Positionen zum Schulsystem

Hannah Behrendt

Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise wurde es notwendig, dass auch die Arbeiterklasse über eine mehr oder weniger fundierte Bildung verfügt, um den Anforderungen von Wissenschaft und Technik in Produktion und Gesellschaft gerecht zu werden. So entstand ein allgemeines Bildungssystem, zu dem wesentlich auch der Bereich der Schule gehört. Die schulische Ausbildung der künftigen Lohnarbeiter und Spezialisten obliegt fast ausschließlich dem staatlichen Bildungssystem, da die Bourgeoisie diese Aufgabe nicht direkt übernehmen will bzw. kann.

Das derzeitige Schulsystem in Deutschland ist u.a. dadurch gekennzeichnet,

  • dass es überwiegend dem Staat untersteht (staatliche, aber auch Schulen privater oder institutioneller Träger), der Inhalte und Formen der Bildungsvermittlung bestimmt;
  • dass es in sich differenziert ist (mehrgliedriges Schulsystem);
  • dass das vermittelte Wissen – adäquat der Arbeit im Kapitalismus – einen Doppelcharakter hat: einerseits notwendiges Wissen und Fähigkeiten zur Meisterung des Lebens, andererseits bürgerliche Ideologie (Normen, Rechtfertigung des Kapitalismus, „Untertanengeist“ usw.);
  • dass das Ziel von Schule einerseits die ideelle Reproduktion der Lohnarbeiterklasse und andererseits die „Züchtung“ einer Minderheit zur akademisch-intellektuellen Elite (lohnabhängige Mittelschicht) als Teil des Herrschaftsapparats ist.

Bessere Bildung für das Proletariat war immer ein wichtiges Ziel der Arbeiterbewegung, um den Wert (und die Chancen) der Ware Arbeitskraft zu erhöhen und die soziale und politische Subjektwerdung der Arbeiterklasse zu fördern. Mehr Bildung ist im Kapitalismus ambivalent: sie bedeutet mehr Indoktrination, v.a. bei der „höheren Bildung“, aber auch mehr Wissen, weiteren geistigen Horizont und größere geistige Fähigkeiten, um die Gesellschaft verstehen und verändern zu können.

Daraus ergibt sich, dass eine Verbesserung des Schulsystems im Sinne der Mehrheit nicht nur darin bestehen kann, dass für Bildung mehr Geld bereitsteht, v.a., geht es darum, dass Inhalt und Zweck von Bildung und Erziehung geändert werden. Das heißt, bürgerliche Elemente zu minimieren und proletarische Elemente auszuweiten. Letzteres bedeutet, einer wissenschaftlichen, materialistischen, dialektischen und historisch-kritischen Betrachtungsweise mehr Raum zu verschaffen und kollektiv-solidarisches Denken und Handeln – also letztlich auch antikapitalistisches Potential – zu stärken. Natürlich sind dabei nur begrenzte Fortschritte möglich. Ein konsequent wissenschaftliches, demokratisches und kollektives Bildungssystem, das jeden Menschen optimal entwickelt, kann erst Realität werden, wenn der Kapitalismus überwunden ist. Relevante Fortschritte sind dabei nur möglich, wenn die Arbeiterklasse und die Massen diese erkämpfen.

Strukturen

Parallel zu den inhaltlichen Zielen geht es darum, die Strukturen des Schulsystems zu ändern. Das wesentlich durch den Staat und die Bildungsbürokratie (hinter denen die Verwertungs- und Herrschaftsinteressen des Kapitals stehen) bestimmte Bildungswesen muss grundlegend verändert werden. Das bedeutet im Kern, den Zugriff des Staates zurückzudrängen und den Einfluss der Arbeiterklasse, der Beschäftigten, der (älteren) Schüler und der für das Bildungssystem relevanten Gruppen (Wissenschaftler, schulische Angestellte) auszuweiten. Wir wollen dieses Ziel mit dem Begriff „Schulische Selbstverwaltung“ fassen.

