Hanns Graaf
Vorbemerkung: Der folgende Beitrag ist eine Antwort auf den Kommentar von Jan Müller vom 18. April zu meinem zweiteiligen Artikel „Der Spätimperialismus“. Aufgrund der Vielzahl und Komplexität der angesprochenen Fragen erfolgt meine Antwort nicht ebenfalls in Form eines Kommentars, sondern als Artikel.
Zunächst einmal sei ein Dank für die sachliche Art der Kritik vorweg geschickt. Jan Müller (JM) betont: „Im Allgemeinen hast du meiner Meinung nach die Grundtendenzen der gegenwärtigen Epoche zutreffend erkannt.“ Die Kritik von JM betrifft insgesamt 5 inhaltliche Komplexe.
1. Die Krise der Linken
JM schreibt: „Der Zusammenbruch des realen Sozialismus war nicht nur mit der Niederlage jener Teile der Linken und der Arbeiterbewegung verbunden, die sich positiv auf ihn bezogen. Er betraf alle Linke. Auch diejenigen Strömungen wurden für seine Fehler und Stalins Verbrechen in Mithaftung genommen, die diese kritisiert und vor einem Zusammenbruch des Sozialismus gewarnt hatten.“
Natürlich hat JM hier recht, wenn er betont, dass von den Ereignissen ab 1989 alle Teile der Linken und die Arbeiterbewegung insgesamt betroffen waren und nicht nur das stalinistische Milieu. Dieses aber besonders. Doch dass auch die anti-stalinistische Linke mit in den Abwärtsstrudel gerissen wurde oder nicht stärker vom Kollaps des Stalinismus profitieren konnte, hat andere Gründe. Sie hatte programmatisch zu wenig Substanz. Zudem war sie nominell zu schwach, zu zersplittert und bis zur Wende in Ostdeutschland nicht vertreten.
Wenn JM schreibt, dass es auch Strömungen gab, die Stalins Fehler „kritisiert und vor einem Zusammenbruch des Sozialismus gewarnt hatten“, so muss diese Aussage kommentiert werden. Jene Strömungen, die vor dem Kollaps des Stalinismus gewarnt hatten, waren ja gerade zwei grundlegenden Fehlern aufgesessen: 1. hielten viele von ihnen den Ostblock für sozialistisch, obwohl er – je nach Analyse – entweder staatskapitalistisch war oder ein degenerierter Arbeiterstaat. Letztere Auffassung, die von Trotzki kommt, würde aber bedeuten, dass der Ostblock sich noch in der Periode der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) befand, die nach Marx dem Sozialismus als unterer Stufe des Kommunismus vorgelagert ist. Hier spiegelt sich die schiefe Auffassung der marxschen Kategorie wider, welche die Übergangsphase mit dem „eigentlichen“ Sozialismus vermengt. U.a. dieses theoretische Tohuwabohu führte dazu, dass die Programmatik der „Kommunisten“ den objektiven Bedingungen oft nicht angepasst war.
Viele Warnungen vor dem Zusammenbruch bedeuteten in Wahrheit eine Abkehr vom revolutionären Kommunismus und auch von Trotzki, denn der fürchtete nicht den „Zusammenbruch“, sondern wollte diesen mittels einer (aber nur politischen) Revolution beschleunigen – freilich aber nicht dazu, dass die Bourgeoisie wieder an die Macht kommt, sondern das in einem Rätesystem organisierte Proletariat.
