Redaktion: Den Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben Zehntausende unterschrieben. An der Kundgebung am Brandenburger Tor nahmen viele Tausende teil. Wie ging es seither weiter?
Hanns Graaf: Viele hatten schon von Beginn an die Befürchtung, dass nach diesem Auftakt von „oben“ nichts mehr folgen würde. Leider hat sich das bestätigt. Wagenknecht und Schwarzer haben keine Vorschläge gemacht, wie eine schlagkräftige Bewegung aufgebaut werden kann und was die nächsten Schritte sein sollen. Es blieb bei der Kundgebung als medialer Eintagsfliege. Damit allein kann nichts erreicht werden. Selbst früher, als die Friedensbewegung noch wirklich Massen mobilisieren konnte, wie z.B. gegen die Raketen-Nachrüstung oder gegen den Irak-Krieg, gelang es nicht, die herrschende Politik zu ändern. Heute ist die Friedensbewegung ungleich schwächer als früher. Das haben die geringen Teilnehmerzahlen bei den Ostermärschen deutlich gezeigt. Man merkt deutlich, dass es den Bürgerlichen in Politik und Medien in den letzten 20 Jahren gelungen ist, die Indoktrination erfolgreich zu forcieren und die Mehrheit der Bevölkerung für ihre Politik zu gewinnen bzw. von den wirklichen Problemen abzulenken. Die Linke ist seit Jahren bei zentralen Themen auf Staatskurs, ihr Einfluss ist insgesamt schwächer als früher. Die Linkspartei und die Gewerkschaften fallen als mobilisierende Faktoren in der Friedensbewegung nahezu komplett weg.
Redaktion: Was sind die Ursachen für diese Schwäche?
Hanns Graaf: Die Hauptursache ist der Reformismus, der die Arbeiterklasse und die Linke seit Jahrzehnten beherrscht: durch die SPD, den DGB und die LINKE. Diese Kräfte tragen die Regierungspolitik direkt mit (die SPD), tolerieren sie bzw. schweigen dazu und beschränken sich auf die „Tarifpolitik“ (die Gewerkschaftsführungen). Die Linkspartei ist gespalten, und selbst jene Teile, die eine richtige Position zum Ukrainekrieg haben, mobilisieren (bisher) nicht. Die „radikale Linke“ wiederum hat das Problem, dass sie sich zwar überwiegend gegen die Aggressionspolitik des Westens richtet, jedoch viel zu zersplittert und sektiererisch ist, um praktisch dafür zu wirken, eine starke Anti-Kriegs-Bewegung aufzubauen.
Redaktion: Wie könnte das konkret aussehen?
Hanns Graaf: Ich will ein Beispiel geben. In Panketal bei Berlin, einer Gemeinde mit 21.000 Einwohnern, gründete sich im April 2023 das „Panketaler Friedensbündnis“. Das ist eine Gruppe von vier Leuten: zwei Mitglieder der LINKEN, einem Mitglied der Freien Linken und einem Parteilosen. Ihre Hauptforderung ist die nach schnellstmöglicher Beendigung des Krieges durch Verhandlungen ohne Vorbedingungen. Das kleine Bündnis bewirkte, dass im Ort 6.000 Flyer verteilt worden sind und eine Friedensveranstaltung mit 110 Menschen stattfand. Hier hat sich gezeigt, dass ein politisches Angebot auf ein politisches Bedürfnis traf: viele Menschen sehen die Bedrohung durch den Krieg, sie sehen, wohin der Kurs des Westens, der NATO, der USA und der Ampelregierung führt. Derzeit plant das Bündnis u.a., sich mit anderen Initiativen zu vernetzen, und einen Offenen Brief an die regionale Gewerkschaftsstrukturen zu schreiben, um diese zum Kampf gegen die Kriegspolitik aufzufordern bzw. mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wenn Linke überall so agieren würden, wären wir dem Ziel einer starken Friedensbewegung deutlich näher. Doch die Politik der meisten linken Gruppen erschöpft sich leider darin, ihre eigene Haltung zu zeigen, dafür macht man dann ab und zu eine Demo. Um aber Menschen zu erreichen und zu aktivieren, die nicht schon zur linken Szene gehören, braucht es eben solche Komitees mit entsprechenden Aktivitäten. Das ist Einheitsfrontpolitik konkret.
