Hannah Behrendt
Der 8. Mai 1945 gilt als Tag der Befreiung vom Faschismus und markiert das Ende des 2. Weltkriegs in Europa (in Asien dauerte er noch bis zum August 1945). In aller Welt wird er nicht nur als Tag begangen, an dem der bisher mörderischste Krieg, der ca. 50 Millionen Opfer forderte, beendet wurde; der 8. Mai wird auch als Tag der Befreiung vom Faschismus gefeiert.
„Gedenken“ als Teil westlich-imperialistischer Politik
Schon vor dem 8. Mai gab es in Deutschland und der EU erhebliche Friktionen zu diesem Tag. Bereits im Sommer 2019 wurde Russlands Präsident Putin von den Feierlichkeiten anlässlich der Landung der Westalliierten in der Normandie zur Eröffnung der Zweiten Front 1944 ausgeladen. Dasselbe unwürdige Spiel wiederholte sich am 27.1.20 bei der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz, auch da war Putin nicht erwünscht. Nun geht es dabei nicht so sehr um Putin, sondern um die Gefühle der Russen bzw. der Völker der ehemaligen UdSSR, welche die „Ausladung“ des Repräsentanten Russlands als Beleidigung und Verhöhnung ihrer Opfer bei der Niederschlagung des Faschismus verstehen mussten.
Bundespräsident Steinmeier (SPD) entblödete sich nicht, anlässlich der Befreiung von Auschwitz extra zu betonen, dass es die 1. Ukrainische (!) Front war, die diese erkämpft hat. Doch das war nur die Bezeichnung dieses Teils der Roten Armee, die aber durchaus keine Einheit von Ukrainern war. Hier erweist sich Steinmeier (wie schon früher als Außenminister) nicht als netter diplomatischer „Grüßonkel“ der deutschen Politik, sondern als Vertreter der imperialen deutschen Außenpolitik, der die Geschichte schon Mal deren Raster anpasst. Anders als noch unter Schröder (SPD), der um ein gutes Verhältnis zu Russland bemüht war und mitunter auf Distanz zu den imperialen Kriegsabenteuern der USA ging (Irak), haben sich die Regierungen unter Merkel mit einer bemerkenswerten außenpolitischer Kurzsichtigkeit an die Seite der USA gestellt, als diese begannen, die NATO nach Osten auszuweiten und die Ukraine-Krise zu „inszenieren“. Die „friedliebenden“ deutschen PolitikerInnen – mir Ausnahme der LINKEN und der AfD – nahmen dafür sogar in Kauf, dass der Ukraine-Konflikt zum europäischen Krieg eskalieren könnte.
Bisher gibt es keine Pläne der deutschen Politik, den 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus offiziell angemessen zu würdigen. Das ist umso bezeichnender, als in den letzten Monaten und Jahren immer wieder die Zunahme rechter und neofaschistischer Aktivitäten beklagt wurde. Dass es sich dabei von offizieller Seite weitgehend um Heuchelei handelt, zeigt z.B. der Beschluss, dem Verein der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), der 1947 von Holocaust-Überlebenden gegründet wurde, die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Gleichzeitig erhalten Nazikriegsverbrecher bzw. deren Erben hohe Renten und Entschädigungen für ihre treuen Dienste für den Nazistaat, während die Opfer (JüdInnen, KZ-Insassen, ZwangsarbeiterInnen, Sinti und Roma u.a.) meist keine Entschädigung erhielten oder diese so lange verzögert wurde, bis Gras über deren Gräber gewachsen war.
Diese „indifferente“ Haltung zum Faschismus und seinem Erbe prägt das Establishment der BRD (und der westlichen Alliierten) aber schon seit 1945. Denken wir nur an die Übernahme vieler Nazi-Verbrecher und Nazifunktionäre in den Staatsapparat. Oder denken wir an die Ehrung der SS-Mörder in Bitburg durch Kanzler Kohl und den US-Präsidenten Reagan.
All das zeigt, dass die BRD sich einerseits zwar von der Politik und dem Regime Hitlers distanziert, weil es zutiefst diskreditiert ist, ein terroristisches Regine nach 1945 bisher zur Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitals nicht notwendig war und Deutschland statt auf eine Strategie der Herrschaft auf „Integration“, die Schaffung eines imperialistischen EU-Blocks abzielt; andererseits aber nur die aktuelle Variante und die Erbin des alten deutschen Imperialismus darstellt. Letztlich beruht die Bundesrepublik genauso wie der Faschismus auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Herrschaft der Bourgeoisie, auch wenn diese aktuell die Form einer Demokratie hat.