2. Staatskapitalismus
JM schreibt: „Von einem Staatskapitalismus in der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas kann nicht die Rede sein, denn die kapitalistischen Bewegungsgesetze wirkten dort nicht. Auch gab es bis 1989 keine Kapitalisten. Trotzkisten sprechen im Allgemeinen von einem degenerierten Arbeiterstaat, um diese Gesellschaften zu beschreiben. Alfred Kosing dagegen sagte, dort und in der Sowjetunion habe ein Rohbau des Sozialismus existiert, der freilich noch weit von seiner Vollendung entfernt gewesen war. Diese Formel hat etwas für sich, denn sie beschreibt nicht nur die Verbrechen und Fehler, die dort vorkamen, sondern auch die zivilisatorischen Fortschritte und Errungenschaften, die es ebenso gegeben hat. Je länger diese Gesellschaften der Vergangenheit angehören und je schneller die westliche Zivilisation zerfällt, desto heller strahlen diese realsozialistischen Gesellschaften. Besser ein schlechter Sozialismus als das, was wir jetzt haben.“
Davon, dass die kapitalistischen Bewegungsgesetze im Ostblock nicht mehr gewirkt hätten, kann keine Rede sein. Es gab auch dort ein (wenn auch modifiziertes) Lohnarbeitssystem, das nicht infrage gestellt wurde. Selbst die Staatsplanung, die als ein wesentliches nichtkapitalistisches Merkmal angesehen wird, griff nicht durchgängig. Das Gros der ökonomischen Beziehungen, die zwischen den Betrieben, waren kaum durch den Plan geregelt (was auch kaum möglich ist), sondern waren stark informell geprägt und damit quasi marktwirtschaftlich. Tw. lag das daran, dass die Planung nicht funktionierte, weil Ressourcen fehlten oder die Planvorgaben einfach absurd waren, tw. lag es an den egoistischen Interessen der Betriebsleitungen.
Marx´ Vorstellungen einer nachkapitalistischen Wirtschaft (eine Theorie dazu hatte er nicht) bestanden nicht wesentlich darin, dass es eine Zentralplanung gibt und schon gar nicht darin, dass der Staat Eigentümer der Produktionsmittel (PM) sein soll. Er schrieb stattdessen wiederholt von der genossenschaftlichen Assoziierung der Produzenten, von der deutlichen Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit, der Überwindung der tradierten Arbeitsteilung und vom Absterben des Staates. Sein „Modell“ hatte mit der bürokratischen Staatswirtschaft des Ostblocks wenig gemein.
Natürlich gab es keine Bourgeoisie im tradierten Sinn mehr. Doch deren Enteignung 1917 – bzw. nach 1945 von oben – ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Sozialismus. Hinreichend wäre sie, wenn das Proletariat (als Produzenten und Konsumenten) die PM direkt (!) verwalten würde. Das ist aber nur möglich mit einem System von Räten und Selbstverwaltungsstrukturen (was nicht dasselbe ist). Dieses gab es jedoch nicht: 1917 war es erst in sehr bescheidenen Anfängen vorhanden, im Ostblock überhaupt nicht. Die Rätedemokratie ist nämlich nicht eine Frage, ob die PM mehr oder weniger demokratisch verwaltet werden, sondern ob sie überhaupt (!) unter der Verfügung der Arbeiterklasse stehen.
China ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es sich um Staatskapitalismus handelt. Seit den 1970ern (Deng-Reformen) hat sich das Land zu einer imperialistischen Macht entwickelt. Es gab zwar Reformen und Richtungsänderungen, aber keine offene Konterrevolution – wie auch, da immer noch dieselbe Partei herrscht?! Die Dynamik Chinas ergab sich (bisher) nicht aus der Einführung oder Abschaffung des Staatseigentums, sondern durch die Implantierung von mehr Privateigentum und Marktelementen. Wäre China ein (degenerierter) Arbeiterstaat gewesen – und dann: bis wann? -, hätten ganz andere politische und soziale Umbrüche erfolgen müssen, damit China wieder kapitalistisch wird.
Wenn der Ostblock sozialistisch (oder gar kommunistisch) gewesen wäre, hätte dort eine Produktionsweise vorhanden sein müssen, die sich u.a. durch eine höhere Arbeitsproduktivität als im Westen auszeichnet. Das war nie der Fall – im Gegenteil: ab den 1970ern fiel der Osten immer weiter zurück. Die Hauptursache dafür waren weder Ressourcenmangel, noch Krieg, noch Blockaden o.a. äußere Faktoren, sondern die Entmachtung des Proletariats durch die Bürokratie.