Schon Marx betonte, dass zwei Institutionen mit der Bildung nichts zu tun haben sollten: die Kirche und der Staat. Strikte Trennung von Kirche und Staat (und Schule) war schon eine Forderung des (früheren) revolutionären Bürgertums. Daraus folgt:

  • Kirche und Religion sind Privatsache und haben in der Schule nichts zu suchen! Gegen Schulen in kirchlicher Trägerschaft! Kein Religions- oder Religionsersatzunterricht in Schulen!

Die Trennung von Schule und Staat ist hingegen komplexer. Da Bildung und Schule gesamtgesellschaftlichen Charakter haben, können bzw. sollten sie nicht als vereinzelte Institutionen organisiert sein, sondern müssen einheitlich und kompatibel, aber zugleich auch flexibel sein, um die Durchsetzung und Weiterentwicklung optimaler Konzepte von Bildung und Erziehung zu ermöglichen. Daraus folgt:

  • Abschaffung des Föderalismus (auch) in der Bildung! Abschaffung der Vielfalt von parallelen Bildungsträgern  (Kirchen, Vereine usw.), weil diese tw. der öffentlichen Kontrolle entzogen sind, tw. irrationale Konzepte (Religion, Rudolf Steiner usw.) verfolgen und die Entwicklung eines einheitlichen und wissenschaftlich optimierten Bildungssystems behindern!

Im Kapitalismus wird die Bedienung der allgemeinen Interessen des Kapitals (Reproduktion von Klassen und Schichten) dadurch sichergestellt, dass (allgemeine) Schulen nicht direkt einem bzw. den Kapitalisten unterstehen, sondern dem Staat als „ideellem Gesamtkapitalisten“. Doch diese Struktur widerspricht weitgehend nicht nur den Interessen der Gesellschaft, sondern speziell denen des Proletariats. Deren Einfluss auf die Bildung ist marginal. Letztlich stellt die Schule ein Produktionsmittel zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft bzw. zur Erzeugung der Ware Bildung dar. Insofern geht es auch hier darum, wer – welche Klasse – darüber bestimmt.

Staatlich oder selbstverwaltet?

Die Alternative für die Arbeiterklasse und eine zentrale Aufgabe des Klassenkampfes ist es daher, den Einfluss des Staates zurückzudrängen und den eigenen Einfluss auszubauen. Die Rolle des Staates muss auf jene Aufgaben beschränkt sein, die nur zentral geregelt werden können: Bereitstellung von Geld, Ausbildung der Pädagogen, Setzung eines rechtlichen Rahmens (Schulpflicht), Vorgabe von Rahmen-Lehrplänen usw. Doch auch hier geht es darum, dass die Regelung dieser Fragen dem Zugriff der staatlichen Bildungsbürokratie entzogen und der direkten  demokratischen Kontrolle derer unterstellt wird, die für die Bildung relevant sind: gewählte, jederzeit kontrollierte und abwählbare Vertreter der Lehrer, der Gewerkschaft, der Wissenschaft, der Eltern usw. Nur diese demokratischen Strukturen können absichern, dass es ein einheitliches, an den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft und den Erfahrungen der Bildungsbeschäftigten orientiertes Schulsystem gibt.

Ein wichtiges Anliegen des Kampfes um eine Bildungsreform ist es, „ideologische“ Fächer

aus dem Unterricht zu eliminieren, die dazu dienen, bürgerliche, reaktionäre und unwissenschaftliche Ansichten zu vermitteln: Religion, „Moralunterricht“ usw. Die Gleichberechtigung von Religionen darf nicht damit verwechselt werden, allen Religionen Zutritt zur Schule zu verschaffen, z.B. durch die Forderung nach Islam-Unterricht an Schulen. Anstelle von „Ideologie-Unterricht“ muss ein auf Faktenvermittlung orientierter Unterricht treten, der auf die Vermittlung materialistischen, historisch-kritischen Denkens orientiert ist. Ebenso muss der naturwissenschaftliche Unterricht v.a. darauf ausgerichtet sein, wissenschaftliches Denken zu vermitteln und die Beziehung von Wissenschaft und Technik zur Gesellschaft zu beleuchten, anstatt Formeln auswendig zu lernen. Der gesamte Unterricht muss eine Verbindung von Theorie und Praxis herstellen und einen polytechnischen Charakter haben. Diese Ziel sind im Kapitalismus aber nur partiell umsetzbar und nur, wenn die Arbeiterbewegung dafür kämpft.

