Regieren oder Opponieren?

Hannah Behrendt

Die dramatischen Verluste der LINKEN bei der Bundestagswahl werfen erneut die Frage auf, ob die politische Strategie der LINKEN richtig ist. Sicher spielen für die herben Stimmverluste verschiedene Faktoren eine Rolle, etwa der Dauerclinch zwischen den Flügeln, v.a. zwischen dem Duo Wagenknecht/Lafontaine und den Führungsgremien, oder der taktisch motivierten Abwanderung von Wählern zu SPD und Grünen, um einen Wechsel zu Rot/Grün zu sichern. Doch selbst diese Faktoren sind letztlich nur Ausdruck der reformistischen Strategie der Linkspartei. Das zeigt sich u.a. daran, dass die LINKE v.a. dort verliert, wo sie mitregiert.

Regierungsbilanz

Seitdem die LINKE bzw. davor die PDS sich an Landesregierungen beteiligt, zeigt sich immer derselbe Effekt: sie verliert an Unterstützung. Aktuell stellt sie in Thüringen mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten und regiert in Berlin mit SPD und Grünen. In Thüringen verlor sie 5,4% – ca. ein Drittel der Stimmen, in Berlin büßte sie 6% ein. Auch bei den zeitgleich stattfindenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus verlor die LINKE 1,6%. Das Berliner Ergebnis ist v.a. deshalb so fatal, weil es hier einen klaren Linkstrend gab, sowohl bei der Landtags- als auch bei der Bundestagswahl. Das zeigt auch die klare Zustimmung von 56% zum Volksbegehren der Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ (DWE). Wenn die LINKE selbst dann nicht vom Trend profitiert, zeigt das, wie wenig sie als Alternative wahrgenommen wird.

Egal, wo die LINKE je mitregiert hat: nie und nirgends hat sie an der Ausrichtung der Regierungspolitik etwas signifikant ändern können – ganz egal, ob sie das überhaupt wollte oder nicht. Berlin, wo die LINKE seit 2001 fast immer im Senat vertreten war, ist ein besonders krasses Beispiel für Misswirtschaft und politisches Versagen. Einige Stichworte sollen genügen: Flughafen, Wohnungsmisere, Bildungsprobleme, Gentrifizierung, zunehmendes Verkehrschaos, unproduktive Verwaltung usw. Kein anderes Bundesland wird so schlecht regiert wie Berlin. Oft sind die Maßnahmen des Senats und der Bezirke derart absurd – gleichwohl trotzdem immer sehr teuer -, dass man kaum glauben kann, dass normal denkende Menschen sich diese ausgedacht haben.

Doch diese Misere zeigt nicht nur, wohin es führt, einer abgehobenen Politiker- und Bürokratenkaste, hinter der diverse kommerzielle Interessengruppen stehen, das Feld zu überlassen. Viel mehr noch wird daran deutlich, dass eine Regierung nicht machen kann, was sie will, d.h. von der jeweils dominanten Partei nach ihrem gusto bestimmt werden kann, sondern vielmehr in ein recht enges Korsett eingebunden ist. Dieses besteht aus den Interessen und der Macht verschiedener Fraktionen des Kapitals, aus dem Rechtssystem, aus der Eigendynamik der Verwaltungsbürokratie usw. Dieser Interessen-Dschungel dient zuerst den Interessen des Kapitals, aber auch dazu, die Einflussnahme der Bevölkerung und bes. der Arbeiterklasse als Hauptproduzenten und -konsumenten zu minimieren.

Angesichts dessen muss man es mindestens als höchst naiv bezeichnen, anzunehmen, man könne linke oder gar sozialistische Politik wenigstens partiell durch das Mitregieren umsetzen. Allenfalls setzt man gewisse soziale Maßnahmen um, die aber letztlich immer nur durch Verschiebungen innerhalb des staatlichen Budgets ermöglicht werden. So wurde z.B. in Berlin ein relativ günstiges Sozialticket für den ÖPNV finanziert – um dafür aber andere soziale Ausgaben zu kürzen. Der Volksmund nennt das „Ringelpietz mit Anfassen“.

Beispiele

Beispiel Flüchtlingspolitik: Sicher war es richtig, 2015/16 rund anderthalb Millionen Flüchtlinge aufzunehmen (ohne deshalb zu glauben, dass es so Jahr für Jahr weitergehen könnte). Doch wer bezahlt die Integration der Geflüchteten?! Schon über die realen Kosten werden wir weitgehend im Unklaren gelassen. Haben die LINKE oder die Grünen je gefordert, dass diese Kosten komplett von den Reichen und vom Kapital getragen werden sollen? Nein! So werden diese Kosten, die etwa 20 Milliarden Euro jährlich für mindestens zwei Jahre „Eingliederungszeit“ betragen, von der Bevölkerung bezahlt und fehlen dann für andere soziale Aufgaben. Es wäre nur recht und billig, die Bourgeoisie bezahlen zum lassen, die letztlich für die Probleme dieser Welt verantwortlich ist.

