Gesellschaftsformation und Revolution

Hanns Graaf

Eine „Weltanschauung“, eine politische Theorie und jede Programmatik müssen sich daran messen, inwieweit sie in der Lage sind, bestimmte Epochen der Menschheitsgeschichte zu analysieren und Grundmerkmale herauszuarbeiten, durch die sie sich auszeichnen. Sie müssen in der Lage sein, den Übergang von einer Epoche zu einer anderen, etwa vom Feudalismus zum Kapitalismus, zu erklären. Allein schon der Versuch, dieses zu leisten, hebt die marxistische Geschichtskonzeption von anderen ab, die nur einzelne Phänomene, nur eine Abfolge verschiedener Ideen, Herrscher oder Staaten betrachten oder überhaupt jede Systemalternative ablehnen.

Der Marxismus ist eine materialistische Anschauung, die von der realen materiellen Welt und ihrer inneren Komplexität, Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit ausgeht; sie ist damit grundlegend entgegengesetzt jeder Ansicht, die die Welt als „göttliche Einrichtung“ ansieht. Marx und Hegel waren darin einig, dass die Welt sich „aufwärts“ entwickelt und dabei allgemeinen „Prinzipien“, Dialektik genannt, folgt. Sie sind aber zugleich entgegengesetzt insofern, als Marx vom Primat der materiellen Verhältnisse ausging, während Hegel einen „Weltgeist“ wirken sah.

Marx´ Geschichtsauffassung

Für Marx wird eine Gesellschaftsformation (Gesellschaftsordnung) wesentlich durch die Produktionsweise (PW) bestimmt. Diese besteht aus dem Zusammenhang von Produktivkräften (PK) und Produktionsverhältnissen (PV). Zu den PK gehören v.a. der Mensch sowie die von ihm erzeugten Produktionsmittel (PM), Wissenschaft und Technik. Die PV setzen sich aus all jenen staatlichen, politischen, rechtlichen u.a. Strukturen zusammen, unter denen das soziale Leben und v.a. die materielle und geistige Produktion der Gesellschaft stattfinden. Marx fasst diese Strukturen auch mit dem Begriff „Überbau“ über der materiell-produktiven „Basis“ zusammen. Insofern bestimmt für Marx v.a. das Sein, die materielle Lebenstätigkeit, das Bewusstsein, was jedoch kein mechanisches Verhältnis darstellt, sondern eine dialektische Wechselwirkung inkludiert.

PK und PV stellen eine Einheit von Widersprüchen dar, in der einmal dieser, einmal jener Faktor die Entwicklung voran treiben. In historischen Dimensionen betrachtet sind es jedoch die PK, die in Widerspruch zu den PV geraten, über sie hinaustreiben und zu einem qualitativen Sprung führen: zu einer neuen Gesellschaftsformation. In politischen Kategorien ausgedrückt erfolgt dann eine Revolution, eine andere Klasse ergreift die Macht und strukturiert die Gesellschaft in ihrem Interesse um. Die bereits vorher erfolgten quantitativen Veränderungen schlagen in eine neue soziale Gesamtqualität um. Die PK können sich in den neuen, „weiteren“ PV besser entwickeln. Im Zuge der Revolution verändert sich auch die Klassenstruktur der Gesellschaft, alte Klassen und Schichten gehen unter oder verlieren an Bedeutung, neue wachsen gewaltig bzw. gewinnen an Einfluss. So gab es auch schon im Spätfeudalismus Proletarier und Kapitalisten, jedoch waren die Proletarier nur eine kleine Minderheit, sie hatten sich noch nicht als „Klasse an sich“ (Marx) konstituiert. Dafür musste ihre Zahl erst gewaltig zunehmen, indem Millionen von kleinen Bauern bzw. Leibeigenen und Handwerkern zu Proletariern wurden. Das erforderte und ermöglichte einen großen Bereich kapitalistischer Produktion – erst Manufakturen, dann industrielle Betriebe und schließlich Großkonzerne -, wo die Arbeiterklasse vom Kapital konzentriert und organisiert wurde. Erst die industrielle, technisch wie juristisch normierte Massenproduktion schuf die moderne Bourgeoisie und ermöglichte die Akkumulation von Kapital auf großer Stufenleiter.

Es waren nicht primär Ideen, die den Kapitalismus erzeugten, sondern handfeste materielle Faktoren: das massenhafte Auftauchen von Edelmetallen (europäischer Silberbergbau, Gold aus der „Neuen Welt“), das Bauernlegen und antifeudale Reformen, die massenhaft Lohnarbeiter erzeugten, der Durchbruch der Naturwissenschaft, die Erfindung der Dampfmaschine, die mechanische Revolution der Maschinerie, die Nutzung von Strom usw. usw. Diese Umwälzungen des materiellen Lebens erzeugten wieder neue Ideen und Erfindungen, die aus den Bedürfnissen und Problemen der Realität und ihren objektiven Zwängen, z.B. der Konkurrenz, abgeleitet wurden. Marx und Engels haben an vielen Stellen ihres Werkes diese Entwicklungen dargestellt und aus diesen Analysen ihre Konzeption der geschichtlichen Entwicklung hergeleitet.