Die Berücksichtigung individueller Interessen muss stärker betont werden, anstatt jeden Schüler mit demselben Bildungskanon vollzustopfen. Sowohl leistungsstarke wie schwächere Schüler müssen individuell gefördert werden. Das erfordert auch ein umfangreiches fakultatives Angebot (Arbeitsgemeinschaften, Begabtenförderung).

Grundlage eines effektiven, zugleich das kollektive Lernen wie die individuelle Förderung berücksichtigenden Unterrichts ist eine angemessene Klassenstärke von 12-15 Schülern. Spezialisten (Wissenschaftler, Techniker, Musiker usw.) – auch auch aus den Reihen der Eltern – sollten punktuell in den Schulbetrieb eingebunden werden. Die bisherige starke Trennung der Tätigkeitsfelder von Lehrern und Horterziehern muss überwunden werden.

Die Ausbildung der Lehrer muss von überzogenem „Fachchinesisch“ entschlackt und stärker praktisch didaktisch und pädagogisch ausgerichtet sein. Daneben muss die Weiterbildung der Lehrer qualifiziert werden.

Statt der Vielzahl konkurrierender Schulbuchverlage, Schulmaterial- und Schulmöbelhersteller braucht es jeweils nur ein nationales Unternehmen, das die verschiedenen Erfahrungen, Ideen und Innovationen einarbeitet, optimiert und engstens mit der Praxis verbunden ist. Eine solche Struktur wäre auch rationeller und kostengünstiger. Diese Unternehmen dürfen nicht privat, sondern sollen genossenschaftlich strukturiert sein und direkter gesellschaftlicher Kontrolle unterliegen.

Die gesamte Struktur und die Arbeitsweise von Schulen werden von den Schulämtern bestimmt. So wird abgesichert, dass nicht die Beschäftigten und ihre Strukturen darüber entscheiden, wie Schule funktioniert, sondern das Kapital – „indirekt“ per Bürokratie. Alle Lehrer, Eltern oder Kommunalpolitiker wissen, wie unrationell, träge und weltfremd die Bürokratie arbeitet. Alle wissen, dass die Ämter oft selbst an der Lösung kleiner Probleme scheitern oder sie verzögern. Jedes „normale“ Unternehmen würde verzweifeln und scheitern, wenn es wegen jeder Frage ein Amt konsultieren müsste und davon abhängig wäre. Im Schulsystem ist diese Absurdität jedoch normal. Deshalb:

  • Für eine selbstverwaltete Schule! Weg mit den Schulämtern!
  • Für einen nationalen „Bildungsrat“, der sich aus der Koordinierung von schulischen und regionalen Basisstrukturen ergibt!

Wie kann eine selbstverwaltete Schule aussehen? Die Leitung der pädagogischen und  organisatorischen Aufgaben liegt in den Händen eines kollektiven Gremiums, dessen Mitglieder gewählt und abwählbar sind. Es setzt sich zusammen aus Pädagogen, (älteren) Schülervertretern, Elternvertretern, Gewerkschaftsvertretern und Vertretern der Kommune. Auch Vertreter der technischen Kräfte (z.B. Hausmeister) müssen eingebunden sein. Dieses Gremium kann eine kleine Exekutive bestimmen, welche die tägliche Arbeit leistet und leitet. Aufbauend auf diesen Basisstrukturen muss ein nationales Schul-System geschaffen werden. Auf der höheren Ebene, wo inhaltlich und strukturell allgemeine Entscheidungen getroffen werden, müssen auch (demokratisch gewählte) Vertreter der Wissenschaften eingebunden werden.

Nur ein solches System kann sichern, dass die praktischen Erfahrungen der Basis Eingang in pädagogische Konzepte finden und die Beschäftigten wirkliche Verfügungsgewalt über ihr Tätigkeitsfeld haben. „Um uns selber müssen wir uns selber kümmern!“ formulierte einst schon Brecht.