Natürlich unterscheidet sich der Staatskapitalismus vom (westlichen) Privatkapitalismus, sonst wäre eine gesonderte Kategorie ja unnötig. Doch neben Unterschieden gab es eben auch wichtige Gemeinsamkeiten, v.a. die Nichtverfügung der Produzenten über die PM, deren Entrechtung und untergeordnete Stellung in der Gesellschaft. Eine Sorte Ausbeuter und Unterdrücker (die Bourgeoisie) war weg – wurde aber nur durch andere (die Bürokratie) ersetzt. Diese „Ersetzung“, die Vertreibung des Proletariats von der Macht war der Inhalt jener politischen und sozialen (!) Prozesse, die sich in der UdSSR unter Stalin vollzogen. Der Staatskapitalismus repräsentierte in gewisser Weise eine höhere Form der Vergesellschaftung als der Privatkapitalismus. Daher traten auch (fast) alle Kritiker und Reformer des Kapitalismus – ob rechte oder linke – nach dem 1. Weltkrieg für eine Staatswirtschaft ein. Doch diese „Vergesellschaftung“ ging nicht weit genug, v.a. für den Sozialismus, ja sie schlug sogar ins Gegenteil um und wurde zur Fessel der Produktivkraftentwicklung, als diese ab den 1970ern vom exzessiven zum intensiven Wachstum überging.
Wenn JM die „realsozialistischen“ Gesellschaften „immer heller strahlen“ sieht, „je schneller die westliche Zivilisation zerfällt“, so weigere ich mich entschieden, die Traufe dem Regen vorzuziehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass JM den Zusammenbruch, die Implusion des „Realsozialismus“, das historische Scheitern dieses Modells verdrängt, anstatt nach den Ursachen zu suchen. Genau wie Hilferding, Stalin, Lenin, Trotzki u.v.a. glaubt offenbar auch JM, dass das Staatseigentum – das von einer Bürokratie verwaltete (!) – einen Arbeiterstaat ausreichend definieren würde. Das hat mit Marx wenig zu tun. Die Geschichte hat klar erwiesen, dass der Staat, d.h. ein Bürokratie, außerstande ist, die modernen Produktivkräfte ausreichend zu entwickeln. Daran ist der Ostblock gescheitert.
3. Klassenanalyse
JM schreibt: „Ich finde die Vehemenz irritierend, Marx ständig irgendwelche Fehler und Irrtümer ankreiden zu wollen. Dass sich die Wissenschaft des historischen Materialismus in 150 Jahren weiterentwickelt, halte ich für selbstverständlich. Im konkreten Fall hat Marx den Rückgang des selbständigen Kleinbürgertums zutreffend vorhergesagt. Schließlich ist sein Anteil an der deutschen Bevölkerung nach dem Projekt Klassenanalyse von 34,0% 1907 auf 8,3 % im Jahr 1985 geschrumpft. Dem steht eine Zunahme der lohnabhängigen Mittelklasse von 13,0 auf 24,8% und der Arbeiterklasse von 50 auf 65,4% gegenüber. Der Anteil der Kapitalisten (definiert als eine Person, die mehr als 7 Menschen ausbeutet) hat sich von 3 auf 1,5% halbiert.“
Davon, dass ich Marx „ständig irgendwelche Fehler und Irrtümer ankreiden“ will, kann keine Rede sein. Es ist allerdings klar – zumindest für die Marxisten, für die Marx´ Theorie kein Dogma ist -, dass Marx nicht alle Veränderungen des Kapitalismus, die sich in über anderthalb Jahrhunderten vollzogen haben, voraussehen konnte. Marx selbst hätte eine solche Vorstellung absurd gefunden.
In meinem Text (Teil 2) steht zur Klassenstruktur: „Anders, als Marx vorausgesagt hat, wurde das traditionelle Kleinbürgertum nicht wesentlich proletarisiert, das trifft nur auf die selbstständigen Bauern zu. Das städtische Kleinbürgertum hingegen hat sich gewandelt, ist aber nicht verschwunden oder geschrumpft. Während es selbstständige Kleinhändler und bestimmte Handwerksberufe weniger oder kaum noch gibt, sind andere Bereiche (IT-Service, Elektriker, Automechaniker usw.) neu entstanden. Trotz der Dominanz der Großindustrie existiert weiterhin ein enormer Bereich von Mittel- und Kleinproduktion, Servicediensten und Verwaltungen verschiedener Art, welche die soziale Grundlage der Mittelschichten bilden.