Die Geschichte zeigt, dass es aber nicht einfach bestimmte Entwicklungen der technischen PK waren, die zu revolutionären Veränderungen geführt haben, sondern dass es dazu auch einer bewussten Bewegung einer bzw. mehrerer Klassen bedurfte. Diese sozialen Milieus mussten sich ihrer Interessen erst bewusst werden, mussten sie artikulieren und kulturelle, philosophische und politische Strukturen erzeugen, mit denen sie ihre Interessen durchkämpfen konnten. Die revolutionäre Klasse musste sich dabei als Akteur des allgemeinen Fortschritts und als Interessenvertreter aller bisher Unterdrückten inszenieren. So war der Humanismus des revolutionären Bürgertums zwar letztlich nur verallgemeinerter, „idealisierter“ Ausdruck ihres Wunsches nach einer Verallgemeinerung des kapitalistischen Lohnarbeitssystems, doch zugleich war er auch Ausdruck eines wirklichen allgemeinen Fortschritts – der allerdings schon den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital in sich barg, der zum Sprengsatz der neuen, kapitalistischen Gesellschaft werden sollte.

Marx schrieb einmal: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“ (MEW 13, S. 9)

Linke und Marxisten deuten diese Aussage oft in dem Sinn, dass der Kapitalismus ab einem bestimmten Punkt nicht mehr in der Lage wäre, die PK weiter zu entwickeln. Dann stünde er quasi vor dem Untergang. Das ist allerdings eine Verballhornung von Marx. Er sagt ja gerade, dass die kapitalistische Gesellschaft für bestimmte PK durchaus „weit genug ist“. Ein Stillstand der Entwicklung wird insofern im Kapitalismus kaum eintreten. Auch die vorkapitalistischen Ordnungen sind nicht untergegangen, weil sie hinsichtlich der Produktivkraftentwicklung am Ende gewesen wären. Obwohl ihre Dynamik weit geringer war als im Kapitalismus hätten sie noch lange weiter existieren können – wenn nicht in ihrem Schoße PK entstanden wären, die mit den vorhandenen PV kollidierten. Eine neue Gesellschaft war nicht deshalb notwendig, um die alten PK besser zur Geltung zu bringen, sondern die neuen. Diese waren bereits „im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden“.

Ein Beispiel: Mit der Globalisierung ist der Transportsektor gewaltig verändert und weit produktiver – und damit billiger – geworden. Nur deshalb war die Globalisierung überhaupt möglich. So ist es heute normal, dass Zahnbürsten, Hauspantoffeln, Öl, Gas und Maschinenteile rund um den Globus geschippert werden. Mit dem alten Niveau des Seetransports wären alle Vorteile von Billigjobberei und neoliberalen Reformen in der imperialistischen Peripherie für die enormen Transportkosten draufgegangen. Die technische Grundlage der Globalisierung, die v.a. auf dem Seeweg stattfindet, ist das Internet, sind riesige Schiffe, die Containertechnik und IT-gesteuerte Containerterminals. Es ist allerdings klar, dass es hier keinen großen Spielraum mehr gibt. Es wird weder Riesencontainer mit 10×20 Metern geben, Schiffe mit einer Million BRT, noch entsprechende Häfen und Kanäle für sie usw. usw. Einen wirklichen Sprung in der PK-Entwicklung in diesem Bereich kann es nur geben, wenn der Welthandel wieder begrenzt und vermindert wird, indem die Produkte wieder vor Ort hergestellt werden, was zu 99% problemlos möglich wäre. Dafür wäre es aber notwendig, dass es eine allgemeine Planung von Produktion und Transport gibt, dass die Unterschiede bei Bezahlung, Umweltstandards usw. zwischen den Ländern, v.a. zwischen den Zentren und der „3.Welt“ verschwinden. Das ist aber im Kapitalismus tendenziell unmöglich, dafür sind nur die PV des Kommunismus „weit genug“.

Der revolutionäre Bruch

Zwischen dem Übergang von einer zu einer anderen Klassengesellschaft und dem Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus gibt es einen wesentlichen Unterschied. Bei beiden geht es darum, ein höheres Niveau der PK zu etablieren, Beim Übergang zum Kommunismus geht es aber darum, dass die revolutionäre Klasse, das Proletariat, von einer sehr anderen Grundlage ausgeht, als etwa die Bourgeoisie oder jede andere Ausbeuterklasse in der Geschichte. Jede Klasse von PM-Besitzern hat den Vorteil, dass sie mehr oder weniger Elemente ihrer PW schon „im Schoß der alten Gesellschaft“ entwickeln konnte. Sie war zwar in Relation zur alten herrschenden Klasse auch mehr oder weniger „unterdrückt“ und daran gehindert, sich einen noch größeren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt anzueignen, doch zugleich war sie selbst eine ausbeutende und privilegierte Klasse. So war es der Bourgeoisie schon unter feudalen Verhältnissen möglich, sich höhere Bildung anzueignen und oft über mehr Reichtum zu verfügen als der Adel. Dadurch war sie auch in der Lage, eine eigene Ideologie, eigenen politischen Vereinigungen und überhaupt alle möglichen sozialen Verbindungen aufzubauen und zu nutzen.

