Zur Losung der Verstaatlichung

Hanns Graaf

Bei einigen linken Organisationen spielt die Losung der Verstaatlichung eine wichtige Rolle. Bei der Gruppe Arbeitermacht (GAM) z.B. taucht die Verstaatlichungs-Forderung oft mit den Zusätzen „entschädigungslos“ und „unter Arbeiterkontrolle“ auf. Hier nur ein Beispiel dazu: in der Arbeitermacht-Infomail Nr. 709 heißt es zum Konflikt bei Norgren: „Betriebe, die entlassen oder mit Entlassungen drohen, müssen entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten verstaatlicht werden!“ Im GAM-Aktionsprogramm von 2012 heißt es im selben Sinn: „Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung der Produktion solcher Firmen!“

Die GAM glaubt sich dabei in Übereinstimmung mit Geist und Text des 1938 von Trotzki verfassten und von der IV. Internationale angenommenen Programms, des „Übergangsprogramms“ – zumindest macht sie nirgends deutlich, dass sie bewusst von den dortigen Positionen Trotzkis in dieser Frage abweicht.

Natürlich ist Verstaatlichung nicht gleich Verstaatlichung. MarxistInnen müssen sich dabei immer die Frage stellen, welchen Klassencharakter der Staat hat; dient er dem Kapital und dessen Macht- und Verwertungsinteressen oder dient er dem Proletariat? Neben dieser Frage, welche die Funktionalität des Staates berührt, d.h. letztlich, welcher Produktionsweise er dient, gibt es noch den Aspekt, wie er strukturiert ist – z.B. bürokratisch oder rätedemokratisch. Natürlich muss die Verstaatlichungs-Forderung auch daraufhin untersucht werden, in welch allgemeinen programmatisch-taktischen, aktuellen und historischen Zusammenhängen sie steht.

Wer sich allerdings die Mühe macht und das Übergangsprogramm Trotzkis daraufhin genau durchliest, wird feststellen, dass dort nicht eine einzige Textstelle zur Verstaatlichung zu finden ist, die so wie bei der GAM formuliert ist. Im Gegenteil: So, wie die GAM die Verstaatlichungs-Forderung erhebt, unterscheidet sie sich deutlich von dem, was Trotzki im Übergangsprogramm vertritt.

Zentrismus vs. revolutionäre Methode

Gerade im trotzkistischen Zentrismus wird unter „Übergangsmethode“ oft verstanden, dass das gegebene Bewusstsein, die Aktions- und Organisationsformen der Arbeiterklasse weiterentwickelt und auf ein höheres Niveau gehoben werden müssen. Das ist natürlich richtig – doch es stutzt Trotzkis Methode zusammen, es verkürzt sie darauf, dass der Klassenkampf allgemein vorangebracht werden soll. Dabei bleibt jedoch die entscheidende Frage offen, wohin er geführt, auf welches Niveau er gehoben werden soll.

Trotzki geht es keineswegs nur darum, die Klasse „irgendwie“ voran zu bringen. Ihm geht es darum, dass ein revolutionäres Niveau erreicht wird. Ihm geht es darum, das Proletariat zu befähigen – ideell, organisatorisch und in der Aktion -, um die Macht zu kämpfen und sie zu übernehmen. Dabei stellt er eine konsequente und logische Verbindung her zwischen einzelnen Sektoren wie z.B. dem einzelnen Betrieb oder einer Branche und der gesamtgesellschaftlichen Ebene, was in der Frage der Ergreifung der Staatsmacht und der Schaffung einer auf einem Rätesystem und Kampfstrukturen fußenden revolutionären Arbeiterregierung mündet.