Redaktion: Mich wundert, dass in Panketal die LINKE so aktiv ist. Ist sie nicht ansonsten in der Ukrainefrage total zerstritten?
Hanns Graaf: Die LINKE in Panketal ist hier zum Glück besser drauf. Ansonsten hast Du recht. Der Riss geht mitten durch die Partei. Teile der Führung unterstützen offen – aber natürlich mit Friedensphrasen verziert – den Kriegskurs der Ampel. So wird etwa der Rückzug der Russen als Vorbedingung für Verhandlungen gefordert – eine komplette Illusion. Oder: die Ablehnung der NATO, früher eine wichtige Position der Partei, soll nun „überdacht“ werden – eine Umschreibung dafür, dass man die alte Position über Bord werfen will, um regierungsfähig zu bleiben, d.h. mit den Kriegstreiber-Parteien SPD und Grüne koalieren zu können. Aber es gibt auch ein großes Milieu, vielleicht sogar eine Mehrheit der Basis der LINKEN, die diesen Schwenk ablehnt.
Redaktion: Du meinst die Wagenknecht-Anhänger.
Hanns Graaf: Nicht nur. Es gibt z.B. den Karl-Liebknecht-Kreis in der und um die LINKE, der eine gute Position in der Kriegsfrage vertritt und die aktuelle Politik der LINKEN insgesamt sehr kritisch sieht. Wagenknechts Rolle ist ambivalent. Vor dem Februar 2022 hatte sie noch Illusionen in Putins Politik. Das hat damit zu tun, dass sie – wie die gesamte Linkspartei – kein Verständnis dafür hat, was Imperialismus ist und dass auch Russland eine imperialistische Macht ist, auch wenn Putin in der Ukraine v.a. auf die aggressive Politik des Westens reagiert hat. Heute ist Wagenknechts Position besser, wenn auch nicht marxistisch und lediglich „passiv propagandistisch“.
Redaktion: Was hältst Du von der Ankündigung Wagenknechts, eine neue Partei zu gründen?
Hanns Graaf: Es geht nicht um irgendeine neue linke Partei, sondern darum, eine neue Partei aufzubauen, die antikapitalistisch ist, sich auf die Arbeiterklasse und den Klassenkampf orientiert. Sie muss konsequent mit jeder Art Reformismus brechen. Das ist von Wagenknecht nicht zu erwarten. Schon bei der Fusion der PDS mit der WASG und bei Aufstehen, das sie initiiert hat, stand Wagenknecht nur für eine „Neuauflage“ des Reformismus, nicht für dessen Überwindung. Das Ergebnis sehen wir jetzt: jede linke und oppositionelle Dynamik, die in WASG und Aufstehen durchaus präsent war, wurde beerdigt. Die LINKE ist aktuell in einer existentiellen Krise. In dieser Situation, angesichts der strunzdummen und reaktionären Katastrophenpolitik der Ampel müsste die LINKE eigentlich besonders gut punkten – das Gegenteil ist der Fall. Das sagt schon alles.
Redaktion: Wer bei den Umfragen zulegt, ist die AfD.