Deutlich sichtbar vergrößerte sich das Milieu der lohnabhängigen Mittelschicht (nicht zu verwechseln mit dem Kleinbürgertum), das in nahezu allen sozialen Bereichen, v.a. in Wissenschaft, Bildung, Kultur, Management und im Sozialbereich anzutreffen ist. Es ist einerseits lohnabhängig, andererseits aber Teil des „Managements“ und damit Träger von Strukturen und Akteur in Verfahrensweisen zur Organisation und Sicherung der kapitalistischen Gesellschaft – was diese Schicht von anderen Lohnabhängigen unterscheidet, die diese Funktion nicht haben. Insgesamt spielt die lohnabhängige Mittelschicht eine wesentlich größere Rolle im gesellschaftlichen Mechanismus als früher.“
Der Verweis von JM auf das Projekt Klassenanalyse (ProKla) hilft hier wenig, weil es 1. Daten von 1985 bietet, die also schon fast 40 Jahre alt sind. 2. wird dort nicht genau zwischen Kleinbürgertum und lohnabhängiger Mittelschicht differenziert. Gerade letztere hat aber zugenommen. Dass die Methode von ProKla hinterfragt werden muss, zeigt auch folgende Aussage: „Der Anteil der Kapitalisten (definiert als eine Person, die mehr als 7 Menschen ausbeutet) hat sich von 3 auf 1,5% halbiert.“ Es ist aber 1. fraglich, ob jemand, der 7 Leute ausbeutet, schon ein Kapitalist ist. Viel eher zählt dieser zum Kleinbürgertum. Um Kapitalist zu sein, d.h. den Prozess der Kapitalakkumulation (auf „erweiterter Stufenleiter“) in Gang setzen zu können, muss eine deutlich größere Menge von Lohnarbeit (und auch c-Kapital) mobilisiert werden, als es ein Kleineigentümer kann. 2. besagt der Anteil der Kapitalisten an der Bevölkerung wenig, da es viel wichtiger ist, wie viel Kapital bzw. gesellschaftlicher Reichtum sich in ihren Händen befindet. JM betont selbst zu recht, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Milliardärsschicht gebildet hat und die Bourgeoisie sich insgesamt – absolut und relativ – immer mehr Reichtum angeeignet hat.
Marx hatte nachweisbar die Vorstellung, dass die Mittelklassen dezimiert werden und auch deshalb die Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat direkter und heftiger aufeinander prallen. Dieser Prozess fand nur teilweise statt, in Gestalt des Schrumpfens des ländlichen Kleinbürgertums. Das städtische hat sich umstrukturiert – ohne jedoch stark zu schrumpfen. Die lohnabhängige Mittelschicht (LMS) hingegen ist gewaltig angewachsen – und damit auch ihre Bedeutung im sozialen Gefüge. Die LMS agiert z.B. in Bereich der Medien. Diese spielten vor 100 oder 150 Jahren für das Proletariat und den Klassenkampf fast keine Rolle. Ganz anders heute, wo wir den ganzen Tag und lebenslang medial mit bürgerlicher Ideologie bombardiert werden. Wer diese u.a. Veränderungen nicht sieht, versteht weder den modernen Kapitalismus noch, wie er bekämpft werden kann. Das ist ein generelles Problem der Linken.
JM schreibt: „Wie Trotzki in seinen Schriften über Deutschland zutreffend feststellte, schwankt das Kleinbürgertum (in diesem Fall fast ausschließlich die lohnabhängige Mittelklasse) nicht nur zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, sondern schließt sich regelmäßig der stärkeren Klasse an. Da es eine organisierte Arbeiterbewegung nicht mehr gibt, ist logisch, welcher Klasse es zuneigt. Das Kleinbürgertum ist regelmäßig die Brutstätte des Faschismus, der besonders in Krisenzeiten endemisch wird. Eine solche Entwicklung können wir verstärkt seit 2020 beobachten, auch wenn die psychischen Mechanismen heute etwas anders gelagert sind als in den 30er Jahren.“
Zunächst: Natürlich gibt es noch eine Arbeiterbewegung, allerdings eine total reformistisch dominierte. JM bezieht sich hier auf Trotzkis korrekte Faschismusdefinition. JMs Einschätzung der Mittelschichten kann ich mich anschließen. Allerdings würde ich hier zwischen der LMS und dem eigentlichen Kleinbürgertum (KB) nicht so strikt unterscheiden. Ein wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Typen von Mittelschicht besteht aber sicher darin, dass die LMS im Unterschied zum KB stärker in das Macht- und „Management“gefüge des Kapitalismus einbezogen ist.