Trotzki schreibt dazu im Übergangsprogramm ganz klar: „Man muss der Masse helfen, bei ihrem täglichen Kampf die Brücke zwischen ihren augenblicklichen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke sollte aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, welche von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewußtsein der breiten Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und unbeirrbar zu ein und demselben Schluss führen: zur Eroberung der Macht durch das Proletariat.“

Gerade diese revolutionäre Qualität des Übergangs „übersehen“ Zentristen oft. Dabei sind verschiedene typische Auffassungen von „Übergangsmethode“ zu beobachten. So fehlen den zentristischen Programmen oft zentrale Übergangslosungen wie z.B. die nach Arbeitermilizen oder die Forderung nach einer (revolutionären) Arbeiterregierung. Die von Trotzki miteinander zu einem System kombinierten Übergangsforderungen werden von den Zentristen oft einfach nur summiert oder schematisch nebeneinander gestellt. Doch Übergangslosungen können nur im System, nur in Verbindung miteinander eine den Kapitalismus sprengende Dynamik entfalten. Was nützt z.B. die Forderung nach Besetzung eines Betriebes oder nach Arbeiterkontrolle, wenn nicht zugleich die Verteidigung dieser Maßnahmen der Arbeiterklasse mittels Streikposten bzw. bei weiterer Zuspitzung des Konflikts mit Unternehmern und Staatsmacht die Bildung einer Arbeitermiliz gefordert wird? Was bringt die Forderung nach Bildung von Räten, wenn nicht deren landesweite Vernetzung in Form einer Arbeiterregierung gefordert wird? Räte sind zunächst nur Einheitsfront- bzw. Doppelmacht-Organe und haben ohne die Führung einer revolutionären Partei auch nicht unbedingt revolutionäre Qualität. Es geht aber um die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Errichtung der ArbeiterInnenmacht und nicht nur um die Schaffung von parallelen Machtstrukturen neben dem bürgerlichen Staat.

Das Weglassen bestimmter Forderungen wird von den Zentristen auch zuweilen damit begründet, dass diese aktuell nicht umsetzbar wären oder von den Massen nicht verstanden würden. Doch erstens trifft das auf viele „sozialistische“, ja sogar auf viele Reform-Forderungen und genauso auf die Mittel und Methoden zu, diese durchzusetzen. Zweitens offenbart diese Auffassung auch ein Unverständnis dessen, was ein Programm ist und was Propaganda und Agitation unterscheidet. Denn während in der Agitation natürlich nicht immer jede Übergangslosung aufgestellt werden kann und muss, sollte in einem revolutionären Programm – insbesondere im „allgemeinen“ Programm einer Organisation – immer das gesamte System von Übergangsforderungen dargestellt werden, weil sich das Programm zuerst an die Vorhut der Klasse richtet, und diese muss der Masse politisch voraus sein, um sie mitreißen und führen zu können.

Ein weiteres typisches Merkmal des zentristischen Programmverständnisses ist es, den besonderen Charakter der Übergangsforderungen im Unterschied zu anderen Forderungen zu verwischen. Als Übergangsforderungen können im strengen Sinn aber nur jene gelten, die a) darauf abzielen, dass sich die Arbeiterklasse auf besondere Weise organisiert, sich besondere Organisationsstrukturen wie Räte, Milizen, Betriebskomitees usw. schafft und b) mit Orientierungen verbunden sind, welche die Macht, die Strukturen, das Funktionieren der Bourgeoisie und ihres Staates (und der mit ihnen kooperierenden reformistischen Bürokratie) einschränkt und angreift. Dazu gehören z.B. die Arbeiterkontrolle, Streikkomitees, die Offenlegung der Bücher, Preiskontrollkomitees usw.

Diese Intention und die Methode Trotzkis kommen in der Propaganda und der Programmatik der GAM klar zum Ausdruck, insofern unterscheidet sich diese positiv vom mainstream des Zentrismus.

Doch beim Gebrauch der Losung der Verstaatlichung trifft diese positive Einschätzung der Programmatik der GAM nicht zu. Hier offenbart sich ein Missverständnis.

Was heißt Verstaatlichung?

Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Trotzki unter Verstaatlichung – v.a., wenn er selbst positiv diese Forderung aufstellt – immer versteht, dass es ein proletarischer und kein bürgerlicher Staat ist, der als Eigentümer das ehemals private Eigentum übernimmt. Wo Trotzki von einer bürgerlichen Verstaatlichung spricht, ist nirgends davon die Rede, dass RevolutionärInnen diese selbst positiv fordern sollen. Die GAM hingegen stellt ihre Verstaatlichungs-Losung so auf, dass der Staat dabei ein bürgerlicher Staat ist und dieser dazu aufgefordert wird, als Eigentümer zu fungieren. Das ist allerdings ein sehr wesentlicher Unterschied, der direkt die Klassenfrage berührt und nicht nur ein Formulierungslapsus.

Zunächst wollen wir die Herangehensweise Trotzkis mit einigen Zitaten aus dem Übergangsprogramm von 1938 belegen.

Trotzki schreibt: „genauso fordern wir die Enteignung der Monopolgesellschaften der Kriegsindustrie, der Eisenbahnen, der wichtigsten Rohstoffquellen etc. Der Unterschied zwischen diesen Forderungen und der verwaschenen reformistischen Losung der „Verstaatlichung“ besteht in folgendem:

1. Wir lehnen die Entschädigung ab;
2. Wir warnen die Massen vor den Scharlatanen der Volksfront, die zwar ein Lippenbekenntnis für die Nationalisierung abgeben, in Wirklichkeit aber Agenten des Kapitals bleiben;
3. Wir rufen die Massen dazu auf, nur auf ihre revolutionäre Kraft zu vertrauen;
4. Wir verbinden die Frage der Enteignung mit der Frage der Arbeiter- und Bauernmacht.“

Trotzki spricht hier nicht von „Verstaatlichung“, sondern von „Enteignung“, was nicht dasselbe ist. Die Forderung nach Enteignung lässt zunächst nämlich offen, wer künftig Eigentümer sein soll, während die Losung nach Verstaatlichung natürlich klarstellt, dass es der Staat ist, der das Eigentum übernimmt. Aber auch hierbei wird zunächst noch nicht deutlich, welcher Staat, ein bürgerlicher oder ein proletarischer, damit gemeint ist. In Punkt 4 präzisiert das Trotzki deshalb auch ausdrücklich: „Wir verbinden die Frage der Enteignung mit der Frage der Arbeiter- und Bauernmacht.“

An anderer Stelle wird Trotzki noch deutlicher: „Doch bringt die Verstaatlichung der Banken diese günstigen Ergebnisse nur dann, wenn die Staatsmacht selbst in ihrer Gesamtheit aus den Händen der Ausbeuter in die Hände der Werktätigen übergeht.“

Diese Aussage kann allerdings nicht einfach so interpretiert werden, dass eine Verstaatlichung durch den bürgerlichen Staat per se falsch wäre. Trotzki sagt hier nur, dass sie dann nicht „diese günstigen Ergebnisse“ hat wie bei der Übernahme durch einen proletarischen Räte-Staat.

Wie wie sehen, stellt sich Trotzki die Verstaatlichung vor als Maßnahme des proletarischen Staates, d.h. als Maßnahme, die erst nach oder mit der Machtergreifung des Proletariats erfolgt und erfolgen kann.

Hier sei auch an die Position von Engels erinnert, der sehr klar zum Ausdruck brachte, dass der bürgerliche Staat bzw. seine Funktion als Eigentümer von Produktionsmitteln eben gerade keinen Fortschritt in grundsätzlicher Weise darstellt oder auch nur partielle Vorteile hätte.

„Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“ (F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft)

Natürlich wirft jede Enteignung die Frage des (neuen) Eigentümers auf. Die Forderung nach Enteignung lässt die Eigentumsfrage offen. Die Forderung nach Verstaatlichung bedeutet aber, dass ein bestimmtes Eigentumsverhältnis aktiv gefordert wird: Staatseigentum.