Die Schule muss aus einem Ort der Bildung zu einem Ort werden, wo Kinder und Jugendliche auch eine „soziale Heimat“ haben. Die Schule muss zu einem Ort werden, wo soziales, kulturelles Leben über die „Bildungsarbeit“ hinaus stattfindet, das von Kindern und Jugendlichen möglichst weitgehend selbst bestimmt und organisiert wird.

  • Für eine „offene Schule“ mit nichtkommerziellen Möglichkeiten für die kulturelle Freizeitgestaltung der Jugend!

Formell gesehen hat jedes Kind die Möglichkeit, sich Bildung anzueignen. Es stimmt nicht, dass Kinder aus „bildungsfernen“ oder migrantischen Milieus hinsichtlich ihrer Bildungschancen generell strukturell benachteiligt wären. Sie haben aber oft aufgrund von Sprachschwierigkeiten und dem privaten Umfeld schlechtere Startbedingungen, um real vorhandene Bildungsangebote wahrnehmen zu können. Um allen Kindern wirkliche Chancengleichheit zu ermöglichen, müssen diese „häuslichen“ Startbedingungen verbessert werden, u.a. durch eine gute und verbindliche vorschulische Betreuung.

  • Kostenloser und verpflichtender Kitabesuch für alle Kinder! Besondere Förder-Angebote, z.B. für Migrantenkinder ohne Deutschkenntnisse!

Nicht die ausschließliche Überantwortung der Kitakinder an staatliche Bildungsspezialisten, sondern die direkte Einbeziehung der Eltern in die Kitabetreuung ist notwendig. Dabei sollten v.a. die Erfahrungen der „Kinderladen-Bewegung“, der Montessori-Pädagogik oder von Makarenko berücksichtigt werden.

Die Inklusion von Kindern mit Lernbehinderungen in die „normale“ Schule ist an sich richtig. Doch die praktische Umsetzung nimmt oft abstruse Formen an, die nicht zur besseren Integration der einzelnen „Problemfälle“ führt, sondern zur Unterminierung der Lernkollektive und des Unterrichtsniveaus zum Schaden aller Beteiligten. Tw. widerspiegelt sich diese Entwicklung in den PISA-Studien, die einen partiellen Verfall des Bildungsniveaus zeigen. In vielen Klassen ist es nur noch eingeschränkt möglich, „normal“ zu unterrichten, das Unterrichten wird zur Disziplinierungsorgie. Statt der Einsparung der teureren „Sonderschulen“ und des immensen Personalaufwands für Einzelbetreuer für „auffällige“ Kinder müssen und können diese bei Bedarf gesondert beschult werden! Es zeigt sich, dass die Schule zunehmend mit sozial „auffälligen“ Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Diese Probleme entstehen aber weniger in der Schule als im privaten (familiären) Umfeld. Hier spielen verschiedene, durch den Kapitalismus hervorgerufene Probleme eine Rolle (Entfremdung, Konsumismus, Leistungsdruck usw.). Die zunehmend krisenhafte Entwicklung des Systems und dessen „Reparaturmechanismen“ unterminieren zunehmend die sozialen Strukturen mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Diese Probleme können im Kapitalismus zwar nicht gelöst, aber minimiert werden – indem Strukturen eines kollektiv-solidarischen Umgangs etabliert werden. Nicht der Ausbau von staatlicher Fürsorge (Jugendämter usw.), sondern der Ausbau von Formen kollektiven und solidarischen Lebens und von Selbstverwaltung sind gefragt.

Jeder ernsthafte Versuch, das Bildungswesen zu verbessern wird auf den Widerstand des Kapitals, der Politik, des Staates, der Kirchen und Teilen der Wissenschaft führen. Daher kann nur das Zusammenwirken von Linken, der Arbeiterbewegung, den Schülern und Eltern Erfolge erreichen. Das Engagement für ein besseres Bildungswesen muss mit dem Klassenkampf, muss mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus verbunden werden!

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