Ganz anders stellt sich die Sache für das Proletariat dar. Es ist im Kapitalismus, besonders in dessen früher Phase, eine in jeder Hinsicht unterdrückte, ausgebeutete und unterprivilegierte Klasse. Fast jeder Zugang zu Kultur, Bildung und „der weiteren Welt“ war ihr verwehrt. Damit waren ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, sich als Klasse zu formieren, Strategien und Taktiken für den Kampf um die Macht zu erarbeiten und Konzeptionen für eine nachkapitalistische Gesellschaft zu entwickeln, begrenzt. Von einer proletarischen PW konnte schon gar keine Rede sein. Deshalb ist es für die Arbeiterklasse besonders notwendig, sich eine eigene Weltanschauung und ein eigenes System von Strategie und Taktik des Klassenkampfes zu erarbeiten. Dieses erfolgte zum erheblichen Teil von Menschen, die nicht aus dem Proletariat kamen, weil sie über Möglichkeiten verfügten, sich dieser Aufgabe zu widmen. Marx, Engels oder Lenin sind Beispiele dafür.

Sozialistisches Bewusstsein

Aus dieser Problematik wurde oft die These abgeleitet, dass das sozialistische Bewusstsein nur von außen der Klasse vermittelt werden könne. Lenin hat das oft betont und u.a. daraus die besondere Roll der Partei abgeleitet. Hier argumentierte Lenin allerdings sehr kurzschlüssig. Denn 1. gab es sehr wohl auch immer Proletarier – oft wandernde Handwerkergesellen, die den normalen Erfahrungsbereich des Proletariers überschritten -, die relevante Beiträge zur konzeptionellen Arbeit und zur Formierung der Arbeiterbewegung geleistet haben. Hier seien stellvertretend nur Wilhelm Weitling und August Bebel genannt. 2. ist die gesamte Programmatik der Arbeiterbewegung letztlich nur eine systematische Verarbeitung der Erfahrungen aus den praktischen Kämpfen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Pariser Kommune, die von Marx analysiert wurde, v.a. hinsichtlich der Staatsfrage. 3. hat sich das Proletariat im Laufe von Jahrzehnten hinsichtlich seiner Bildung und Kultur gewaltig entwickelt. Von einer ungebildeten, kulturlosen Klasse kann heute nicht mehr die Rede sein. 4. besteht das Klassenbewusstsein nicht nur aus einer bestimmten politischen Haltung, sondern umfasst auch andere Elemente wie kulturelle Faktoren oder berufliches Fachwissen. Klassenbewusstsein ist letztlich die Gesamtheit der spezifischen ideellen Verarbeitung sozialer Erfahrungen einer Klasse. Marx schrieb in den „Feuerbachthesen“: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“

Lenins tendenzielle Interpretation des Klassenbewusstseins als nur politisches führte dazu, dass er die Rolle der Partei als der Institution, die dieses sozialistische Bewusstsein in die Klasse tragen kann, überhöhte und andere Bereiche, wo (proletarisches) Bewusstsein sich umwälzt und entwickelt, unterschätzte: das Rätesystem, die Genossenschaften und die Selbstverwaltung. Obwohl man Lenin, den Bolschewiki und der frühen Komintern nicht vorwerfen kann, dass sie diese Strukturen abgelehnt hätten, blieb ihr Verständnis davon relativ abstrakt und spielte in ihrer Praxis nicht die Rolle, die sie hätten spielen können. Räte und Selbstverwaltung wurden stiefmütterlich behandelt. Sie wurden letztlich gegenüber der Partei als zweitrangig angesehen. In der Revolution, wo es um die Machtfrage, also primär um Politik geht, fällt das nicht so ins Gewicht. Hier ist die Bedeutung der Partei als Klassenführung überragend. Doch mit der Periode des friedlichen Aufbaus, in Sowjetrussland ab 1921, war ein Paradigmenwechsel erforderlich: die Bedeutung der Räte, der Genossenschaften und der Selbstverwaltung nahm objektiv zu – als Ausdruck der Zunahme „nichtpolitischer“ Sachfragen in der sozialen Entwicklung. Doch es gab diese Strukturen kaum und es wurde wenig getan, sie auf- und auszubauen – im Gegenteil: wo es sie gab, wurden auch sie in den bürokratischen Staat integriert oder ihm untergeordnet. Die Partei spielte weiter die zentrale Rolle, aber nicht als nur A priori-Führung, sondern – unter Stalin – als Zucht- und Kerkermeister. Die Unterordnung der Klasse unter die Partei bzw. den Partei-Staats-Apparat stellt ein Korsett dar, das in besonderen Momenten die Klasse stützte, wenn es an anderen Stützen, z.B. den Räten, die in Krise und Bürgerkrieg kollabiert waren, mangelte. Doch dieses Korsett behindert auch die freie Bewegung, das freie Atmen der Klasse. Die Bolschewiki erkannten zu spät und waren konzeptionell nicht darauf vorbereitet, dass der von ihnen aufgebaute Partei-Staatsapparat, der neben, über und schließlich anstatt der Sowjets bestand, die soziale Entfaltung der Massen hemmte und zum Nährboden der Bürokratie wurde und werden musste.