Trotzki gibt eine konkrete Antwort darauf, was im Falle der Schließung eines einzelnen Unternehmens und des drohenden Verlustes der Arbeitsplätze zu tun ist: „Im Rahmen eines solchen Planes (eines öffentlichen Beschäftigungsprogramms, d.A.) werden die Arbeiter auf öffentliche Kosten die Wiederaufnahme der Arbeit in den Privatbetrieben (Hervorhebung vom Autor) fordern (…) Die Arbeiterkontrolle wird in solchen Fällen durch eine unmittelbare Arbeiterselbstverwaltung ersetzt werden.“

Das heißt konkret: der Betrieb bleibt formell im Privatbesitz, aber die praktische Ausübung der Eigentümerfunktion, die Verwaltung und Organisation der Produktion, liegt in den Händen der ArbeiterInnen. Solche Situationen hat es auch immer wieder gegeben, z.B. 1944/45, als viele Kapitalisten sich – weil sie Nazis waren oder mit ihnen kollaboriert haben – abgesetzt hatten und die Belegschaft die Produktion selbst übernahm. Natürlich ist das eine Widerspruchs-Situation: das Eigentum ist dem Privatbesitzer noch nicht ganz entwunden, es besteht formal noch, doch die Arbeiterschaft übt die Eigentümer-Funktion praktisch schon aus. Bei Trotzki gibt es keine Forderung nach Übernahme durch den bürgerlichen Staat. Dieser soll lediglich als Geldgeber – „auf öffentliche Kosten“ – in Funktion treten, als Finanzier des öffentlichen Beschäftigungsprogramms bzw. zur Absicherung der Fortführung der Produktion und damit des Erhalts der Arbeitsplätze.

Trotzki ist immer bewusst, dass diese Maßnahmen die Macht und den Einfluss sowohl der Bourgeoisie als auch des bürgerlichen Staates beschränken und attackieren – ohne dass sie als solche schon die so entstandene Doppelmachtsituation (betrieblich, sektoral oder national) aufheben könnten. Diese Maßnahmen und Forderungen (wie auch alle übrigen) müssen daher in eine Strategie eingebettet sein, die auf die Eroberung der gesamten Staatsmacht durch die Arbeiterklasse zielt und in ihr kulminiert.

Das methodische Problem und der Unterschied zwischen der Programmatik Trotzkis und jener der GAM dürften klar geworden sein. Während Trotzki ohne Ausnahme als Losung nur von der Verstaatlichung durch den proletarischen Staat bzw. im Zusammenhang mit der Ergreifung der Staatsmacht durch das Proletariat spricht und nirgends zur Verstaatlichung durch den bürgerlichen Staat aufruft, fordert die GAM aktiv die Verstaatlichung eines Betriebes durch den bürgerlichen Staat und koppelt diese Forderung mit der nach Arbeiterkontrolle.

Das Problem in der Position der GAM besteht darin, dass sie ein Modell vorschlägt, bei dem einerseits die Arbeiterklasse bzw. die Belegschaft und andererseits der bürgerliche Staat (als Agentur des Gesamtkapitals) zugleich als Eigentümer auftreten bzw. Eigentümer-Funktionen entweder rechtlich und/oder faktisch wahrnehmen. Doch kein Betrieb der Welt kann Diener zweier Herren sein – schon gar nicht auf Dauer. Letzteres ist allerdings auch der GAM bewusst, daher verweist sie korrekt darauf, dass diese betriebliche (wie jede andere) Doppelmacht sich letztlich im Zuge der Dynamik des Klassenkampfes auflöst – entweder wird das Proletariat die ganze Macht übernehmen und seine einzelnen Errungenschaften verallgemeinern oder aber das Kapital obsiegt und wird die Positionen der Arbeiterklasse wieder zerstören.

So richtig diese allgemeine Sicht, die strategische Auffassung der GAM auch ist – sie beantwortet nicht die konkrete taktische Frage des Widerspruchs der Verstaatlichung einzelner Unternehmen (oder Branchen) durch den bürgerlichen Staat unter kontrollierender „Assistenz“ des Proletariats bzw. beantwortet sie falsch.