Hanns Graaf: Das ist kein Zufall, weil sie – trotz ihre insgesamt reaktionären und neoliberalen Ausrichtung – in einigen zentralen Fragen (Klima, Kernkraft, Energiewende, Gendern, Ukraine …) eine klar kritische Position zur Regierungspolitik bezieht. Ihr Kritik ist oft richtig und nimmt die Meinungen großer Teile der Bevölkerung oder sogar der Mehrheit auf. Das Problem dabei ist, dass sie in anderen Fragen reaktionäre, nationalistische und rassistische Positionen vertritt. Dagegen muss angekämpft werden! Das schafft die Linken aber nicht, weil sie sich überall an den bürgerlichen Mainstream anpasst und die Sorgen, Haltungen und Bedürfnisse der Bevölkerung nicht ernst nimmt. Bei den Friedenskundgebungen muss eine klare politische Abgrenzung zur AfD u.a. Rechten erfolgen. Es ist allerdings absurd, von „Rechtsoffenheit“ von Linken und Kriegsgegnern zu reden, wenn einzelne AfD-Leute bei einer Demo auftauchen. Was ist, wenn SPDler kommen?! Die SPD hat der deutschen Arbeiterbewegung tausend Mal mehr geschadet als die AfD es je kann. Es gibt allerdings auch Linke, die sich an klar von Rechten (AfD, Freie Sachsen u.a.) dominierten Aktionen beteiligen, was natürlich ein Unding ist. Aber selbst da muss man mit diesen Linken reden und ihnen klar machen, dass ihr Vorgehen falsch ist. Wer Fehler macht, ist deswegen nicht automatisch selbst rechts. Die Antifa und große Teile der „radikalen Linken“ machen mit ihrer Spalterei und ihren abstrusen Vorwürfen jede Diskussion und Kooperation kaputt. Damit stehen sie auch hier wieder im Klassenkampf auf der falschen Seite.
Redaktion: Ist da nicht eine Wagenknecht-Partei eine Alternative zur AfD und ein Mittel, die linke Szene zu einen?
Hanns Graaf: So einfach ist es nicht. Die Kritik Wagenknechts am Kurs der LINKEN und die Erwartungen in sie enthalten viel Richtiges. Daran muss man anknüpfen. Auf keinen Fall sollten die Linken aber die Fehler wiederholen, die sie bei der WASG und bei Aufstehen gemacht haben: sich aus dem Prozess heraushalten und nur von außen kritisieren (noch dazu meist auf unqualifizierte Weise). Wir müssen in eine Wagenknecht-Partei, so sie überhaupt entstehen sollte, aktiv eingreifen und dort konsequent antikapitalistisch-revolutionäre Positionen einbringen. Wir müssen v.a. die Frage aufwerfen, wie Wagenknecht ihren reformerischen Wunschkatalog – mehr ist ihr Programm im Kern ja nicht – umsetzen will? Mit wem, mit welcher Taktik? Mit parlamentarischen Kombinationen oder mit Mitteln des Klassenkampfes?
Redaktion: Aus welchen Kräften besteht die aktuelle Friedensbewegung?
Hanns Graaf: Ein Teil kommt aus der traditionellen Friedensbewegung, von der aber ein Teil leider den Ampelkurs unterstützt. Die Friedensbewegung ist aber insgesamt nur noch ein Schatten der Bewegung früherer Jahre, z.B. gegen den Irakkrieg. Ein anderer Teil kommt aus der Corona-kritischen Bewegung, dazu gehört z.B. die Freie Linke. Es ist kein Zufall, dass dieses Milieu von linken Kriegsgegnern von dort kommt. Die kritische Haltung zur Regierungspolitik in Sachen Corona-Lockdowns, Klimahysterie, Energiepolitik und Sozialabbau hat auch zu einer Ablehnung der Kriegstreiberei der Ampel geführt. Auch in Bernau, der Nachbarstadt von Panketal, das ich erwähnt habe, ist es dieses Milieu, das schon seit vielen Monaten jeden Montag demonstriert, während die LINKE dort zu Hause bleibt. Es ist eine Schande und ein deutliches Zeichen der politischen Verwirrung der Linken, dass sie diese Kräfte allesamt nur für Verschwörer und für rechts hält – während sie mit der politisch verblödeten Antifa, die die Linke spaltet und nur noch als agent provocateur tätig ist, zusammenarbeitet. Auch die rechteren Teile der LINKEN kooperieren mit diesen Obskuranten der „Atlantifa“.
Redaktion: Was müsste jetzt getan werden, um eine starke Bewegung gegen den Krieg aufzubauen?
