ABC des Marxismus 51: Was bedeutet „Friedliche Koexistenz“?

Mit der Oktoberrevolution war 1917 in Russland der erste Arbeiterstaat der Welt entstanden. Die regierenden Bolschewiki um ihre wichtigsten Führer Lenin und Trotzki sahen die Revolution in Russland als Teil des weltrevolutionären Prozesses. Doch dieser blieb stecken, weil die Revolutionen in anderen Ländern v.a. mangels potenter revolutionärer Führungen scheiterten. Der revolutionären Periode folgte ab 1923/24 eine Phase der relativen Stabilisierung des Kapitalismus. Die UdSSR blieb isoliert. Den Kommunisten stellte sich nun die Frage, wie die Beziehungen zwischen einem einzelnen Arbeiterstaat und seinem Umfeld aus kapitalistischen Ländern gestaltet werden musste.

Lenin, die Bolschewiki und die Kommunistische Internationale (Komintern) entwickelten das Konzept der „Friedlichen Koexistenz“. Es kristallisierte sich erst nach heftigen Konflikten in der bolschewistischen Partei heraus. So gab es eine starke Fraktion, die „Linkskommunisten“ um Bucharin u.a., die sich 1918 gegen den „Brester Frieden“ mit den Mittelmächten wandten und für die Fortsetzung eines revolutionären Krieges eintraten, während Lenin völlig richtig für einen Friedensschluss – als Atempause – eintrat, weil Sowjetrussland für eine Weiterführung des Krieges zu erschöpft war.

Das Konzept der „Friedlichen Koexistenz“ sah vor, dass zwischen Ländern unterschiedlicher Gesellschaftsordnung „normale“, gleichberechtigte wirtschaftliche Beziehungen hergestellt werden sollten. Diese Koexistenz bezog sich aber nicht auf Ideologie und Politik. Der Arbeiterstaat würde – genau wie sein kapitalistischer Gegner – nicht aufhören, das gegnerische System zu kritisieren und zu bekämpfen. Ein Arbeiterstaat würde alles tun, um überall revolutionäre Organisationen und Arbeiterkämpfe zu unterstützen und den Sturz des Kapitalismus voran zu treiben. Insofern ist die Taktik der „Friedlichen Koexistenz“ keine Neutralitäts-Politik, sondern Teil einer revolutionären Strategie. Lenin betonte mehrfach, dass die Politik der „Friedlichen Koexistenz“ ein Verhältnis zwischen einzelnen Staaten ist, die für eine bestimmte Phase gilt, aber kein Verhältnis zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftssystemen.

Nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1921 bemühte sich Sowjetrussland darum, die internationale Isolation zu durchbrechen und normale wirtschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarländern herzustellen. 1922 wurde der Rapallo-Vertrag zwischen Sowjetrussland und Deutschland abgeschlossen. Er beinhaltete den Verzicht auf Reparationen und förderte die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder. Der Handel belebte sich und westliches Kapital und Knowhow kamen nach Sowjetrussland, um den Aufbau voran zu bringen. V.a. deutsche Firmen, Facharbeiter und Spezialisten (oft links eingestellte Gewerkschafter oder Mitglieder der KPD) kamen nach Russland und bauten dort moderne Betriebe auf. Diese Politik war von beiderseitigem Vorteil. Auch Deutschland, das durch den Versailler Vertrag geknebelt und von Inflation und Wirtschaftskrise gebeutelt war, profitierte davon. Das war der Grund, warum auch einige bürgerliche Politiker, z.B. Walter Rathenau, sich dafür einsetzten. Auch in militärischer Hinsicht gab es eine (geheime) Kooperation, weil in Deutschland Rüstung und Militär durch den Versailler Vertrag stark eingeschränkt waren.

Obwohl man offiziell nie mit dem Prinzip der „Friedlichen Koexistenz“ gebrochen hat, verfolgte die UdSSR ab Mitte/Ende der 1920er Jahre und v.a. ab den 1930ern unter Führung Stalins eine wesentlich andere Außenpolitik. Diese richtete sich immer stärker darauf aus, strategische (!) Bündnisse mit imperialistischen Ländern zu schließen. Das versuchte Stalin in den 1930ern mit England und v.a. mit Frankreich. So sollte einem angeblich drohenden Angriff durch den Imperialismus begegnet werden. Doch es gab damals diese aktuelle Bedrohung gar nicht, denn kein Land war damals potent genug, die UdSSR, die damals über die stärkste Armee der Welt verfügte, in den 1920/30er Jahren anzugreifen. Im August 1939 offenbarte sich dann die inzwischen offen imperialistische Politik Stalins im Geheimvertrag mit Nazi-Deutschland, der diesem den Überfall auf Polen ermöglichte, an dem sich die UdSSR auch selbst beteiligte, um sich Ostpolen einzuverleiben. 1940 erpresste Stalin die baltischen Staaten, der UdSSR beizutreten. Diese Annektionspolitik, die mit starker Repression verbunden war, stieß mehrheitlich auf die Ablehnung durch die Bevölkerung der annektierten Gebiete und schürte antirussische und antikommunistische Ressentiments. Die dort eingeführten Verhältnisse waren staatskapitalistisch, ein Rätesystem gab es nicht, die demokratischen Rechte wurden stark beschränkt, Bürokratie und Geheimdienstapparat beherrschten die Gesellschaft.

Schon Mitte der 1920er forderte Stalin die Chinesische KP dazu auf, sich der bürgerlichen Kuomintang Tschiang Kaischeks unterzuordnen. Das Ergebnis dieser Politik war die blutige Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der KP durch Tschiang 1927.