Natürlich treffen hier gegensätzliche Klasseninteressen aufeinander und unterschiedliche Methoden zu deren Durchsetzung. Das ist unvermeidbar, es sei denn, das Proletariat verzichtet von vornherein auf alle eigenen Forderungen und Bemühungen und orientiert sich wie die Reformisten nur auf ein bürokratisches Managen von politischen und sozialen Konflikten im Rahmen des Systems und unter Ausnutzung seiner Spielregeln.

Die GAM geht insofern richtig an die Sache heran, als dass sie das Eigentums-Dilemma, das sich sofort ergibt, wenn z.B. ein Betrieb pleite ist und vor der Schließung steht, lösen will. Als privater Betrieb ist die Firma nicht weiterführbar, als Eigentum der Beschäftigten jedoch in der Regel auch nicht. Warum? Weil entweder der Staat dies – mit oder ohne Gewalt – verhindert oder aber die Beschäftigten schlecht beraten wären, einen bankrotten Betrieb (und damit auch dessen aktuelle oder zukünftige Schulden) zu übernehmen. So richtet sich der Blick auf den bürgerlichen Staat, als einziger Macht, die in dieser Situation – vermeintlich – etwas zugunsten der ArbeiterInnen unternehmen kann.

Forderungen an den Staat?

Dass die Arbeiterklasse Forderungen an den Staat stellt, ist weder verboten noch politisch oder moralisch verwerflich. Es kommt immer auf den konkreten Fall an. So können bestimmte Forderungen, z.B. nach Offenen Grenzen, nach einem Mindestlohn oder nach der Änderung von Gesetzen sowieso nur an den Staat gestellt werden, weil nur dieser als Gesetzgeber solche Forderungen überhaupt umsetzen kann (das macht den Klassenkampf darum, den Staat dazu zu zwingen, natürlich nicht obsolet).

Bei unserem Problem, der Verstaatlichung, verhält es sich so: Wir können nicht einerseits die ArbeiterInnen dazu auffordern, Eigentumsrechte wie Kontrollrechte oder gar die Überwachung und Organisation der Produktion bis hin zu Buchhaltung, Kauf, Verkauf, Investitionen usw. wahrzunehmen, um andererseits dem bürgerlichen Staat als Institution des Klassengegners gleichzeitig dieselben Aufgaben zu übertragen. Genau das bedeutet aber die Forderung nach Verstaatlichung: der Staat wird Eigentümer mit all dem, was ein solcher Eigentumstitel mit sich bringt. Die Forderung der GAM, dass trotz Verstaatlichung auch Arbeiterkontrolle nötig sei, verweist ja schon darauf, dass der bürgerliche Staat von sich aus nicht den Interessen der ArbeiterInnen dienen wird – wozu sonst noch die Arbeiterkontrolle?

Hier kann nun der Einwand kommen, dass ja auch Trotzki Arbeiterkontrolle, ja sogar die Selbstverwaltung für Betriebe fordert, die formell noch in Privathand sind. Doch der Unterschied besteht hier gerade darin, dass Trotzki eben nirgends fordert, dass der Betrieb in privater Hand bleiben soll, genauso wenig wie er fordert, dass der bürgerliche Staat ihn übernehmen soll.

Die völlig entgegengesetzten Interessen und Methoden der beiden Eigentümer Proletariat (Belegschaft) und bürgerlicher Staat würden entweder zum Chaos oder zur völligen gegenseitigen Blockade führen. Jedenfalls kann unter diesen Umständen kein Betrieb und keine Produktion funktionieren. Würden KommunistInnen einen solchen Eigentums-Dualismus selbst fordern, machten sie sich mitverantwortlich und mitschuldig an solchem Dilemma. Wer eine solche Losung vertritt, der fordert dazu auf, sich in eine Sackgasse zu begeben. Anstatt der Schaffung einer Machtposition des Proletariats, der Hebung des Bewusstseins und der Rettung der Arbeitsplätze und Einkommen bewirkt eine solche Politik nur Verwirrung und Enttäuschung der ArbeiterInnen – bevor die Niederlage eintritt. Sicher, man muss manchmal auch mit des Teufels Großmutter Geschäfte machen, doch das ist ein Handel, ein Deal, kein Ausverkauf oder ein Eigentumsrecht.