4. Unterdrückung
JM meint: „Du schreibst: „Neben der Ausbeutung durch das Lohnarbeitsverhältnis spielen heute verschiedene Formen der Unterdrückung – nach „Rasse“, Nationalität, Geschlecht, Sexualität usw. – sowie die ideelle Indoktrinierung eine bedeutendere Rolle als noch vor 100 oder 150 Jahren.“ Das kann allenfalls auf das verkehrte Bewusstsein einer kleinen Schicht von wohlhabenden Kleinbürgern zutreffen, nicht aber auf die Realität. Vor 100 Jahren, also 1923 gab es in Südafrika und den USA nicht nur vollausgebildete Apartheidsstrukturen, sondern auch eine eklatante Diskriminierung und Hyperausbeutung der großen Kolonialbevölkerung bis hin zu Systemen des Zwangsanbaus, die sich kaum von der Sklaverei unterschieden.
Geschlecht: Erst 1918 nach der Novemberrevolution erlangten die Frauen das Wahlrecht in Deutschland. Das änderte aber nichts daran, dass der Mann immer noch als Haupt der Familie galt, in allen entscheidenden Fragen das letzte Wort hatte, Frauen nur mit seiner Erlaubnis arbeiten durften und eine Scheidung kaum möglich war. Zudem war Abtreibung ohne wenn und aber verboten. Sogar Ehebruch und voreheliche Sexualität waren verboten und wurden bestraft.
Sexualität: Homosexualität war vollständig bis in die 70er Jahre, in einigen Konstellationen sogar bis in die 90er Jahre in Deutschland verboten.
Sicherlich sind alle diese Diskriminierungsformen heute noch nicht vollständig verschwunden, wenn sie auch stark abgemildert wurden. Ein größeres Problem ist heute vielmehr, dass die Normalbevölkerung diskriminiert wird. Wenn zum Beispiel ein unglaubliches Bohei gemacht wird um LGBTQ-Dingsbums-Personen, mit Awareness-Monaten, Flaggenmeeren, Veranstaltungen etc. und das nur für bestenfalls 10% der Bevölkerung, die weit überwiegend der Elite angehören und allein deshalb schon sozial privilegiert sind, wird der große Rest natürlich dadurch benachteiligt. Die Medien fahren zudem richtige Hasskampagnen gegen weiße alte Männer. In den stereotypen Vorstellungen des vor dem Fernseher in seinem Unterhemd sitzenden und Chips in sich hineinmampfenden weißen alten Mannes verbirgt sich ein noch nicht einmal besonders gut getarnter Hass der Bessergestellten auf die Arbeiterklasse.“
Hier stimme ich der Kritik von JM zu. Die von mir gewählte Formulierung ist so tatsächlich nicht korrekt. Gemeint war, dass (nur) Rassismus und Nationalismus weltweit insgesamt zugenommen haben. Warum? Weil sich der Imperialismus erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts global durchgehend etabliert hat. Da aber der Nationalismus und besonders der Rassismus (der nicht einfach mit tradierten Formen von „Fremdenfeindlichkeit“ gleichgesetzt werden darf) erst mit dem Imperialismus etabliert wurden oder an Bedeutung gewonnen haben, halte ich die Schlussfolgerung, dass diese historisch gesehen zugenommen haben, für korrekt. Andere Unterdrückungsformen hingegen haben, wie JM richtig bemerkt, tw. sogar abgenommen.