Das Proletariat als revolutionäre Klasse

Kommen wir wieder auf eine allgemeinere Ebene zurück. Es ist unbestritten, dass die Arbeiterklasse als unterdrückte Klasse im Kapitalismus zu wenige Chancen hat, sich mit der “großen Politik“ und dem Management der Gesellschaft zu befassen. Von allen wichtigen Entscheidungen, ob in der Politik, im Staat oder in der Wirtschaft, ist sie weitgehend ausgeschlossen. Trotzdem sah Marx aber das Proletariat als einzig konsequent revolutionäre Klasse an, u.a. deshalb, weil sie am engsten mit dem Produktionsprozess, mit den modernen Produktionsmitteln verbunden ist. Wieder war es Lenin, der in „Staat und Revolution“ behauptete, dass die Arbeiterschaft schon im Kapitalismus sich alle Fähigkeiten aneignen würde, um die Gesellschaft zu verwalten. Das ist nicht nur empirisch falsch, es bleibt hier auch ausgeblendet, dass der Sozialismus ja eine völlig andere Gesellschaft ist als der Kapitalismus. Der Untertanengehorsam, das „Funktionieren“ des Arbeiters im Kapitalismus sind sicher keine hinreichenden Fähigkeiten für den Aufbau des Sozialismus. Diese – gelinde gesagt – naive Einschätzung der Arbeiter, die Lenin hatte, war sicher auch Ergebnis dessen, dass er mit dem realen Leben der Arbeiterklasse als hauptamtlicher Politiker wenig zu tun hatte. Lenins Einschätzung geht auch nicht zufällig Hand in Hand mit seiner Meinung, dass die Verwaltung der nachkapitalistischen Wirtschaft durch einen Staat möglich sei – anstatt durch die räte-artigen und genossenschaftlichen Basisstrukturen der Arbeiterklasse. Wiederholt hat er sich nach 1917 für einen „Staatskapitalismus“ – also eine Staatswirtschaft ausgesprochen – allerdings unter Kontrolle der proletarischen Partei.

Hinsichtlich des revolutionären Übergangs stellt sich also das Problem, dass das Proletariat die historisch gesehen gründlichste, radikalste Umwälzung zustande bringen soll, dafür aber weniger qualifiziert ist als die früheren besitzenden Klassen für ihre Umwälzungen. Zudem kann es sein sozialistisches Bewusstsein nicht direkt aus den bürgerlichen Verhältnissen ableiten, wie es die Bourgeoisie konnte, da diese in Ansätzen schon vor der bürgerlichen Revolution bestanden.

Wie kann die Arbeiterklasse nun aus diesem Dilemma herauskommen? Erstens – wie schon dargelegt – dadurch, dass sie den Klassenkampf führt und Lehren daraus ableitet. Zweitens kann sie die Hilfe von Sozialisten „von außen“ nutzen. Drittens – und hier kommen wir zu einem wunden Punkt der revolutionären Arbeiterbewegung – muss sie sich bereits vor der Revolution im Kapitalismus Stützpunkte schaffen, wo sie sich Erfahrungen aneignen kann. Einer dieser Stützpunkte ist die revolutionäre Partei. Sie dient dazu, ein Programm auszuarbeiten und auf dieser Basis Kader zu entwickeln und zu organisieren. Ein anderer Stützpunkt ist die Gewerkschaft. Hier kann die engste Beziehung von Kommunisten zu den Lohnabhängigen hergestellt werden. Hier sind die schweren Bataillone der Klasse zu finden und die (noch) nicht kommunistische Vorhut der Klasse. Um sie für den Kommunismus zu gewinnen, ist es notwendig, einen oppositionellen Kampf in der Gewerkschaft zu führen und entsprechende Strukturen, z.B. eine kommunistische Fraktion, aufzubauen oder – im günstigsten, aber seltenen Fall – die Gewerkschaft selbst politisch führen.

Die Arbeit in der Partei und in der Gewerkschaft ist aber (wie auch die Arbeit in allen anderen Strukturen) grundsätzlich beschränkt – in mehrfacher Hinsicht; dadurch, dass dort v.a. männliche Lohnabhängige erreicht werden; dadurch, dass es sich hierbei eher um die politisch fortgeschritteneren Teile der Bevölkerung handelt; weil beide Strukturen eher ein Platz für politische Tätigkeit sind, die zudem nur epidosenhaften Charakter hat, weil man in Partei und Gewerkschaft kein Leben verbringt, keinen Alltag, sondern nur stundenweise aktiv ist. Streiks finden sehr selten statt, in vielen Bereichen nie.