Der Fehler liegt nicht darin, überhaupt Forderungen an den Staat zu stellen, sondern darin, was von ihm gefordert wird. Wenn es falsch ist, den bürgerlichen Staat zum Eigentümer zu machen, so ist es durchaus nicht falsch, ihn dazu zu zwingen – und es wird ohne Zwang kaum abgehen -, Geld zu geben, um die Produktion weiterzuführen und die Arbeitsplätze zu erhalten. So wird diese Forderung an den Staat ja auch erhoben, um Beschäftigungsprogramme gegen die Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Natürlich wird der Staat das oft entweder überhaupt ablehnen oder bestimmte Bedingungen daran knüpfen, dass er „dem Unternehmen“ bzw. den Beschäftigten ein Darlehen oder einen Kredit in dieser oder jener Form gibt. Natürlich wird er immer versuchen, den ArbeiterInnen möglichst viele ihrer Rechte, ihres Einflusses und ihrer errungenen Positionen wieder abzunehmen. Da es hier direkt um die Eigentumsfrage geht – wer kontrolliert, wer bestimmt, wer trägt die Verantwortung, wer hat den Nutzen -, versteht der Staat im Großen wie jeder Unternehmer im Kleinen dabei keinen Spaß. Keine Drohung, kein Manöver, keinen Betrug und – wo nötig – keinen Gewaltakt wird er scheuen, um sich durchzusetzen.

Daher ist jeder Vorstoß der Arbeiterklasse in Richtung Kontrolle der Geschäftsunterlagen, Produktionskontrolle oder gar Enteignung völlig undenkbar, ohne dass es dafür erstens eine „besondere“, eine „krisenhafte“ Situation gibt, welche die Handlungsmöglichkeiten und den Handlungsdruck von Proletariat, Kapital und Staat stark verändert, und zweitens eine starke Mobilisierung der Klasse über den betroffenen Betrieb, ja über die Region und die Branche hinaus.

In solchen Situationen aber gibt es auch immer wieder Umstände, welche die Umsetzung solcher Forderungen begünstigen. So kann es z.B. das Interesse des Staates sein, einen Konflikt „auszutrocknen“ und zu befrieden, bevor die Flammen des Klassenkampfes auf andere Bereiche übergreifen. Es kann auch sein, dass Staat und Gesamtkapital ein Interesse an der Erhaltung und Weiterführung eines Unternehmens haben und dafür – vorübergehend – einige Forderungen der ArbeiterInnen akzeptieren. Fast immer gibt es auch das Interesse von Kommunen und lokalen Politikern, den „Standort“ zu erhalten, um Steuereinnahmen zu sichern und Popularität als „Retter“ der Arbeitsplätze zu erlangen.

Trotzki weist ganz klar darauf hin, dass es eine Doppelmacht auch auf betrieblicher Ebene – v.a. auf Dauer – nicht geben kann. Es ist eine alberne Vorstellung, dass die Beschäftigten gleichzeitig mit den Vertretern des bürgerlichen Staates die Produktion, die Investitionen usw. kontrollieren und bestimmen.

