunale Verwaltungsstrukturen der Armen von Paris. 1871 kam es während der Pariser Kommune erneut zur Entstehung von Räten, die diesmal aber selbst die Macht inne hatten. Karl Marx würdigte die Kommune, die er auch „Diktatur des Proletariats“ nannte, als „endlich gefundene Form“, wie die Arbeitenden die Gesellschaft organisieren können. Die ersten „reinen“ Arbeiterräte bildeten sich dann 1905 während der Russischen Revolution. 1917 entstanden dann in Russland in der Februarevolution erneut Sowjets als revolutionäre Kampforgane, als Organe von „Gegenmacht“ zur bürgerlichen Provisorischen Regierung. Mit dem Oktoberaufstand übernahmen die Sowjets dann die Macht in Gestalt der von den Bolschewiki geführten Sowjetregierung Lenins.
Die Sowjets von 1917 werden von Revolutionären und Marxisten als Vorbild von Räten angesehen. Diese Sowjets beruhten anfangs wesentlich auf den betrieblichen Basisstrukturen (Betriebskomitees) der Arbeiter. Neben diesen Arbeiterräten gab es auch Soldatenräte, die von der Basis der Armee (die mehrheitlich aus Bauern bestand) gewählt waren, sowie Dorfsowjets der armen Bauernschaft. In den für die Revolution wichtigsten Sowjets, v.a. in Petrograd (St. Petersburg) und Moskau, errang die Partei der Bolschewiki während der Revolution die Mehrheit, weil sie am energischsten für die zentralen Ziele der Revolution „Brot, Land und Frieden“ eintraten und diese bis zum Sieg des Proletariats und der mit ihm verbündeten Dorfarmut voran trieben.
Der alte Staatsapparat wird in der Revolution zerschlagen oder neutralisiert, weil er die Machtstütze der alten Klasse(n) ist und für eine sozialistische Gesellschaft strukturell unbrauchbar ist. Die revolutionären Massen sind gezwungen, sich eigene Organe zu schaffen. Diese haben zwei wesentliche Funktionen: 1. dienen sie der Mobilisierung und Organisierung der revolutionären Massen für den Sieg der Revolution und deren Verteidigung. 2. sind sie Organe der Diskussion und Entscheidungsfindung, eine Art „Arbeiterparlament“. Räte unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht in Funktion und Form grundlegend von der bürgerlichen Demokratie:
- sie sind direkt mit den Massen verbunden und können so direkt deren Interessen und Ziele widerspiegeln;
- Arbeiterräte rekrutieren sich v.a. aus Arbeitern, nicht aus der Gesamtbevölkerung;
- sie verbinden Diskussion und Beschlussfassung mit der praktischen Umsetzung, sie sind zugleich legislative und exekutive Gremien;
- Räte bestehen aus direkt von der Basis gewählten Delegierten, die der direkten Kontrolle der Basis unterstehen und jederzeit abgewählt werden können;
- die Delegierten haben keine Privilegien und erhalten nur einen durchschnittlichen Arbeiterlohn.
Räte sind nicht nur Basisorgane der Revolution, sondern repräsentieren zugleich auch jene Strukturen und Organisationsprinzipien, auf denen die nachkapitalistische Gesellschaft beruht. Marx betonte, dass es im Kommunismus keine Klassen und keinen Staat mehr gibt, der (alte) Staat wird durch Organe einer Rätedemokratie ersetzt. Während die bürgerliche (parlamentarische) Demokratie eine Scheindemokratie ist, bei der alle paar Jahre einige Spitzen von Politik und Staat gewählt werden, aber die wesentlichen Strukturen der Gesellschaft (Staatsapparat, Justiz, die großen Produktionsmittel, Polizei, Armee, Medien usw.) nicht zur Disposition stehen, bestimmt in einer Rätedemokratie die große Mehrheit direkt über alle Bereiche der Gesellschaft. Insofern ist die Rätedemokratie demokratischer, lebendiger und umfassender als selbst die beste bürgerliche Demokratie.