Ganz anders sieht es hingegen in selbstverwalteten Bereichen und in Genossenschaften aus. Hier findet reales Leben statt – permanent. Hier sind alle Milieus von Menschen zu finden. Hier müssen und können soziale Erfahrungen (nicht nur direkt politische) tagtäglich gesammelt werden. Anders als etwa in einem „normalen“ kapitalistischen Betrieb (im privaten wie im staatlichen) muss das Genossenschaftsmitglied, v.a. in einer Produktionsgenossenschaft, sich täglich um alles kümmern, was sein Unternehmen betrifft. So kann es Erfahrungen machen, die für die Gestaltung des Sozialismus wichtig sind. Diese Möglichkeit bieten Partei und Gewerkschaft nicht oder nur sehr eingeschränkt. Für die Konstituierung des Proletariats zum historischen Subjekt, für seine Qualifizierung, um nicht nur die Revolution zum Sieg führen, sondern auch den Sozialismus aufbauen zu können, sind Selbstverwaltungsstrukturen daher von großer Bedeutung. Nur sie ermöglichen es (neben den Gewerkschaften), schon im Kapitalismus, breitere Massen zu erreichen und sich soziale Erfahrungen (im Unterschied zu „nur“ politischen) anzueignen. Nur durch sie kann das politische „Wollen“ durch das soziale „Können“ ergänzt werden.

Eine besondere Rolle spielen Rätestrukturen. Dort interagiert in besonderer Weise das Politische mit dem Sozialen, das „Parlamentarische“ mit dem „Exekutiven“. Doch Räte können sich nur in (vor)revolutionären Momenten bilden. Trotzdem sind sie für die Formierung des Proletariats als „Klasse für sich“ schon im Kapitalismus wichtig. Im Sinne der Übergangsmethodik geht es im Klassenkampf, wenn er revolutionär geführt wird, permanent darum, a) die Rätedemokratie propagandistisch als Alternative zum bürgerlichen System darzustellen und b) in allen Konflikten dafür einzutreten, dass das Proletariat eigene Strukturen aufbaut, wo sie ihre Interessen artikulieren und in Aktion umsetzen kann: dazu zählen etwa von der Basis gewählte Streikkomitees, Streikposten, Kontrollkomitees u.a. Arten selbstverwalteter Strukturen. Dabei geht es letztlich immer darum, dass sich die Klasse politisch und organisatorisch unabhängig macht – vom Reformismus, von Staat und von der Bourgeoisie. Im Arbeiterstaat schließlich sind die Räte bzw. das Rätesystem, zu dem neben den eigentlichen Räten auch Selbstverwaltungsstrukturen, Genossenschaften u.a. Organe gehören, die strukturelle Grundlage der Gesellschaft und nicht nur Organe, die für mehr Demokratie sorgen. Ohne Rätesystem ist es den Produzenten und Konsumenten unmöglich, wirkliche Verfügung über die Produktionsmittel zu haben. Der Stalinismus und sein Scheitern haben uns gelehrt, dass es ohne Rätesystem unmöglich ist, zum Kommunismus zu gelangen.

Marx meinte, dass nur das Proletariat ein wirklich konsequent revolutionäre Klasse ist. Er begründete das damit, dass die Arbeiterklasse a) kein Produktionsmittel und daher auch keinen daraus gezogenen Reichtum verfügt, der zu bornierten Interessen führt. B) ist sie ausgebeutet und unterdrückt. C) ist sie eine Klasse, die die Mehrheit oder eine starke Minderheit der Gesellschaft stellt, und d) ist sie sehr eng mit der modernen Produktivkraftentwicklung verbunden. Letzteres erlaubt ihr auch, eine nachkapitalistische Ordnung aufzubauen.

Zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass das Bürgertum seine Produktionsweise bereits vor der Revolution schon in Ansätzen etablieren konnte und über erhebliche ökonomische Macht verfügte, während das dem Proletariat nicht möglich war. Hieraus ziehen revolutionäre Linke meist den Schluss, dass die Arbeiterklasse erst die politisch-administrative Macht erobern müsse, bevor sie die materielle Basis der Gesellschaft, v.a. die Eigentumsverhältnisse, umwälzen kann. Damit einher geht oft die Vorstellung, dass es v.a. – genau gesagt – nur darauf ankomme, eine Partei aufzubauen, die in der Lage ist, die revolutionäre Ideologie in die Klasse zu tragen und diese in der Revolution zum Sieg zu führen. Eigene Produktionsstrukturen und Bereiche von Selbstverwaltung hingegen seien weniger wichtig und es wäre ohnehin gar nicht möglich, diese vor der Revolution aufzubauen. Rein zufällig waren es genau dieselben Leute, die auch nach der Revolution diesem Bereich wenig Aufmerksamkeit schenkten oder ihn gar verhinderten und alles dem bürokratischen Staat unterordneten.

Doch die Geschichte zeigt, wie falsch diese Auffassung ist. Das Proletariat hat sich – ganz ohne Aufforderung durch eine Partei – schon Genossenschaften und Selbstverwaltungsstrukturen geschaffen, als es noch eine Minderheit in der Gesellschaft war und sehr arm und ungebildet war. Sollte es dann nicht einem Proletariat, wie es heute besteht – als Mehrheitsklasse, die gebildet ist und einen wesentlich größeren finanziellen Spielraum hat als vor 100 oder 150 Jahren – viel leichter fallen, solche Bereiche aufzubauen?! Sicher ist es nicht möglich, dass Kapitalverhältnis auf gesellschaftlicher Ebene aufzuheben oder gar durch die Ausweitung des Genossenschaftssystems den Kapitalismus nach und nach evolutionär zu überwinden. Doch es wäre sehr wohl möglich, ein großes System aus Selbstverwaltungsprojekten zu schaffen, das ein Laboratorium für ein anderes, alternatives Leben zu dem im Kapitalismus ist, das es ermöglicht, wenn auch begrenzt, weitgehend solidarisch und selbstbestimmt zu leben, zu lernen und zu arbeiten.