Trotzki schreibt zur Frage der Arbeiterkontrolle: „Kein Beamter des bürgerlichen Staates kann diese Aufgabe durchführen, welche Vollmachten man ihm auch geben mag. (…) Um den Widerstand der Arbeiter zu brechen, bedarf es des Drucks von Seiten des Proletariats. Die Fabrikkomitees, und nur sie, können eine wirkliche Kontrolle über die Produktion garantieren, indem sie die ehrlichen und dem Volk ergebenen Fachleute – als Berater und nicht als „Technokraten“ – heranziehen: Buchhalter, Statistiker, Ingenieure, Wissenschaftler usw.“

Interessant ist hier, dass Trotzki dem bürgerlichen Staat noch nicht einmal zutraut, eine effektive Kontrolle (schon gar nicht im Interesse der ArbeiterInnen) auszuüben. Wie sollte er dann gar eine Rolle als Eigentümer „effektiv“ ausüben?!

Bemerkenswert ist hier auch, dass die Arbeiterkontrolle hier von Trotzki an das Fabrikkomitee gebunden wird, d.h. dass sie letztlich nur funktionieren kann, wenn die in einer besonderen Rätestruktur organisierten Beschäftigten praktisch die Macht im Betrieb haben. Von einer „Teilung der Macht“, von Doppelmacht – umso mehr im langfristigen Sinn, im Sinn von „Mitbestimmung“ – im Betrieb ist bei Trotzki nicht die Rede. Wo er von Arbeiterkontrolle im Sinne der Kontrolle der Bücher und/oder der Produktion – also einer „Gegenmacht“ zur Kontrolle durch den Kapitalisten – spricht, koppelt er diese Forderung gerade nicht an eine Verstaatlichung durch den bürgerlichen Staat.

Natürlich gibt es mitunter den Fall, dass ein privates Unternehmen verstaatlicht wird. RevolutionärInnen können dazu grundsätzlich zwei mögliche Positionen einnehmen. Erstens: sie „akzeptieren“ diese bürgerliche Verstaatlichung – in dem Sinn, dass sie nicht dagegen sind, weil es momentan keine andere realistische oder sinnvolle Lösung für das Proletariat gibt. Unter diesen Umständen müssen u.a. folgende Forderungen erhoben werden: Keine Entschädigung!, Verhinderung von Arbeitslosigkeit!, Keine Verschlechterungen der Lage der Beschäftigten (Löhne, Tarife usw.)!, Arbeiterkontrolle über Geschäftsunterlagen und Produktion und Bildung entsprechender Gremien der Belegschaft!

Oder zweitens: ist es sinnvoll und möglich, den Betrieb unter Arbeiterkontrolle und als Eigentum der Belegschaft weiter zu führen, muss das gefordert und dafür gekämpft werden. Dazu ist es nötig, ein Betriebskomitee zur Leitung der Produktion und der Aktion der Belegschaft (in Verbindung mit unterstützenden Aktionen anderer Sektoren der gesamten Klasse) zu etablieren.

Im ersten Fall ist der bürgerliche Staat Eigentümer, im zweiten das Proletariat, genauer: die Belegschaft. Natürlich stellt auch der zweite Fall nur eine Episode, einen vorübergehenden Zustand dar und nicht das „Endziel“. Es wird letztlich immer darum gehen, die Errungenschaft des Proletariats, Eigentümerin der Produktionsmittel (auf der Ebene eines Betriebes) zu sein, zu verteidigen. In der Regel werden Staat und Kapital – oder die nächste Krise – diese Errungenschaften der ArbeiterInnen früher oder später wieder schleifen. Letztlich kann nur die Revolution diese Frage grundsätzlich und auf Dauer zugunsten der ArbeiterInnenklasse lösen. Doch selbst im Fall einer Niederlage wird diese Episode eine sehr gute und sehr konkrete Lehre für die Klasse und die einzelnen ArbeiterInnen sein.

Es ist klar, dass, wenn die Belegschaft als Eigentümer fungiert, der Betrieb dann zunächst einmal deren Kollektiveigentum ist. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Unternehmen sich – zumindest teilweise – in Konkurrenz zu anderen befindet und den bürgerlichen ökonomischen Mechanismen unterworfen ist. Letztlich verhält es sich jedoch hier wie bei allen Klassenkampfaktionen: sie alle sind nur Episoden, Teilergebnisse, Kompromisse und von temporärem Charakter. Trotzdem ist es unumgänglich, dass das Proletariat für diese „Halbheiten“ kämpft, weil es sonst außerstande wäre, sein Niveau an Bewusstsein und Organisation zu steigern und jene Erfahrungen zu sammeln, die es in die Lage versetzt, den Kapitalismus zu stürzen und den Kommunismus aufzubauen.