Räte oder räteähnliche Organe entstehen nur in revolutionären oder zugespitzten Situationen, weil sie die Machtstrukturen der Herrschenden offen herausfordern und deren Widerstand provozieren, der nur von den mobilisierten, zu allem entschlossenen Massen geschlagen werden kann. Räte können im Zusammenhang mit Generalstreiks, im Kampf gegen reaktionäre Putsche oder in gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituationen entstehen.
Die Rätedemokratie ist jedoch keine Sache, die nur für revolutionäre Situationen relevant ist. Der Kampf dafür, dass das Proletariat über eigene Kampf- und Organisationsstrukturen verfügt, muss immer geführt werden – zunächst damit, dass in der Propaganda die Bedeutung der Räte betont und erklärt wird. Damit im Zusammenhang müssen die bürgerliche Demokratie, aber auch das bürokratische Regime des Reformismus kritisiert und das Räteprinzip als Alternative dargestellt werden. In jedem Klassenkampf muss gefordert und aufgezeigt werden, dass es notwendig und wie es möglich ist, dass Arbeiterinnen und Arbeiter sich eigene Kampf-, Vertretungs- und Kontrollorgane schaffen. Im Sinne des Übergangsprogramms von Trotzki geht es im weitesten Sinn um Arbeiterkontrolle, die (vor der Revolution zumindest in Ansätzen) durchgesetzt werden muss.
Ein Beispiel: In einem Streik bedeutet Eintreten für Rätedemokratie, dass man die Führung des Streiks nicht automatisch dem Gewerkschaftsapparat und den Betriebsräten überlässt, sondern die Streikleitung(en) von der Basis wählt, sie kontrolliert und alle Beschlüsse, das weitere Vorgehen usw. demokratisch diskutiert und beschließt. Nur so ist die maximale Entfaltung der Kampfkraft möglich, nur so kann das Ränkespiel der Gewerkschaftsbürokratie verhindert werden.
Räte sind nur dann revolutionär-sozialistische Organe, wenn in ihnen Kräfte, darunter auch Parteien, vertreten sind, die einem revolutionären Programm folgen. Das waren 1917 in Russland die Bolschewiki um Lenin, die als einzige Kraft konsequent und fähig genug waren, die Revolution zum Sieg zu führen und dazu die bürgerliche Regierung zu stürzen. Während der Novemberrevolution 1918 in Deutschland hingegen war die revolutionäre KPD zu schwach, die reformistische SPD und die zentristische USPD dominierten die Räte und blockierten die Übernahme der gesamten Macht durch die Räte.
Nach der Revolution, in der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats), ist der „Staat“ – die Verwaltung der Gesellschaft – noch ein widersprüchliches Gebilde. Einerseits besetzt das Proletariat die entscheidenden Machtpositionen (Regierung, Armee, Finanzsystem, Justiz usw.), andererseits gibt es noch Reste des bürgerlichen Staatsapparats, z.B. im Verwaltungsbereich. Die Arbeiterklasse kann diesen Apparat und die dort arbeitenden Fachleute nicht von heute auf morgen ersetzen – und muss das auch nicht. Diese Organe müssen zunächst „nur“ unter die Kontrolle der Rätemacht gestellt werden. Erst nach und nach ist es möglich, alle Strukturen komplett umzugestalten und vollständig durch Räteorgane zu ersetzen. Letztlich hängen der Umfang und das Tempo dieses Umbaus von den Bedingungen des Klassenkampfes und der Reife der Massen ab.
Ein gelungenes Beispiel für eine solche Verbindung von Rätemacht und Elementen des alten Staates ist die Rote Armee, die von Trotzki zu Beginn des Bürgerkriegs aufgebaut wurde. Viele ihrer Befehlshaber waren Offiziere und sogar Generäle der alten Zarenarmee. Diesen Spezialisten wurden politische Kommissare zur Seite gestellt, die sie kontrollierten und ohne die kein Befehl Gültigkeit hatte. Ohne diese Verbindung von militärischem Fachverstand und Klassenbewusstsein wäre es kaum gelungen, im Bürgerkrieg zu siegen.
