In den Kämpfen von Unterdrückten und in sozial-revolutionären Konzepten gab es immer das Bestreben, die Fremdbestimmung über soziale Strukturen, sei es durch den Staat, durch die Kirche, durch Privateigentümer usw. zu beenden und an deren Stelle die Selbstverwaltung zu setzen. Diese Bestrebungen nahmen verschiedene Formen an: demokratische Kontrolle, Arbeiterkontrolle, Streikkomitees, Räte usw.. Das Selbstverwaltungsstreben ist Ausdruck der Überwindung von Verhältnissen, die Marx mit dem Begriff der „Entfremdung“ beschrieben hat. Damit meinte er, dass die Menschen die Verhältnisse nicht selbst-bewusst bestimmen, sondern sie von ihnen „beherrscht“ werden. Das Privateigentum über die Produktionsmittel ist dabei von zentraler Bedeutung. Erst dessen Enteignung ermöglicht die volle Kontrolle über Produktion und Verteilung durch die ProduzentInnen und KonsumentInnen. Die Verwaltung von Produktion und Verteilung soll lt. Marx direkt, also möglichst ohne Dazwischentreten „Dritter“, also des Staates, erfolgen.
Eine Form von Selbstverwaltung sind Genossenschaften. Sie unterscheiden sich von anderen Formen der Selbstverwaltung dadurch, dass sie eine kollektive Eigentumsform darstellen und nicht nur ein Kontrollorgan oder eine Organisationsstruktur. Das waltende Interesse ist hier nicht mehr das eines Privateigentümers, sondern das einer Gruppe von EigentümerInnen.
Wenn in der linken oder sozialistischen Bewegung von Genossenschaften die Rede ist, dann ist damit allerdings weit mehr gemeint. Es geht dabei auch immer darum, dass die Genossenschaften Teil eines sozialen Prozesses sind, der auf mehr Demokratie, auf mehr Gerechtigkeit, auf mehr soziale Verantwortung und Selbstbestimmung der Menschen abzielt. Nicht immer, aber oft kam es deshalb dazu, dass die Genossenschaften sich miteinander vernetzten, um sicherzustellen, dass ihre Tätigkeit mit den allgemeinen Interessen des Proletariats verzahnt ist. Geschieht dies nicht, wohnt jeder Genossenschaft die Tendenz inne, dass sich ihr egoistisches Gruppeninteresse in Konkurrenz zu anderen „austobt“, was dann nur ein kollektiver statt eines privaten Kapitalismus wäre.
Genossenschaften sind also nur dann anti-kapitalistische, alternative Strukturen, wenn sie miteinander über eine Art „Plan“ miteinander verbunden und sich mit den Interessen der Gesamtklasse im Einklang befinden. Das bedeutet, dass die Genossenschaft bzw. ein genossenschaftlicher Dachverband auch vom Proletariat bzw. von deren VertreterInnen beeinflusst werden muss.
Der „alternative“ Charakter der Genossenschaften (u.a. selbstverwalteter Projekte) ist immer beschränkt, denn sie sind immer noch in einen bürgerlichen Gesamtmechanismus eingebunden und mehr oder weniger den Markt-Zwängen ausgesetzt. Das Alternative besteht darin, dass das Unternehmenshandeln Sache der GenossenschafterInnen ist und nicht von Privateigentümern und deren abgehobenen, privilegierten Managern geleitet wird. Der Zweck ist nicht die Erzeugung von Gewinn, der als Kapital oder persönliche Revenue fungiert, sondern die Befriedigung von Bedürfnissen aller Genossenschaftsmitglieder und des Proletariats (bzw. der Bauern) als KundInnen. Insoweit die private Gewinnabschöpfung und eine privilegierte Schicht wegfallen, kann eine Genossenschaft sogar rationeller wirtschaften als private Unternehmen. Größere wirtschaftliche Vorteile ergeben sich zudem, wenn sich Genossenschaften zu größeren Strukturen zusammenschließen.
Viele MarxistInnen haben Vorbehalte gegen dem Genossenschaftssystem (im Kapitalismus): sie würden wirtschaftlich nicht überleben können oder würden meist zu „normalen“ Unternehmen mutieren. Diese Argumente halten aber einer empirischen Überprüfung nicht stand und übersehen, dass eine wesentliche Erfolgsgrundlage von Genossenschaften ihre strukturelle Ausweitung und ihre Einbindung in den Klassenkampf ist. Das aber war meist nicht der Fall, u.a. deshalb, weil viele ReformistInnen und fast alle MarxistInnen sich dieser Aufgabe gar nicht gestellt haben. Doch es ist – schon, weil Staat und Kapital die Genossenschaften bekämpfen – notwendig, dass der Ausbau das Genossenschaftswesens ein bewusstes Anliegen der Arbeiterbewegung ist, bei dem sie ihre Interessen und auch ihre Marktmacht als größter KonsumentInnengruppe ins Spiel bringen kann.
