Fundstück VI

Wir haben uns einen Menschentypus zurechtgezimmert – je nach Epoche einen anderen – und klammern uns so sehr daran, dass wir alles, was ihm nicht gleicht, als krank oder monströs erachten.

Ist nicht einer der Gründe für unsere eigenen Qualen die Entdeckung, die wir früher oder später machen, dass auch wir ihm nicht gleichen?

George Simenon, Der verlorene Sohn

Berlin. Reichstag

Hanns Graaf

Auferstandene
Ruine: Deutschlands alter
Geierkäfig.

Fledderer, die
Zogs gen Osten, als der
Abtrieb in den
Westen.

Glasgewölbe überm
Hohen Hause, dem
Palaver.

Volksvertreter:
Voll versorgt und ganz
Verkuppelt.

Ach,
In wilhelminischen
Mansarden
Wurmfortsatz von
Kommunarden!

Nirgendwo ein
Liebknecht, nur

Lakaien.

Nazis gegen Nazis

1934: Der Röhm-Putsch

Hannes Hohn

Reichlich ein Jahr nach der Machtergreifung der deutschen Faschisten, am 30. Juni 1934, sorgte ein Ereignis für Schlagzeilen: der „Röhm-Putsch“. Es handelte sich dabei aber nicht um einen Putsch von SA-Führer Ernst Röhm gegen Hitler, sondern um einen Schlag, eine Säuberung Hitlers gegen Röhm und die SA-Führung. „Nazis gegen Nazis“ weiterlesen

Die Internationale

Hannes Hohn

„Die Internationale“ ist wohl immer noch das bekannteste Lied der Welt, obwohl es natürlich in Hitparaden und auch in den meisten Liederbüchern nicht auftaucht. Trotzdem ist das „rote“ Lied ein echter Evergreen, der inzwischen schon fast anderthalb Jahrhunderte alt ist. „Die Internationale“ weiterlesen

Fundstück V

Es scheint kein Unsinn zu sein, wenn man sagt, dass alle Kunst irgendwann einmal Massenunterhaltung wird; und wird sie das nicht, stirbt sie und wird vergessen.

Ramond Chandler, Oscar-Abend in Hollywood

Schwarze Verse

Hanns Graaf

Schwarz klebt die Erde uns unter den Nägeln,
Wenn wir den Wurzeln nachgraben.
Schwarzarbeit leistet mein Schädel: Geschichte,
Gesiebt aus dem Zeitengerölle.

Inschriften. Namen. Der Lebenden Orte
Noch von den Toten gezeichnet.
Schwarz, aus geronnenem Blut, all die Grenzen
Auf knallbunten Schulatlasseiten.

Rauchfahnen wehn, eure rußschwarzen Haare.
Treblinkas Roma-Mädchen.
Hakige Kreuze, ein zackiges Signum
Verblasst auf verblichnem Transportschein.

Schwarz, abgefroren im Dauerfrostboden
In wieviel Gulags wieviel Füße?
Ausgebrannt starren die Höhlen der Pfeifen
Im Stalinmuseum wie Augen.

Feurige Fahne, angeschwärzt, lohend
An Trotzkis gepanzertem Zuge.
Stickiger Qualm über rostigen Gleisen
Der Staatsbahn von nassmorschen Scheitern.

Schwarz, hart und januarkalt bohrt, oh Rosa,
Die Mündung sich in deine Schläfe.
Landwehrkanal, liegst verschollen im Lande.
DER WALD STEHT SCHWARZ UND SCHWEIGET.

Bleichester Bruder Vergessen: Uns schneit doch
Das Gestern als Schnee noch ins Morgen.
Schwarz meine Verse wie Stacheldrahtdrähte
Ins Weiß den Papieren geschlagen.

Weltzustandsbericht

Hanns Graaf

Containerkolosse vor
Rhodos auf leer
Gefischtem
Meer.

Fünfhundertjährige
Riesen im Dschungel: Ge-
Fällt für Fenster mit
Ausblick ins
Grün.

Kontinentale
Verschiebungen.
Klick klick: in Millisekunden
Milliarden.

Raketen,
Irdische, zielen auf
Unsern, uns fernsten
Planeten.

Computer
Der x-ten Generation
Erfassen die
Toten der Sahel-
Zone.

Verhungert
Soeben mit
Sieben ein
Späterer
Nobelpreisträger.

Vor Afrikas
Schulhütten: Kinder-
Soldaten üben das
Killen.

Beton
Stürzt vom berstenden
Welthandelszentrum
Auf hoffende
Bettler.

Grinsender
Gipfel. Zehn-
Tausende Fäuste dagegen
Geballt in Genuas
Gassen.

Ihr widerborstiger
Prophet: verschüttet
In Highgate, nahe dem
Meridian
Null.

2004

Das böse Fleisch

Vegetarismus / Veganismus

Hanns Graaf

Alternative und Weltretter aller Art haben einen Feind ausgemacht – nein, nicht das Bürgertum, sondern den Burger. Schnitzel und Leberwurst, Milch und Käse, Eier und Butter sind zu Menetekeln der Weltbedrohung geworden. Tierische Methan-Furze killen das Klima. Rinder  verbrauchen zu viele Ressourcen. Erst kommt zwar das Fressen, doch dicht dahinter schleichen die vereinigten Moralapostel aller Länder einher – d.h. eigentlich nur jener Länder, wo es genug zu Essen gibt und mancher Mensch auch zu viel in sich hineinstopfen kann. „Das böse Fleisch“ weiterlesen

Der Fall Lyssenko

Geschichte der Wissenschaft

Hanns Graaf

Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976) war ein sowjetischer Agronom und Biologe, der unter Stalin großen Einfluss erlangte. Seine Theorie – später „Lyssenkoismus“ genannt – knüpft an Lamarck an. Die Genetik wurde unter Stalin als „bürgerliche Theorie“ per se abgelehnt. Nach Lyssenko werden Erbeigenschaften nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt. Die Entwicklung der Arten erfolge nicht durch Mutation und Selektion, sondern durch die Vererbung erworbener Eigenschaften, d.h. durch Umwelteinflüsse. Einige seiner Forschungsergebnisse wurden später sogar als Fälschungen entlarvt. „Der Fall Lyssenko“ weiterlesen