Hanns Graaf: Hinsichtlich der politischen Position geht es v.a. darum, die Hauptverantwortung des Westens, der Nato, der USA, der EU und der Ampel-Regierung für diesen Krieg und die zunehmenden sozialen Probleme herauszustellen. Der imperialistische Charakter des Ukraine-Krieges muss betont werden. Keine imperialistische Seite in diesem Krieg darf unterstützt werden! Das bedeutet, nicht für Sieg oder Niederlage einer Seite einzutreten. Es muss klar gesagt werden, dass dieser Krieg Ergebnis inner-kapitalistischer Konflikte ist. Es muss deutlich gesagt werden: Wer für den Frieden ist, muss gegen den Kapitalismus sein!
Praktisch müssen überall Anti-Kriegs-Komitees gegründet bzw. miteinander vernetzt werden. Diese müssen auf die Menschen zugehen, sie informieren und damit der kriegshetzerischen Einheitsfront der bürgerlichen Medien entgegentreten. Wir brauchen viele Diskussionen, Veranstaltungen, Demos usw. Wir müssen die Gewerkschaften – deren Apparate – unter Druck setzen, damit endlich auch sie gegen den Krieg aktiv werden. Wir brauchen eine bundesweite Massendemonstration gegen den Krieg, die weit größer wird als die von Wagenknecht und Schwarzer initiierte am Brandenburger Tor. Wir brauchen regionale Treffen und einen großen bundesweiten Antikriegskongress. Natürlich brauchen wir auch Blockaden von Logistikpunkten wie Häfen und Bahnstrecken, um Waffenlieferungen zu verhindern – aber das ist Zukunftsmusik.
Redaktion: Ist es realistisch, so den Krieg zu stoppen?
Hanns Graaf: Wir sollten uns keine Illusionen machen. Auch eine zehnmal größere Bewegung als aktuell wäre nicht stark genug, die Ampel von ihrem US-hörigen Vasallenkurs abzubringen. Das wäre nur möglich, wenn die Gewerkschaften aktiv werden würden, mit massenhaften Streiks und indem sie sich gegen die SPD-Politik stellen. Es geht auch nicht nur um den Krieg an sich, sondern – im größeren Maßstab gesehen – darum, oppositionelle, aktive Menschen zu sammeln und zu organisieren. Wer heute gegen den Kriegskurs der Ampel ist, lehnt meist ja auch deren sonstige Politik ab. Wir dürfen auch nicht außer acht lassen, dass es bestimmte Entwicklungen geben kann, die die Situation zuspitzen. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass der Krieg in der Ukraine durch den Sieg Russlands beendet wird oder aber beide Seiten über ein Patt nicht hinauskommen, sich abnützen und der Krieg aufgrund der Erschöpfung aller Seiten beendet wird. Ein Sieg des Westens, d.h. der komplette Rückzug Putins aus der Ukraine inkl. der Krim, ist hingegen völlig unrealistisch.
Das Problem der Linken ist aber, dass sie in vielen Fragen zentrale Projekte der Regierung mittragen bzw. mitgetragen haben: die Corona-Hysterie, den Klimaschutz, die Energiewende usw. usw. Deshalb ist es ihr auch so schwer möglich, sich als Opposition zu positionieren. Es ist unmöglich, von der falschen Seite der Barrikade aus zu den richtigen Menschen sprechen. Es ist enervierend, mitansehen zu müssen, wie Linke sich immer wieder positiv zu solchen bürgerlichen Obskuranten wie Fridays for Future und Letzte Generation stellen, die sich um den Ukrainekrieg einen Dreck scheren bzw. die politischen Intentionen der Ampel grundlegend unterstützen. Wenn die Klimakleber sich wenigstens vor dem US-Stützpunkt Ramstein ankleben würden … Den meisten Linken kommt gar nicht in den Sinn, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen dieser Ignoranz bzw. der Zustimmung zum Kriegskurs des Westens und den anderen Weltbeglückungs-Projekten derselben politischen Kräfte wie den Lockdowns, der Klimahysterie usw. Immer mehr Menschen merken inzwischen, dass das alles fauler Zauber ist und nur der Profitmacherei, der Indoktrination und der Beherrschung der Menschen dient.
Redaktion: Danke für das Gespräch.