Diese Selbstverwaltungsprojekte wären nicht nur Stützpunkte des Sozialismus, sondern auch Stützpunkte des Klassenkampfes. Das, und nicht die Vorstellung einer Staatswirtschaft, war auch die Intention von Marx, doch unter dem Einfluss der II. Internationale und auch Lenins, der in dieser Hinsicht an die Sozialdemokratie anknüpfte, gerieten Marx´ Ansichten zum Genossenschaftswesen in Vergessenheit. Selbst die Komintern hatte, z.B. auf ihrem IV. Kongress 1922, an verschiedenen Stellen programmatische Aussagen getroffen, die in diese Richtung gingen – allerdings folgte daraus in der Praxis wenig. Das lag wesentlich daran dass 1. in Sowjetrussland die Genossenschaftsfrage gelinde gesagt unterschätzt wurde und 2. daran, dass man damals mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus kurzfristig mit weiteren Revolutionen rechnete und daher die Genossenschaftsfrage, die ja eher mittel- und langfristig orientiert ist, wenig beachtet hat. Unter dem Einfluss des Stalinismus schließlich wurde sie vollkommen ad acta gelegt und war nur noch – in degenerierter Form – für die Landwirtschaft relevant.

Kriterien

Welchen Klassencharakter eine Gesellschaft bzw. ein Land hat, hängt für Marxisten v.a. davon ab, wer, welche Klasse, die entscheidenden (industriellen) Produktionsmittel besitzt: die Fabriken, die Banken, das Verkehrswesen usw. Aufgrund dessen, dass das Proletariat „seine“ Ökonomie nicht schon vor der Revolution umfassend etablieren kann, übernimmt es erst die politische Macht, bevor es nach und nach die Verfügung über die gesellschaftliche Basis übernimmt. Ein Beispiel dafür ist die Russische Revolution von 1917. Im Oktober 1917 stürzte das Proletariat die bürgerliche Kerenski-Regierung und übernahm die Macht. Die Ökonomie war zu der Zeit noch vollkommen bürgerlich. Allerdings gab es in den Fabriken oft Komitees der Arbeiter, die eine Kontrollfunktion über die betrieblichen Vorgänge inne hatten und eine Art Gegenmacht darstellten. Dazu existierten die Roten Garden und dem Proletariat ergebene Armeeeinheiten sowie die Sowjets der Arbeiter, der Soldaten und mitunter der Dorfarmut, welche die Basis der Revolution und der Sowjetregierung darstellten. Sie hatten die Macht, die Ökonomie und den gesamten Überbau der Gesellschaft nach und nach umzuwandeln. Das geschah auch in den kommenden Monaten, wo die Bourgeoisie als Klasse enteignet wurde. Deshalb ist es völlig korrekt, Sowjetrussland ab dem Oktoberumsturz als Arbeiterstaat oder synonym als Diktatur des Proletariats zu bezeichnen.

So nannten schon Marx und Engels die Pariser Kommune 1871, obwohl auch dort die Kommune-Regierung nur die politisch-exekutive Macht besaß, aber die ökonomische Basis noch nicht umgewälzt und das Privateigentum noch nicht enteignet war, weil die Kommune in ihrer sehr kurzen Existenz das noch nicht umsetzen konnte.

Übergangsgesellschaft

Dieses Neben- und Gegeneinander von proletarischem Überbau und noch bürgerlicher ökonomischer Basis kennzeichnet notwendig den Beginn der Übergangsphase zur Formation des Kommunismus. Marx und Engels haben zwar keine eigentliche Theorie dieser Übergangsgesellschaft erarbeitet, ihnen war aber durchaus klar, dass die Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft, die ja sogar noch vorkapitalistische Strukturen enthält, nicht abrupt, schlagartig erfolgen kann, sondern eine ganze Phase von sehr tiefgehenden Reformen darstellt. Der Akt der Revolution selbst schafft nur die Voraussetzungen dafür: die revolutionäre Formierung der Klasse und die Errichtung der proletarischen Staatsmacht.

Das Kommunistische Manifest

Im „Kommunistischen Manifest“ von 1847 skizzieren Marx und Engels, wie sie sich die Übergangsgesellschaft vorstellen und stelle dazu 10 Forderungen auf:

Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:

  • „Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.
  • Starke Progressivsteuer.
  • Abschaffung des Erbrechts.
  • Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.
  • Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.
  • Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.
  • Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung aller Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
  • Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.
  • Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.
  • Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.

Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.“

Hier ist nicht von einer sofortigen Enteignung der gesamten Bourgeoisie die Rede, sondern „nur“ davon, dass dies „im Laufe der Entwicklung“ erfolgen soll. Zunächst geht es v.a. darum, die politisch-administrative Macht des Proletariats zu sichern. Auf dem Gebiet der Wirtschaft geht es v.a. um antifeudale Reformen, die „Verstaatlichung“ bestimmter Bereiche, die für die Gesamtwirtschaft relevant sind (Bankwesen, Energiesektor, Bahn, Post usw.) und die Entwicklung der PK, z.B. durch „Vermehrung der Nationalfabriken“. Marx zielt also, ganz allgemein gesagt, v.a. auf die Änderung der PV. Er spricht hier noch nicht davon, wie genau die neue „Staats“-Struktur des Proletariats aussehen soll. Zu genaueren Ansichten dazu kam er erst mit der Analyse der Pariser Kommune und ihrer Räteorganisation von 1871.

Auch der Begriff der „Verstaatlichung“ wird 1847 nicht genauer erläutert. Aus dem Gesamtwerk von Marx und Engels ist aber klar ersichtlich, dass sie darunter keineswegs das verstanden, was später die Sozialdemokratie, Lenin oder in besonders krasser Weise Stalin und seine Nachfolger verstanden: den absoluten Zugriff einer separaten Staats- und Parteibürokratie auf Wirtschaft und Gesellschaft. Es gibt bei Marx genügend Belege dafür, dass er dem Genossenschaftssystem – schon vor der Revolution (!) – sehr positiv gegenüber stand.

Während der 1848er Revolution

Kurz nach dem „Manifest“, im Flugblatt „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ vom 30. März 1848 – nun bereits während der Revolution – stellen Marx u.a. folgende Forderungen auf:

  1. „Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt.
  2. Jeder Deutsche, der 21 Jahre alt, ist Wähler und wählbar, vorausgesetzt, dass er keine Kriminalstrafe erlitten hat.
  3. Die Volksvertreter werden besoldet, damit auch der Arbeiter im Parlament des deutschen Volkes sitzen könne.
  4. Allgemeine Volksbewaffnung. Die Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen, so dass das Heer nicht bloß, wie früher, verzehrt, sondern noch mehr produziert, als seine Unterhaltungskosten betragen. Dies ist außerdem ein Mittel zur Organisation der Arbeit.
  5. Die Gerechtigkeitspflege ist unentgeltlich.
  6. Alle Feudallasten, alle Abgaben, Fronden, Zehnten etc., die bisher auf dem Landvolke lasteten, werden ohne irgendeine Entschädigung abgeschafft.
  7. Die fürstlichen und andern feudalen Landgüter, alle Bergwerke, Gruben usw. werden in Staatseigentum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerbau im großen und mit den modernsten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vorteil der Gesamtheit betrieben.
  8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum erklärt. Die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt.
  9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer an den Staat gezahlt.
    Alle diese unter 6, 7, 8 und 9 angegebenen Maßregeln werden gefasst, um öffentliche und andere Lasten der Bauern und kleinen Pächter zu vermindern, ohne die zur Bestreitung der Staatskosten nötigen Mittel zu schmälern und ohne die Produktion selbst zu gefährden. Der eigentliche Grundeigentümer, der weder Bauer noch Pächter ist, hat an der Produktion gar keinen Anteil. Seine Konsumtion ist daher ein bloßer Missbrauch.
  10. An die Stelle aller Privatbanken tritt eine Staatsbank, deren Papier gesetzlichen Kurs hat. Diese Maßregel macht es möglich, das Kreditwesen im Interesse des ganzen Volkes zu regeln und untergräbt damit die Herrschaft der großen Geldmänner. Indem sie nach und nach Papiergeld an die Stelle von Gold und Silber setzt, verwohlfeilert sie das unentbehrliche Instrument des bürgerlichen Verkehrs, das allgemeine Tauschmittel, und erlaubt, das Gold und Silber nach außen hin wirken zu lassen. Diese Maßregel ist schließlich notwendig, um die Interessen der konservativen Bourgeois an die Revolution zu knüpfen.
  11. Alle Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt.
  12. In der Besoldung sämtlicher Staatsbeamten findet kein anderer Unterschied statt als der, dass diejenigen mit Familie, also mit mehr Bedürfnissen, auch ein höheres Gehalt beziehen als die übrigen.
  13. Völlige Trennung der Kirche vom Staate. Die Geistlichen aller Konfessionen werden lediglich von ihrer freiwilligen Gemeinde besoldet.
  14. Beschränkung des Erbrechts.
  15. Einführung von starken Progressivsteuern und Abschaffung der Konsumtionssteuern.
  16. Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen.
  17. Allgemeine, unentgeltliche Volkserziehung.

Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürger- und Bauernstandes, mit aller Energie an der Durchsetzung obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklichung derselben können die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen, als den Hervorbringern alles Reichtums, gebührt.“

Es ist unverkennbar, dass man hier an der grundsätzlichen Intention des „Manifests“ festhielt. Zugleich wird aber deutlich, dass auch Modifizierungen vorgenommen worden sind. So fehlt hier jede Forderung nach Enteignung der Bourgeoisie, außer von Bergwerken, Eisenbahnen und Banken. Es geht also auch hier v.a. darum, den „Rahmen“ der Wirtschaft zu verändern. Ja, es geht sogar darum, „die Interessen der konservativen Bourgeois an die Revolution zu knüpfen“, während noch ein Jahr zuvor im „Manifest“ davon die Rede war, die Bourgeoisie „im Laufe der Entwicklung“ zu enteignen.