5. Genossenschaften
JM schreibt: „Ich habe den Eindruck, dass du mit dem Bestehen auf eine Genossenschaftsbewegung eine Erklärung suchst, warum der Übergang zum Sozialismus in den westlichen Ländern nicht funktioniert hat und was man besser machen könnte. Dabei war der genossenschaftliche Sektor neben Partei und Gewerkschaft eine der drei Säulen der Arbeiterbewegung und hatte in vielen Ländern eine beträchtliche Stärke erlangt (Konsumgenossenschaften, Baugenossenschaften, etc.). Davon, dass er von der Arbeiterbewegung vernachlässigt worden sei, kann überhaupt nicht die Rede sein. Genossenschaften existierten in der BRD noch bis in die 80er Jahre und in der DDR sogar bis 1989. Ihr Niedergang in der BRD ist auf ihre Anpassung an den Kapitalismus, Managementfehler und bewusste regulatorische Benachteiligung durch Bundesregierungen von Adenauer bis Schmidt zurückzuführen. Unter heutigen Bedingungen sind größere Genossenschaftsgründungen aus der Arbeiterklasse schlicht nicht mehr möglich. Hauptursache des Scheiterns der Revolution in den westlichen Ländern waren meiner Meinung neue Herrschaftstechniken der Bourgeoisie und die Degeneration der KomIntern als Weltpartei des Proletariats zu einer Revolutionsverhinderungsagentur.“
JM meint zum genossenschaftlichen Sektor: „Davon, dass er von der Arbeiterbewegung vernachlässigt worden sei, kann überhaupt nicht die Rede sein. Genossenschaften existierten in der BRD noch bis in die 80er Jahre und in der DDR sogar bis 1989.“ Warum gab es sie nur bis in die 1980er? Weil sie durch die Politik der Reformisten ruiniert worden sind. Einen wirklichen Kampf darum, sie zu etablieren, auszuweiten und zu einem System zu verbinden, gab es mindestens seit 1945 nicht mehr. Genossenschaften wurden v.a. als Strukturen angesehen, die der Arbeiterklasse einige soziale Vorteile bieten. Sie wurden aber nicht auch als Stützpunkte der Revolution, als Basen zur Überwindung des Kapitalismus und als Schulen des Sozialismus angesehen. Nur als großes nationales und internationales System (mit viel Kapital) können Genossenschaften bestehen. Dieses System gab es nicht, es war von den Reformisten auch nicht beabsichtigt.
Im Ostblock gab es Genossenschaften nur in der Landwirtschaft und im Handwerk. Die DDR-Konsumgenossenschaften z.B. waren nur dem Namen nach Genossenschaften. Zudem gab es neben ihnen absurderweise noch die staatliche Handelsorganisation (HO) als Doppelstruktur im Handel. Im Kernbereich der Wirtschaft, der Industrie, gab es keine Genossenschaften. Warum? Weil die Stalinisten – wie auch Sozialdemokraten, Lenin u.a. Kommunisten – eine Staatswirtschaft wollten, keine Genossenschaften. Bei Lenin kann man diese Sicht überall in seinen Schriften und in seiner Praxis sehen. Erst zum Schluss dämmerte es ihm, dass die Genossenschaften eine größere Bedeutung haben sollten.
JM schreibt: „Ihr Niedergang in der BRD ist auf ihre Anpassung an den Kapitalismus, Managementfehler und bewusste regulatorische Benachteiligung durch Bundesregierungen von Adenauer bis Schmidt zurückzuführen. Unter heutigen Bedingungen sind größere Genossenschaftsgründungen aus der Arbeiterklasse schlicht nicht mehr möglich.“ Bereits im 19. Jahrhundert, als die Arbeiterklasse viel kleiner und ärmer war als heute, baute sie z.B. in England ein relativ großes System von Genossenschaften auf. Heute sind die Möglichkeiten der Klasse, Genossenschaften aufzubauen, weit größer als früher. Wenn es sie trotzdem (fast) nicht mehr gibt, dann nur deshalb, weil die Reformisten (hier in trauter Eintracht mit dem Gros der Linken) das nicht wollen oder als unmöglich ansehen. Es gibt auch heute in Deutschland Genossenschaften und Selbstverwaltungsprojekte, die funktionieren. Genossenschaften sind auch heute möglich, aber in größerem Maßstab nur dann, wenn die Linke und die Arbeiterbewegung sich für sie einsetzen, sie aufbauen, ausbauen und verteidigen. Zu behaupten, dass alles ginge nicht, arbeitet dem Klassengegner nur in die Hände und lässt einen wichtigen Frontabschnitt des Klassenkampfes unbesetzt.
Die Geschichte zeigt, was möglich ist. So haben z.B. in Spanien ab 1936 die (überwiegend von Anarchisten initiierten) Genossenschaften gut funktioniert. In der BRD etwa gab es die Kinderladenbewegung, die ein Erfolg war – obwohl sie nur von einem Teil der linksradikalen Szene getragen war. Weltweit gibt solche Projekte – doch die meisten „Marxisten“ bestreiten deren Möglichkeit oder Sinnhaftigkeit. Das DGB-eigene Wohnungsunternehmen Neue Heimat war das größte Europas. Obwohl keine Genossenschaft, zeigt es, welche Möglichkeiten die Arbeiterbewegung (auch im Sinne von Marktmacht) hat. Die Neue Heimat wurde von den Bürokraten aus DGB und SPD durch Missmanagement und Korruption ruiniert.