Die Rote Armee oder Arbeitermilizen verweisen auch auch darauf, dass bestimmte Strukturen innerhalb des Rätesystems der Form (!) nach nicht nach Prinzipien der Rätedemokratie funktionieren können. Eine Armee kann nicht auf Wahlen beruhen, sondern nur auf dem Befehlssystem. Trotzdem dient sie objektiv der Arbeitermacht. Auch in anderen Bereichen der Verwaltung wird es in der Übergangsgesellschaft anfangs noch solche „Zwitter“ geben.
Räte sind an sich – wie auch die Partei – vorrangig politische Organe. Ihre Delegierten werden auf Basis bestimmter politischer Konzepte gewählt. In der Revolution geht es um die Frage der Macht und um die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch Räte. Nach der Sicherung der Macht, in der Übergangsgesellschaft geht es jedoch nicht mehr um die Macht, sondern um den Aufbau, um die Gestaltung der neuen Gesellschaft. Damit sind weit mehr als nur politische oder Machtfragen verbunden. Es geht um Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Bildung, um das Alltagsleben usw. Überall dort stellen sich ganz konkrete „Fachfragen“ und es sind die entsprechenden Spezialisten gefragt. Dafür sind Räte wenig geeignet. Wichtiger sind hier Betriebskomitees, Vertretungen von Fachleuten auf bestimmten Gebieten, Konsumentenvertretungen, Ingenieurvereinigungen usw. Nur mittels solcher Gremien können das Fachwissen, die sozialen Erfahrungen und die Bedürfnisse der Massen zum Ausdruck kommen und in soziale Praxis überführt werden. Nur durch deren Einbeziehung ist es möglich, dass das Rätesystem insgesamt nicht nur den Willen des Proletariats ausdrückt, sondern ihn auch praktisch zweckentsprechend umsetzt.
Das soziale Leben und die Wirtschaft sind so vielfältig und kompliziert, dass es unmöglich ist, sie durch politische oder bürokratische Gremien zu erfassen und zu steuern. Dafür sind Strukturen von Selbstverwaltung und Genossenschaften erforderlich. Diese sind – wenn sie wirkliche Organe von Vergesellschaftung darstellen – ein so spezifischer wie unverzichtbarer Bestandteil des Rätesystems. Genossenschaften sind allerdings der Gefahr ausgesetzt, dass sie dem betrieblichen Egoismus nachgeben und als quasi „kollektivkapitalistische“ Unternehmen agieren. Daher müssen sie – schon auf Betriebsebene – in ein nationales Rätesystem und in eine Rahmenplanung eingebunden sein.
Wie Räte entstehen und welche Struktur sie annehmen, hängt von den historischen und Klassenkampfbedingungen ab. Es ist z.B. denkbar, dass sie aus gewerkschaftlichen Gremien hervorgehen. So geschah es in der Spanischen Revolution, als Räte-Organe und Genossenschaften im Rahmen der anarchistischen Gewerkschaft CNT entstanden. In der Russischen Revolution von 1917 entwickelten sich die Sowjets zuerst aus den Betriebskomitees. In der deutschen Revolution von 1918 beruhten sie von Beginn an auf den Arbeiterparteien SPD, USPD und KPD, tw. verbunden mit den Revolutionären Obleuten.
Negativ hat sich immer ausgewirkt, wenn eine Partei als einzige Kraft geherrscht hat, wie es unter Stalin und im Ostblock durch die verfassungsmäßig garantierte „führende Rolle der Partei“ der Fall war. Genauso fatal war es aber, wenn es keine revolutionäre Partei gab, die in den Räten wirkte. Gegenwärtig erleben wir immer deutlicher, dass eine wesentlich auf Parteien beruhende Demokratie – egal ob eine Rätedemokratie oder eine bürgerlich-parlamentarische – den Anforderungen einer modernen, hochkomplexen Industriegesellschaft nicht mehr genügen kann. Die Parteiendemokratie ist ein Modell des 19. und 20. Jahrhunderts, dass 21. Jahrhundert erfordert ein anderes Modell: die Rätedemokratie.