Ein anderes Beispiel aus Berlin: der Mietendeckel wurde zwar in Berlin von Rot/Rot/Grün beschlossen, aber vom Bundesverfassungsgericht gekippt, weil er nicht verfassungskonform wäre. So würde es aber auch bei jeder anderen Maßnahme sein, ganz zu schweigen von wirklich grundsätzlichen Eingriffen in das System. Oder das Problem DWE. Natürlich könnte man praktisch die Immobilienkonzerne in Berlin enteignen oder einen Mietboykott umsetzen, doch das wäre verfassungswidrig, der Staatsapparat und die Bundesregierung würden dabei nicht mitspielen (Stichwort: Notstandsgesetze). Daraus folgt: entweder sind solche „systemsprengenden“ Maßnahmen unmöglich oder aber man brauchte zu deren Umsetzung eine starke klassenkämpferische Mobilisierung. Letztere aber ist von den Reformisten der LINKEN, der SPD und den Grünen nicht gewollt, weil sie tendenziell über den Rahmen der Spielregeln des Kapitalismus hinausgehen (könnten).

So schwankt die Politik des Reformismus immer zwischen dem Wecken von Illusionen, wenn er in der Opposition ist, und deren Enttäuschung, wenn er selbst regiert. Mit diesem „Ein Schritt vorwärts, ein Schritt zurück“ geht jedoch nichts voran, geschweige denn kommt man so zum Sozialismus oder auch nur zu einem sozialeren Kapitalismus. Wenn es partielle Verbesserungen im Kapitalismus (v.a. in den Metropolen) gab, so waren diese Ergebnis von inneren Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise (z.B. das Bildungssystem), Folge von Krisen und Kriegen (langer Nachkriegsboom) oder/und dem Klassenkampf des Proletariats, das dem Kapital Zugeständnisse abtrotzte.

Was heißt Regieren?

Natürlich haben die Reformisten recht, wenn sie sagen, dass man regieren müsse, um etwas verändern zu können. Weil sie die Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft ohnehin akzeptieren, stört sie der – von uns oben skizzierte – enge Handlungsrahmen nicht weiter. Wer aber, wie die LINKE, wenigstens „allgemein“ einen sozialistischen Anspruch hat, dem dürfte ein solches Prokrustesbett nicht genügen. Dazu kommt noch, dass jede Koalition mit rein bürgerlichen Parteien, die keine organische Verbindung zur Arbeiterklasse haben wie die Grünen oder gar die FDP, noch zusätzliche Rücksichten erfordert. Würde sich die LINKE auf die Organisierung von Klassenkampf, auf die Schaffung von „Basisstrukturen“ oder einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsopposition orientieren, hätte ihre Politik eine ganz andere soziale Schlagkraft. Doch damit würde sie zugleich auch als Koalitionspartner nicht mehr in Frage kommen.

Entscheidend ist die Frage, welchen Klassencharakter eine Regierung hat und auf welche Klasse sie sich stützt. Diese Frage stellt die LINKE aus guten Gründen aber nie. Ansonsten müsste sie nämlich eingestehen, dass jede Regierung nur eine bürgerliche Regierung, eine Regierung im Interesse und von Gnaden des Kapitals sein kann, die deren Spielregeln einhält. Beispiel Eigentum. Das Grundgesetz enthält zwar keinen Passus, der das Privateigentum fordert, aber es schließt sehr wohl dessen (entschädigungslose) Enteignung aus.

Angesichts dieser Umstände dürfte klar sein, dass eine Regierungsbeteiligung für Linke nicht infrage kommen dürfte. Allerdings ist nicht jede Regierung ausgeschlossen. Es ist sehr wohl möglich, ja sogar notwendig, sich an einer Regierung zu beteiligen (oder sie selbst zu stellen), wenn sie a) nur aus Arbeiterparteien besteht, sich b) wesentlich auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse und Rätestrukturen stützt und c) ein klar antikapitalistisches Programm praktisch umsetzen will. Das wäre eine revolutionäre Arbeiterregierung. Es wäre sogar denkbar, eine Arbeiterregierung mit einer Partei zu bilden, die nur eine linksreformistische oder zentristische Ausrichtung hat – wenn man selbst diese von links unter Druck setzt und sich ihr nicht anpasst. Solche Regierungen gab es in Deutschland z.B. Anfang der 1920er in Gestalt der „Arbeiterregierungen“ in Sachsen und Thüringen. Das war allerdings eine Phase zugespitzten Klassenkampfes und es gab eine damals noch revolutionär orientierte KPD.

Was heißt Opposition?