Was von all dem anti-faschistisch-humanistisch-friedlichen Gehabe der offiziellen Politik zu halten ist, zeigt sich aktuell u.a. daran, dass man sich seit Monaten weigert, auch nur ein paar Dutzend Flüchtlingskinder, die in Lagern in Griechenland dahin vegetieren, aufzunehmen – obwohl viele Städte schon lange ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Kinder erklärt haben.
Wie sagte doch einst Max Horkheimer? „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“
Die These von der Kollektivschuld
Ein schon seit Kriegsende eifrig gepflegter Mythos ist der von der „Kollektivschuld der Deutschen“. Diese These suggeriert, dass es einen besonders reaktionären, für den Faschismus besonders anfälligen Charakterzug „der Deutschen“ gebe und alle Deutschen schuldig wären. Das ist aber Unsinn, denn der Faschismus bzw. ihm ähnliche Bewegungen und faschistoide Methoden der Politik gab es fast in allen (imperialistischen) Ländern, nicht nur in Deutschland. Wo ist das Land, in dem es nie Terror gegen Linke, gegen die Arbeiterbewegung und Oppositionelle gab? Wodurch unterscheidet sich die brutale rassistische Kolonialpolitik etwa der Briten von den Eroberungszügen der Nazis? Der Regisseur Quentin Tarantino hat völlig recht, als er in einem Interview in der Berliner Zeitung vom 17.1.13 feststellte: „Die Sklaverei war ein Holocaust – und zwar einer, der 245 Jahre andauert. Genauso wie die Ausmerzung der amerikanischen Ureinwohner ein Holocaust war, nicht weniger schlimm als der Holocaust im Zweiten Weltkrieg oder der Völkermord an den Armeniern. Natürlich hat jedes dieser schrecklichen Ereignisse seine ganz eigene, nicht vergleichbare Geschichte. Aber letztlich ging es in allen Fällen um rassistisch motivierten Völkermord.“
Es waren die spezifischen Bedingungen Deutschlands nach 1918 (Versailler Diktat, Niederlage der Novemberrevolution, Weltwirtschaftskrise) und das Versagen der Führungen der deutschen Arbeiterbewegung (SPD, KPD, ADGB), die zur Machtergreifung der Nazis führten und es Hitler erlaubten, zum Exekutor der expansiven Pläne der deutschen Kapitalisten zu werden. Nicht „die Deutschen“ haben Hitler gewählt und an die Macht gehievt. Der Faschismus war im Kern eine reaktionäre Kleinbürgerbewegung. Trotzki schrieb 1933: „Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammen pressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums.“
Die Mehrheit der Arbeiterklasse hat nie die Nazis gewählt, im Gegenteil: sie – ihre Organisationen und FunktionärInnen – waren die ersten Opfer des Naziterrors. Die „Kollektivschuldthese“, die leider auch von vielen Linken geteilt wird, dient dazu, die wirklichen Schuldigen und deren Hintermänner in den Konzernzentralen und die im kapitalistischen System liegenden tieferen Wurzeln des Faschismus aus der Schusslinie zu nehmen. Zudem wurde die System-Alternative Kapitalismus oder Sozialismus (im Westen) durch die Alternative Diktatur vs. Demokratie ersetzt. Das diente direkt der Re-Etablierung des westdeutschen Imperialismus nach 1945. In Ostdeutschland bzw. der DDR wiederum diente die Kollektivschuldthese der Unterordnung unter das Diktat Moskaus und die Etablierung einer staatskapitalistischen Ordnung.
Selbst heute noch spielt das Argument von der Kollektivschuld eine Rolle, um eine „Einigkeit aller Demokraten“ über Klassengrenzen hinweg zu suggerieren. Es dient auch als ideologischer Hintergrund für die kritiklose Unterstützung der reaktionären Politik Israels durch die BRD oder wenn große Teile der Antifa in Dresden fordern: „Bomber Harris do it again!“, weil ja die deutschen Zivilisten den Bombenterror verdient hätten.
Befreiung – wovon?