Viele MarxistInnen berufen sich bei ihrer Ablehnung der Genossenschaften auf Marx – zu unrecht. Marx wies zwar auf deren ökonomische Ambivalenz hin, betonte aber auch deren emanzipatorische Vorteile. Marx wandte sich allerdings gegen bestimmte Genossenschafts-Konzeptionen, etwa die Auffassung, dass per Vergenossenschaftlichung der Kapitalismus überwunden werden könne und eine Revolution deshalb obsolet sei. Auch in seinen „Randglossen zum „Gothaer Programm“ polemisiert Marx nicht gegen die Genossenschaften an sich, sondern gegen die Lassallesche Idee, diese mit Hilfe des Staates zu etablieren und diesen Weg als Strategie anzusehen.
Im 3. Band des „Kapitals“ stellt Marx bezüglich genossenschaftlicher Unternehmen fest: „Bei der Kooperativfabrik fällt der gegensätzliche (doppelseitige) Charakter der Aufsichtsarbeit weg, indem der Dirigent von den Arbeitern bezahlt wird, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten. (…) Aus den öffentlichen Rechnungsablagen der Kooperativfabriken in England sieht man, dass – nach Abzug des Lohns des Dirigenten, der einen Teil des ausgelegten variablen Kapitals bildet, ganz wie der Lohn der übrigen Arbeiter – der Profit größer war als der Durchschnittsprofit, obgleich sie stellenweise einen viel höheren Zins zahlten als die Privatfabrikanten. Die Ursache des höheren Profits war in allen diesen Fällen größere Ökonomie in Anwendung des konstanten Kapitals.“ (Marx, MEW 25, S. 401f)
Weiter führt Marx aus: „Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.“ (ebenda, 456)
Noch klarer wird die Position von Marx und Engels in folgenden Zitaten, die zeigen, dass von einer Ablehnung der Genossenschaften bei ihnen nicht die Rede sein kann. So schrieb Engels, dass das „wichtigste Dekret der Kommune“ war, dass es eine „Organisation der großen Industrie und sogar der Manufaktur anordnete, die nicht nur auf der Assoziation der Arbeiter in jeder Fabrik beruhen, sondern auch alle diese Genossenschaften zu einem großen Verband vereinigen sollte.“ (MEW 17, S. 623) Marx schrieb: „Aber dies ist der Kommunismus (…) wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln.“ (MEW 17, S. 343)
Trotz zum Teil großer Fortschritte des Genossenschaftswesens ab Ende des 19. Jahrhunderts spielte es in den Konzeptionen der Parteien der II. Internationale nur eine untergeordnete Rolle. In ihrer politischen Praxis versäumten sie es, die Genossenschaften zu einem großen System auszubauen und sie auch als Bastionen des Klassenkampfes anzusehen. Die allgemeine Degeneration der Arbeiterbewegung und des „Marxismus“ in der Genossenschaftsfrage ist auch daran abzulesen, dass die II. Internationale bzw. die SPD, aber auch der „Leninismus“ und nachfolgend der Stalinismus auf eine Staatswirtschaft setzten und Genossenschaften u.a. Formen von Selbstverwaltung unterschätzten oder ablehnten.
Genossenschaften und Selbstverwaltung werden meist nur als ökonomische Strukturen angesehen. Dabei wird übersehen, dass sie auch wichtig dafür sind, den Gegensatz des Proletariats zu Kapital und Staat mit dem Aufbau selbstverwalteter Strukturen praktisch zu machen. Die Entwicklung des Klassenbewusstseins wurde v.a. auf das politische Bewusstsein beschränkt und auf politische Strukturen (Partei, Gewerkschaften) bezogen. Diese durchaus unmarxistische Sicht prägt v.a. den „Leninismus“. Genossenschaften hingegen ermöglichen und erfordern alternatives, „sozialistisches“ Handeln und Denken.
Genossenschaften ähneln strukturell hinsichtlich des Gruppeneigentums einer GmbH oder Aktiengesellschaft. Sie sind keine per se antikapitalistischen Strukturen. Jede Genossenschaft handelt am Markt in Konkurrenz zu anderen Unternehmen. Diesem Kollektiv-Kapitalismus kann nur entgegengewirkt werden, indem sich die Genossenschaften zusammen schließen und die gesamte Klasse bzw. Ausschüsse dieser eine Koordinierungs- und Kontrollfunktion über die Genossenschaften wahrnimmt. Diese Versuche sind gewissermaßen Vorstufen einer demokratischen Planung unter Regie der Arbeiterklasse und der Massen. Positive Erfahrungen damit gab es etwa in den anarchistischen kollektivierten Unternehmen im Spanischen Bürgerkrieg. Die Unterschätzung und das Fehlen selbstverwalteter und genossenschaftlicher Strukturen in Sowjetrussland unter den Bolschewiki (und umso mehr im Stalinismus) sind hingegen Belege dafür, dass so der Sozialismus nicht aufgebaut werden kann.