Schon 1899 hatte u.a. Bernstein angemahnt, dass sich die SPD mit der Genossenschaftsfrage endlich ernsthaft und systematisch befassen müsse. So richtig Luxemburg damals mit ihrer Kritik an Bernstein in strategischer Hinsicht auch lag, in der Genossenschaftsfrage lag sie falsch, ihre Argumentation dazu ist oberflächlich – und widerspricht der Position von Marx. Dieser hatte nämlich immer eine grundlegend positive Einstellung zu den Genossenschaften – nicht nur bezüglich der nachkapitalistischen Ökonomie, sondern auch bezüglich ihrer Rolle schon im Kapitalismus. Ich führe hier nur einige Zitate als Belege an:
„Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d.h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.“ (MEW 25, 456)
Oder hier: „In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit. Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als das Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum. Es ist andererseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im Reproduktionsprozess in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen.“ (ebenda, 453)
In einer Resolution für die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) schreibt Marx 1866 zum Genossenschaftswesen: „Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.“
Engels schrieb 1875 an Bebel: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“ (MEW 19, 6)
Was ist daran misszuverstehen?!
Es geht hier schlicht und ergreifend darum, dass die meisten Linken in der Frage der Wirtschaftspolitik und des Staates die Positionen von Marx ignoriert und verfälscht und stattdessen die Ansichten der Sozialdemokratie, z.B. von Hilferding u.a., übernommen haben. Sie wollten das Lohnarbeitssystem modifizieren – der Arbeiter als lohnabhängig Angestellter des Staates -, anstatt das Lohnsystem, wie Marx es wollte, abzuschaffen. Das ist aber ohne Genossenschaften unmöglich.
JM schreibt: „Unter heutigen Bedingungen sind größere Genossenschaftsgründungen aus der Arbeiterklasse schlicht nicht mehr möglich.“ Wir haben schon dargelegt, dass das so nicht stimmt. Ein Beispiel: Die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ (DWE) hat zum Ziel, die enteigneten (zurückgekauften) Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) zu überführen. Damit wäre ungefähr jene Situation wiederhergestellt, die es vor dem Verscherbeln der Wohnungen durch den Berliner rot/roten Senat gab. Die Linken in DWE stellen dieses Ziel, das nur eine besondere Form der Verstaatlichung ist, nicht in Frage. Marxisten müssten hier aber fordern, dass die Wohnungen (auf freiwilliger Basis) selbstverwaltete Projekte werden, also die Wohnungen resp. Häuser denen gehören (!), die drin wohnen – nicht dem Staat. Nur so können die Mietpreistreiberei und der Zugriff von Bürokraten und des Immobilienkapitals beschränkt werden. Die absurde These, dass heute Genossenschaften und Selbstverwaltung weder möglich noch wünschenswert wären, hindert die Linke daran, hier eine alternative Politik zu Staat und Kapital zu vertreten.
Genossenschaften und Selbstverwaltung können natürlich an sich nicht den Kapitalismus überwinden. Sie sind aber unabdingbar, ein ökonomisches, soziales und politisches antikapitalistisches Potential aufzubauen, ohne das eine Revolution mangels Verankerung in den Massen unmöglich ist – zumindest in hochentwickelten Ländern. Am Schicksal des Stalinismus sehen wir, dass die Vorstellung, ohne Genossenschaften und Selbstverwaltung den Sozialismus unter der Regie einer Staatsbürokratie aufzubauen, eine reaktionäre Illusion ist.
Ich möchte hier nur auf zwei Punkte eingehen, weil sie meiner Meinung nach zentrale Fragen der aktuellen Imperialismusdiskussion berühren.