Die Niederlage des Faschismus und die Beendigung des Krieges stellten eine Erlösung für die Menschheit dar; sie waren zugleich eine Chance für die Arbeiterbewegung in vielen Ländern, nach den faschistischen Besatzern auch gleich die einheimischen Ausbeuter und Unterdrücker zu entsorgen. In ganz Osteuropa und selbst in Deutschland gab es ein solches Bedürfnis, den grundsätzlich in Misskredit geratenen Kapitalismus zu beseitigen und die Schwäche des bürgerlichen Staatsapparats auszunutzen. Doch warum kam es nicht zur Überwindung des Kapitalismus – etwa in Italien und Frankreich, wo es eine starke (und tw. bewaffnete) Arbeiterbewegung gab? Und warum wurde in Osteuropa und in Ostdeutschland zwar das Privateigentum abgeschafft, jedoch nur, um ein staatskapitalistisches System nach dem Vorbild Moskaus zu etablieren?
Die Antwort ist einfach: die Führungen der Arbeiterbewegungen, die Sozialdemokratie und die stalinisierten „kommunistischen“ Parteien wollten zwar den Faschismus ausmerzen, nicht jedoch den Kapitalismus. Die von ihnen praktizierte Volksfrontpolitik zielte auf den Wiederaufbau und die Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung – ob in der privatkapitalistischen oder der staatskapitalistischen Variante. Alle Ansätze und Versuche der Arbeiterklasse, die Betriebe und die gesamte Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen, wurden von „ihren“ Organisationen entweder nicht auf die Tagesordnung gesetzt oder behindert bzw. zerschlagen. In Osteuropa erfolgte das v.a. durch die Verstaatlichungen. Am markantesten war dieser Prozess in Ostdeutschland, wo die UdSSR sich einen Großteil der Industrie direkt in Form der SAGs (Sowjetische Aktiengesellschaften) einverleibt hat, und in Tschechien, wo die ArbeiterInnen große Teile der Wirtschaft selbstverwaltet führten. Aber gerade in dem Moment, als die tschechischen ArbeiterInnen daran gingen, die einzelnen Betriebe zu vernetzen und eine „Planwirtschaft“ zu etablieren, wurden sie als EigentümerInnen enteignet und ihre Betriebe verstaatlicht. Grundlage dieser bürokratischen Umwälzungen in Osteuropa war die Herrschaft des Stalinismus in Gestalt der Roten Armee und des von den Stalinisten kontrollierten Sicherheitsapparates.
Die Befreiung vom Faschismus war also zugleich mit der Sicherung des Kapitalismus und der Verhinderung einer sozialistischen Entwicklung verbunden. Die Erschütterung des (europäischen) Kapitalismus 1944/45 war bis Ende der 1940er Jahre durch die Etablierung der bi-polaren Nachkriegsordnung des „Kalten Kriegs“ beendet worden. Zwei Formen von Kapitalismus standen sich von nun an feindlich gegenüber. Obwohl sich der Ostblock als „sozialistisch“ verstand, war er in Wahrheit Staatskapitalismus, der aber für den Westen trotzdem eine grundsätzliche Bedrohung darstellte, weil er mit der Abschaffung des Privateigentums verbunden war. Erst 1989/90 endete der Kalte Krieg mit dem Sturz der maroden stalinistischen Regime durch die anti-bürokratischen Massenbewegungen.
Weitgehend ausgeblendet wird bei den Ehrungen zum 8. Mai auch, dass der 2. Weltkrieg bzw. seine militärischen „Vorspiele“ sehr verschiedene Konflikte beinhaltet: inner-imperialistische Konflikte um Einfluss, Kämpfe gegen koloniale Unterdrückung (Abessinien 1934), Kriege zur Niederschlagung von Revolutionen (Spanien 1936-39) und den Konflikt zwischen Faschismus/Imperialismus und der staatskapitalistischen UdSSR, die als „kommunistisch“ hingestellt wird.
Dies alles – die Systemfrage Kapitalismus vs. Kommunismus, Bourgeoisie vs, Proletariat, die Verantwortung der Bourgeoisie für Krieg, Faschismus und Holocaust – wird in den Zeremonien zum 75. Jahrestag ausgeblendet. „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ wird allenthalben mit ernster Mine beschworen. Doch wir sagen mit Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch,aus dem das kroch.“