Wenn man, wie die GAM, jedoch grundsätzlich immer die (bürgerliche) Verstaatlichung fordert, dann geht das notwendigerweise zu Lasten der Orientierung auf die Selbsttätigkeit und Selbstorganisation der Klasse und stärkt die Illusionen in den bürgerlichen Staat. (Wir werden an anderer Stelle zeigen, welch grundsätzlich einseitige, ja falsche Auffassung vom Staat seit der II. Internationale zur omnipräsenten „offiziellen“ Auffassung dieses Stranges der Linken und der Arbeiterbewegung wurde, dem zugrunde  liegt.)

Gerade die fatalen Erfahrungen mit den Parteien der II. Internationale, aber auch der Politik des Bolschewismus nach 1917 (und umso mehr später des Stalinismus) zeigen, wohin es führt, wenn es  „MarxistInnen“ vor lauter Staatsfetischisierung versäumen, die Selbstorganisation der Klasse als Grundlage jeder emanzipatorischen Politik zu unterschätzen oder gar zu unterdrücken.

Schlussfolgerungen

Es ist falsch, wenn RevolutionärInnen die Verstaatlichung durch den bürgerlichen Staat fordern. Falls eine solche „sinnvoll“, d.h. keine andere Lösung möglich ist, z.B. wenn ein Betrieb pleite ist oder nicht konkurrenzfähig und daher die Übernahme des Unternehmens durch die Beschäftigten nicht realistisch ist (was durch die Arbeiterkontrolle über die Geschäftsunterlagen festgestellt werden kann) oder mitunter auch der private Eigentümer sein Recht nicht praktisch wahrnimmt, so kann u.U. die bürgerliche Verstaatlichung das kleinere Übel (gegenüber der Schließung und dem Verlust der Arbeitsplätze) sein und kann als solche „akzeptiert“ werden. Unter bestimmten Umständen kann selbst die Schließung eines Betriebes eine sinnvolle Lösung sein, dann muss aber ein öffentliches Beschäftigungs- bzw. Umschulungsprogramm gefordert werden, damit die Betroffenen nicht ins soziale Abseits geraten und soziale Verschlechterungen für die Belegschaft ausgeschlossen oder wenigstens gelindert werden. Damit verbunden muss die Arbeiterkontrolle über diese Maßnahmen und deren Finanzierung durch die progressive Besteuerung des Kapitals gefordert werden.

In allen anderen Fällen, wenn die Übernahme des Betriebes durch die ArbeiterInnen sinnvoll ist, sollen die ArbeiterInnen selbst zu EigentümerInnen werden. Der bürgerliche Staat darf dabei nur eine Rolle spielen – die des Finanziers, nicht die des (Co)Eigentümers.

Die von der GAM immer wieder vertretene Forderung nach „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“ bewegt sich, wie wir gezeigt haben, weder auf der Methode des Übergangsprogramms Trotzkis noch taucht sie dort auf. Sie muss abgelehnt werden, weil sie der Strategie der Ermächtigung der Arbeiterklasse zuwider läuft bzw. einen utopischen Kompromiss zwischen dieser Intention und dem Zugriff des bürgerlichen Staates versucht. Anstatt das Proletariat darauf zu orientieren, ohne und gegen Kapital und bürgerlichen Staat die Produktion wie die gesamte Gesellschaft zu organisieren, werden Illusionen in das Eingreifen des bürgerlichen Staates geweckt und dessen Eingreifen auf eine Art und Weise – eben als Eigentümer – gefordert, die dem Selbstbestimmungsstreben der Klasse diametral entgegengesetzt ist.

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