Die Refomisten, aber auch viele „Revolutionäre“, stellen es immer so dar, als wären Reform und Revolution zwei entgegengesetzte Dinge. Das ist aber Unsinn. Der Fehler am Reformismus besteht nicht darin, dass er für Reformen, für konkrete Verbesserungen des Lebens der Massen eintritt, sondern in Folgendem: 1. tritt er oft gar nicht für Reformen ein oder setzt sogar selbst reaktionäre Projekte, z.B. die Hartz-“Reformen“ – um; 2. organisiert und mobilisiert er nicht die Klasse zur Durchsetzung der Reformen, sondern ordnet es der politischen Kungelei mit Koalitionspartnern, Staat und Kapital von vornherein, d.h. nicht nicht als Ergebnis eines Kompromisses im Klassenkampf, unter und blockiert die demokratische Selbstorganisation durch die Unterordnung unter einen bürokratischen Apparat und die Anerkennung bürgerlicher Verfahrensweisen (Sozialpartnerschaft, Friedenspflicht, keine politischen und Generalstreiks usw.). 3. schließlich begrenzt der Reformismus jeden Kampf, jeden Konflikt und blockiert jede das System sprengende Dynamik.

Das zeigte sich auch jüngst im Verhalten der LINKEN etwa zur Bewegung DWE, zu der nicht sie die Initiative ergriffen hat, sondern eine Handvoll Linksradikaler; wo nicht sie die Bewegung voran brachte, sondern eher mitschwamm. Davon ganz abgesehen, dass sie selbst das Wohnungsproblem in Berlin durch die massenhafte Privatisierung mitgeschaffen hat. Das zeigte sich auch beim GDL-Streik. Anstatt ihn massiv zu unterstützen und zugleich politisch voranzutreiben, meinte LINKEN-Chef Bartsch, der Staat solle dafür sorgen, dass der Streik beendet wird – was nichts anderes ist als ein indirekter Streikbruch. Das zeigt sich auch bezüglich der Probleme im Pflegebereich (Vivantes, Charitee), wo sie einerseits für Verbesserungen eintritt, aber zugleich als mitregierende Partei im Berliner Senat die Kosten „im Rahmen halten“ will.

Viele „radikale Linke“ wiederum sehen den Kampf um Reformen eher als Ablenkung von der Revolution oder als bürgerliche Falle und folgen dem Prinzip „Alles oder nichts“. Die historische Erfahrung zeigt jedoch, dass nicht nur eine Revolution auch mit reformerischen Forderungen geführt wird und es keine revolutionäre Massenorganisation geben kann, wenn diese sich nicht am Kampf für Reformen beteiligt – und zwar konsequenter und engagierter als die Reformisten selbst.

Warum sollten sich Menschen für eine revolutionäre Organisation entscheiden, die nicht einmal in der Lage ist, einen ganz normalen Streik voranzutreiben? Wie soll eine revolutionäre Minderheit (sie ist immer eine Minderheit, auch wenn sie mitunter eine Mehrheit anführt) ihre Politik heute wirksam verbreiten, wenn sie nicht in den Massenmedien, z.B. in Talkshows, präsent ist? Das kann sie aber nur, wenn sie im Parlament vertreten ist, wofür sie sich an Wahlen beteiligen muss. „Linksradikale“, die Wahlen, die die Ausnutzung und Ausweitung der Demokratie ablehnen, sind weltfremde Spinner, die keine Ahnung von politischer Taktik haben. Ihr Kommunismus ist eine abstrakte Idee, keine reale soziale Praxis.

Doch der Kern einer Opposition zum Kapitalismus ist für Marxisten durchaus nicht der Parlamentarismus, sondern der Aufbau selbstverwalteter proletarischer Strukturen. Dazu gehört die Partei genauso wie Gewerkschaften bzw. der Kampf in ihnen für eine demokratische Struktur und eine klassenkämpferische Orientierung. Dazu gehört die Schaffung von Kontrollorganen der Klasse, eigener Medienpräsenz und von genossenschaftlichen Strukturen. Grundlage all dessen ist eine wissenschaftlich fundierte revolutionäre Politik. Nur dann, wenn alle diese Faktoren berücksichtigt und entwickelt werden, wenn all diese Frontabschnitte im Klassenkrieg besetzt sind, ist ein Sieg möglich. Nicht eine einzige dieser Aufgaben wird von der LINKEN ernsthaft angegangen. Die Quittung dafür erhält sie nun schon seit drei Jahrzehnten. Sie kommt zu dem enormen Stapel uneingelöster Wechsel auf den Sozialismus, den die Sozialdemokratie seit über 100 Jahren angehäuft hat.

Neue Arbeiterpartei

Die Stagnation bzw. der Niedergang der LINKEN ist kein Ergebnis taktischer Fehler oder von falschem Personal. Sie resultieren vielmehr aus einer falschen Strategie: aus dem Reformismus. Die Ablehnung von Klassenkampf, der demokratischen Selbstorganisation des Proletariats und der Massen, der Revolution sowie die Orientierung auf den Staat sind die zentralen Gemeinsamkeiten von Stalinismus und Sozialdemokratie. So lange die LINKE diesen Vorstellungen folgt – und da ist sie eben nicht reformierbar – wird sich die Malaise der LINKEN fortsetzen.

Doch anstatt, wie etliche „radikale“ Linke in der und um die Linkspartei, darauf zu hoffen, dass diese nach links gedrängt werden könne, müssen die Anstrengungen darauf konzentriert werden, den Prozess des Aufbaus einer neuen revolutionären Arbeiterpartei voran zu bringen. Das ist die zentrale Aufgabe der Linken in Deutschland!

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