Der klassische Nationalismus und Rassismus erreichten im Hitler-Faschismus 1933-45 ihren Höhepunkt. Danach wurden sie nicht zuletzt auf Betreiben der USA international geächtet und spielten als Legitimationsideologie keine bedeutende Rolle mehr. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Erst mit Club of Rome und der modernen Eugenik, die die Form des Trans-humanismus angenommen hat, feierten sie eine Wiederauferstehung, aber in anderer Form. Im Unterschied zum klassischen Rassismus gehen seine Vertreter nicht mehr davon aus, dass es hoch- und minderwertige Rassen gebe. Es gebe aber in jeder Volksgruppe Individuen, die mehr wert sind als andere. Das sind vor allem die Reichen, deren Reichtum auf ihrer größeren Begabung basiere. Man könnte diese Ideologie Sozialrassismus bezeichnen. Wie schon im klassischen Malthusianismus seien die Armen an ihrem Schicksal selbst schuld und sie sind zur Ausrottung bestimmt (Bevölkerungsreduktion). In dieser auch von den linksliberalen Grünen mitgetragenen Ideologie liegt gewärtig die Hauptgefahr des Rassismus. Wer auf den klassischen Rassismus stiert, erkennt diese nicht.
Genossenschaften: Offensichtlich legst du so großen Wert auf Genossenschaften, weil du glaubst, mit ihnen ein Patentrezept für eine erfolgreiche sozialistische Revolution erkannt zu haben. Das ist aber meiner Meinung nach eine gefährliche Illusion. Die Klassiker sind sich darüber einig, dass eine „kumulative Machtübernahme“ des Proletariats analog zur bürgerlichen Revolution unmöglich ist. Das Bürgertum konnte durch seinen Besitz schon lange vor der politischen Machtübernahme z.B. in der Amerikanischen Revolution 1776 und in der Französischen Revolution 1789 Stützpunkte einer bürgerlichen Gegenmacht errichten. Was ihm das Regieren erheblich erleichterte. Die Arbeiterklasse wird vor der Revolution nie solche Stützpunkte errichten können.
Trotzki schreibt in seinem Buch Die Lehren des Oktobers: „Eine besitzende Klasse ist im-stande, die Macht, die einer anderen besitzenden Klasse entrissen wurde, zu erobern, indem sie sich auf ihren Reichtum, ihre ‚Kultur‘, ihre unzähligen Verbindungen mit dem alten Staatsapparat stützt. Dem Proletariat jedoch kann seine Partei durch nichts ersetzt werden.“
Das heißt, es gibt letztlich kein Patentrezept weder für die Erklärung des Scheiterns der sozialistischen Revolutionen im Westen noch für zukünftige Revolutionen. Man wird nicht umhin kommen, den neuen, nach 1917 entwickelten Herrschaftstechniken der Bourgeoisie große Aufmerksamkeit zu widmen. Die Konzentration auf Genossenschaften trägt hierzu nichts bei.
Deine Anmerkung zum Rassismus berührt einen wichtigen Aspekt. Hier stimme ich Dir zu.
Anders sieht es beim Punkt Genossenschaften aus. Ich habe noch nie den Standpunkt vertreten, dass – wie Du schreibst – die Genossenschaften „ein Patentrezept für eine erfolgreiche sozialistische Revolution“ wären. Genossenschaften können für sich genommen eine Revolution natürlich nicht ersetzen. Sie vergrößern lediglich deren soziales Potential und ermöglichen dem Proletariat, sich Erfahrungen in der Leitung und Verwaltung der Gesellschaft anzueignen. Genossenschaften sind insofern tatsächlich „Stützpunkte einer Gegenmacht“. Du schreibst, die „Arbeiterklasse wird vor der Revolution nie solche Stützpunkte errichten können“. Das ist falsch und historisch widerlegt, weil es solche Stützpunkt schon gab und auch heute gibt. Dass das nicht in größerem Umfang der Fall ist, liegt nur daran, dass die Linke bzw. die „offizielle“ Arbeiterbewegung wenig bis nichts dafür getan hat. Deine Trotzki-Zitierung geht völlig fehl, weil die Genossenschaften nicht die Partei ersetzen sollen und können und ich das auch nirgends behaupte. Du schreibst: „Man wird nicht umhin kommen, den neuen, nach 1917 entwickelten Herrschaftstechniken der Bourgeoisie große Aufmerksamkeit zu widmen.“ Richtig. Doch Deine Aussage „Die Konzentration auf Genossenschaften trägt hierzu nichts bei.“ ist falsch. Immerhin berührt sie die Eigentumsfrage – die zentrale Frage für Marxisten. Ich denke, ich habe mit den Marx-Zitaten klar belegt, dass Deine Auffassung zur Genossenschaftsfrage völlig im Widerspruch zu den Positionen von Marx steht. NB: Ich habe mich in meinen Broschüren umfangreich zu dieser Frage geäußert.