Wie können wir uns das erklären? Das „Manifest“ ist ein Programm, das die allgemeine Konzeption des Marxismus darlegt. Es ist ein „ideologisches“ Programm, in dem aktuell-praktische Aspekte, Forderungen und die Taktik im Klassenkampf (noch) nicht im Zentrum stehen. In den „Forderungen“ ist es genau umgedreht. Hier spielen historische Herleitungen und weltanschauliche Prinzipien keine Rolle, hier geht es um eine klare Aktionsorientierung für eine konkret Situation. Die 1848er Revolution wurde von Bürgertum geführt, das (damals noch wenig industriell strukturierte) Proletariat stellte die schweren Bataillone im Kampf. Insofern ging es also zunächst um demokratische und antifeudale Reformen, aber bereits auch darum, dass die Arbeiterklasse als selbstständige Klassenkraft auftritt und eigene Forderungen aufstellt. Das betonte Marx auch in mehreren programmatischen Beiträgen des „Bundes“ nach der Revolution. Das „Manifest“ von 1847 und die „Forderungen“ von 1848 stehen also nicht im Widerspruch zueinander, sondern stellen nur spezifische Arten eines revolutionären Programms dar.

Beide Programme betonen, dass das Proletariat eine eigenständige Rolle im geschichtlichen Prozess spielen kann und muss. Bezüglich der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft bedeutet das im marxschen Sinn, dass die Arbeiterklasse alle wirtschaftlichen und sozialen Prozesse möglichst direkt steuern muss. Weder eine andere Klasse oder Kaste noch ein „abgehobener“ Staat können diese Funktionen ausüben – jedenfalls nicht im Interesse des Proletariats und der Mehrheit der Gesellschaft. Beide Programme zeugen aber auch zugleich auch vom historisch begrenzten Stand der Entwicklung der Konzeption von Marx und Engels. Noch ist ihnen nicht klar, welche Art „Staat“ das Proletariat für seine Zwecke braucht. Diese Erkenntnis arbeitete Marx erst mit seiner Analyse der Pariser Kommune von 1871 heraus. Hier sagt er ganz klar, dass nicht der traditionelle Staat, sondern nur eine Rätestruktur den Bedürfnissen der Befreiung der Arbeiterklasse entspricht.

Bezüglich der revolutionären Konzeption der Ablösung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Kommunismus bzw. zuerst in Gestalt der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) heißt das, dass die Arbeiterklasse zuerst die PV, zu denen u.a. die Eigentumsverhältnisse zählen, verändert, um der Entwicklung der PK einen weiteren Rahmen zu geben als zuvor und so deren Dynamik (inkl. der Hervorbringung ganz neuer PK) zu erhöhen. Marx und Engels haben kein System erarbeitet, wie die nachrevolutionäre Gesellschaft aussehen und funktionieren könnte. Es gibt dazu „nur“ einige, über ihr Werk verstreute Bemerkungen. Leider haben es die Sozialdemokratie, aber auch deren revolutionärer Flügel um Luxemburg, Lenin u.a. versäumt, die Ansätze von Marx und Engels systematisch weiterzuarbeiten. Die „Verfügung“ der Arbeiterklasse über Ökonomie und Gesellschaft wurde bei ihnen meist darauf begrenzt, dass die Arbeiterklasse den Staat, das Parlament u.a. bürgerliche Strukturen übernimmt oder modifiziert. Lenin betonte zwar die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates – doch nur, um an dessen Stelle einen wiederum „abgehobenen“, „separaten“ Partei-Staat zu stellen und kein Rätesystem.

Die Marxsche Idee des auf Räten gegründeten Kommune“staates“ und der genossenschaftlichen Selbstverwaltung wurden weitgehend „vergessen“. Insofern ging die Sozialdemokratie nicht nur keinen Schritt über Marx hinaus, sie ging einen Schritt zurück und verballhornte Marx. Anstelle der Selbstorganisation des Proletariats in allen Bereichen der Gesellschaft trat 1. die Verengung dieser Organisation auf nur politische Strukturen (Partei, Gewerkschaft) und 2. die Orientierung auf die Nutzung des Staates, anstatt auf dessen Ersetzung durch eine Rätedemokratie. Kann man den Bolschewiki noch zugestehen, dass sie an Marx anknüpfen wollten, das aber konzeptionell nicht umzusetzen imstande waren, so müssen wir beim Stalinismus das komplette Fehlen jedes Ansatzes von proletarisch-genossenschaftlicher Selbstverwaltung zugunsten eines hyper-bürokratischen Systems vorwerfen.

Letztlich könnte man die Marxsche Intention der revolutionären Überwindung des Kapitalismus dahingehend zusammenfassen, dass die Selbstermächtigung der Arbeiterklasse, ihre Formierung in selbstverwalteten Strukturen der Kern der Sache ist. Alle „linken“ oder vorgeblich revolutionären oder marxistischen Organisationen und Ideologien, die das nicht ins Zentrum stellen, sind weder marxistisch noch revolutionär noch sozialistisch!

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