Unter Stalin verfestigte sich die – in Ansätzen allerdings schon vorher bestehende – Verselbstständigung von Elementen bürgerlicher Staatlichkeit. So unterlag z.B. die politische Polizei (Tscheka, später GPU, NKWD) nie der Kontrolle der Sowjets, ja noch nicht einmal der Partei, sondern nur deren Führung. So konnte sie problemlos als Instrument gegen jede Opposition eingesetzt werden. Die Rätedemokratie war erst in bescheidenen Ansätzen entwickelt und litt zudem unter den sehr ungünstigen Bedingungen. Diese Unreife des Rätesystems ermöglichte es auch überhaupt erst, dass es so schnell und leicht unter Stalin entmachtet werden konnte.
Das Problem der Bolschewiki unter Lenin bestand darin, dass sie die Sowjets zwar als Kampforgane anerkannt, ja ihnen auch eine gewisse Funktion als „Staatsorgane“ zugedacht, diese letztere Aufgabe aber nie genau definiert haben. Dieses Manko ist z.B. deutlich an Lenins „Staat und Revolution“ ablesbar. Die Bolschewiki haben zwar den bürgerlich-zaristischen Staatsapparat weitgehend zerschlagen, an dessen Stelle aber erneut einen gesonderten, abgehobenen und sogar extrem bürokratischen Staatsapparat etabliert. Dieser war nun nicht mehr ein Instrument der Bourgeoisie, die enteignet worden war, sondern ein Werkzeug der Partei – nicht der Klasse. War das – die „Reduktion“ der Machtausübung der Partei anstelle der Klasse – unter den komplizierten Bedingungen des Bürgerkriegs und der Wirtschaftskrise weitgehend unvermeidbar, konnte und musste das nach dem Sieg im Bürgerkrieg im Frühjahr 1921 geändert werden. Es geschah aber das Gegenteil. Beruhend auf den Apparaten von Partei, Staat und Sicherheitskräften konnte Stalin sein System errichten, die Bürokratie entwickelte sich zur neuen herrschenden Klasse, die ein staatskapitalistisches System dominierte. Jeder Ansatz von Rätedemokratie wurde eliminiert und man fiel hinsichtlich der Staatsstruktur noch hinter die bürgerliche Demokratie des Westens zurück. Dieses System war zwar in der Lage, eine nachholende wirtschaftliche Entwicklung erfolgreich zu meistern, es erwies sich aber bald als viel zu unflexibel, um der Entwicklung der modernen Produktivkräfte gerecht zu werden – von einer kommunistischen Zielstellung ganz zu schweigen.
Die Rätedemokratie ist nicht nur eine Form, die demokratischer ist als eine bürokratische Diktatur oder die bürgerliche Demokratie; sie ist die unverzichtbare strukturelle Grundlage für eine Entwicklung zum Kommunismus. Sie ist unverzichtbar dafür, dass die Produzenten und Konsumenten wirklich die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die Gesellschaft insgesamt haben.
Es ist eine zentrale Frage der Entwicklung zum Sozialismus, ob und wie es gelingt, die Räte und andere Strukturen zu einer demokratischen und effizienten Gesamtstruktur zu verbinden. Gelingt das, wird sich die Rätedemokratie nicht nur als wesentlich demokratischer und lebendiger als die bürgerliche Demokratie erweisen, sondern auch als deutlich kreativer und effizienter, weil sie nicht Ausdruck der bornierten Interessen einer Minderheit ist, sondern die Kreativität und Bedürfnisse der Mehrheit verkörpert.
Marx sah in der Überwindung der Entfremdung ein zentrales Ziel gesellschaftlicher Entwicklung Richtung Kommunismus. Dazu müssen nicht nur das Privateigentum, die Konkurrenz und das Lohnsystem aufgehoben werden, sondern auch die Unterordnung der Gesellschaft unter eine herrschende „dritte Macht“ – sei diese ein Privateigentümer, ein Bürokrat oder der Staat. Nur dann, wenn die Produzenten und Konsumenten die Produktionsmittel und die Gesellschaft direkt (!), mittels eines Rätesystems, verwalten und deren Entwicklung bestimmen, kann die Entfremdung überwunden werden.