Stalins so falsche wie dumme Politik gipfelte darin, dass er die UdSSR – trotz vieler konkreter Warnungen – nicht auf den offensichtlich drohenden Überfall Hitlerdeutschlands im Juni 1941 vorbereitete. So geriet das Land an den Rand des Zusammenbruchs und es dauerte vier Jahre, die Wehrmacht zu besiegen, obwohl die Rote Armee im Sommer 1941 der Wehrmacht in fast jeder Hinsicht überlegen war. Die Fehler Stalins haben Millionen unnötige Opfer unter den Sowjetbürgern gefordert und dazu geführt, dass das Land zu großen Teilen zerstört werden konnte und um Jahre in der Entwicklung zurückgeworfen wurde.

Ein zentraler Aspekt der Stalinschen Außenpolitik war die Volksfrontstrategie. Diese bedeutete: a) ein Bündnis von linken und Arbeiterorganisationen mit bürgerlichen (!) Parteien, um b) mit ihnen eine (bürgerliche) Koalitionsregierung zu bilden. Dazu wurde die Arbeiterklasse auf einen Reformkurs und auf den Verzicht auf die wesentlichen Forderungen des proletarischen Programms eingeschworen: auf die Enteignung der Bourgeoisie und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats. Dieser programmatische Verzicht war aber notwendig, damit die bürgerliche Seite dem Volksfrontbündnis überhaupt zustimmen konnte.

Praktisch wurde die Volksfront z.B. 1934 in Frankreich, wo die KP in einer vorrevolutionären Situation eine „links“-bürgerliche Regierung „tolerierte“, anstatt die Arbeiterkämpfe und Massenstreiks zur Revolution weiterzutreiben. Noch dramatischer und desaströser war die Volksfrontpolitik in Spanien ab 1936. Dort agierte die KP als Bremser der Revolution, die sie auf eine rein bürgerlich-demokratische Etappe begrenzen wollte. Ergebnis dieser Politik war ein verspätetes und völlig inkonsequentes Vorgehen gegen Franco, aber auch gegen die reaktionären bürgerlichen Kräfte im republikanischen System (Polizei, Staatsapparat) und die Bourgeoisie. Nur die Anarchisten und die POUM trieben die sozialökonomischen Veränderungen (Bodenreform, Enteignungen, Genossenschaftssystem usw.) konsequent weiter. Die Volksfront-Regierung bremste die Revolution und ermöglichte so Francos Sieg.

Die beste Chance, den Kapitalimus zu stürzen, gab es in Griechenland von 1944-46. Dort hatte die Partisanenbewegung die Macht praktisch schon in der Hand, sie kontrollierte das Land. Doch auch hier weigerten sich Stalin und die ihm folgende griechische KP, welche die Bewegung führte, die Macht zu übernehmen. Sie wollte – entsprechend der Übereinkunft über die Einflusszonen zwischen Stalin und den Westalliierten – einen Deal mit dem britischen Imperialismus. Dieser schlug – ohne jeden Widerstand Stalins – die griechischen Massen blutig nieder.

Frankreich, Spanien oder Griechenland waren jedoch keine Ausnahmen: immer und überall führte die Volksfront zu blutigen Niederlagen und vereitelte revolutionäre Möglichkeiten. Diese Volksfrontorientierung wurde allen KPen von Moskau vorgeschrieben, nachdem diese vorher gesäubert und einem bürokratischen Regime unterworfen worden waren.

Die fatale Militär- und Bündnispolitik sowie die Volksfrontstrategie Stalins (und aller seiner Nachfolger) hatte auch furchtbare Auswirkungen auf die „kommunistische“ Bewegung. Anstatt auf die Revolution orientierte man sich auf Übereinkommen mit den „demokratischen“ und „antifaschistischen“ Imperialismen – um kurz danach, 1939, sogar ein Bündnis mit Hitler einzugehen. Diese Politik konnte nur zu Demoralisierung und Verfall der kommunistischen Bewegung führen. Nicht nur das: Stalin löste 1943, als die Niederlage Hitlers bereits feststand, die Komintern auf.

Die Leninsche Taktik der „Friedlichen Koexistenz“, die in eine revolutionäre Strategie eingebettet war, mutierte im Stalinismus zu einer Strategie, die jede revolutionäre Dynamik blockierte und das Proletariat anstatt auf die Eroberung der Macht auf die Unterordnung unter bestimmte („demokratische“, „antifaschistische“) Fraktionen der Bourgeoisie orientierte. Sie führte auch nicht zum Frieden, sondern dazu, den Sturz des Kapitalismus, also jenes Systems, das immer wieder Kriege hervorbringt, zu vereiteln.

Noch heute folgen viele Linke und große Teile der Friedensbewegung der Methode der Volksfront insofern, als sie Bündnisse mit bestimmten Flügeln der Bourgeoisie bzw. deren Parteien, der Kirche oder Unternehmerverbänden bilden. So wurden lange die EU und Deutschland als „friedlicher“ und „humaner“ hingestellt als etwa die USA, z.B. während des ersten Irakkriegs. Doch auch die EU und Deutschland verfolgen – soweit es ihre Mittel erlauben – eine aggressive Außen- und Militärpolitik. Sie sind weder demokratisch, noch friedlich oder sozial. Sie sind imperialistisch. Anstatt auf die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf orientieren sich diese „linken“ Volksfrontler auf bürgerliche Ziele und Strukturen. So unterminieren sie letztlich die Formierung von Widerstand gegen Krieg und Kapitalismus.

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