Ist die SPD noch eine Arbeiterpartei? (Teil 1/2)

Hanns Graaf

Einige linke Organisationen meinen, die SPD sei inzwischen eine rein bürgerliche Partei geworden, andere – v.a. trotzkistischer Provenienz – halten sie nach wie vor für eine bürgerliche Arbeiterpartei. Diese sei einerseits dadurch gekennzeichnet, dass sie strukturell mit der Arbeiterklasse verbunden wäre, andererseits sei sie hinsichtlich ihrer Politik, Führung und Programmatik eine bürgerliche Partei wie etwa auch die CDU oder die Grünen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was der Klassencharakter der SPD ist, was sie mit anderen bürgerlichen Parteien gemeinsam hat, was sie von ihnen unterscheidet und welche Veränderungen sich seit ihrer Gründung in Gotha 1875 bis heute vollzogen haben.

Die Krise der SPD hält schon seit vielen Jahren an. Nach der letzten SPD-geführten Regierung – Rot/Grün unter Schröder ab 1998 – langte es für die SPD im Bund höchstens noch zum Juniorpartner in den Großen Koalitionen unter Merkel. Die von Schröder eingeleitete und von den Nachfolgeregierungen weitergeführte Agenda 2010 war ein massiver Angriff auf die Lohnabhängigen und ihre sozialen Errungenschaften. Diese neoliberale Attacke hat die Verbindungen zwischen Arbeiterklasse und Sozialdemokratie weiter erodieren lassen. Massenhaft haben sich proletarische Schichten und Teile der Mittelschichten von der SPD abgewandt. Dieser Umstand erklärt auch das seit Jahren schwache Abschneiden der SPD bei Wahlen, v.a. auf Bundesebene.

Soziale Struktur

Der Niedergang der SPD kann auch statistisch belegt werden. Hatte die SPD noch 1977 eine Million Mitglieder (eine Zahl, die sie infolge der Wiedervereinigung 1990 erneut erreichte), so verlor sie bis heute über 50% davon und hat heute nur noch ca. 460.000 Mitglieder (2018). Auch die soziale Zusammensetzung der SPD hat sich historisch stark verändert. Noch bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts war sie hinsichtlich der Mitgliedschaft (und in starkem Maße auch des Funktionärskörpers) eine proletarische Partei. V.a. der Anteil gewerkschaftlich organisierter ArbeiterInnen an der SPD-Mitgliedschaft war hoch. Heute sieht es da sehr anders aus. 2018 waren nur noch 23% im weiteren Sinn ArbeiterInnen, davon ca. 2/3 Angestellte.

Die Sozialstruktur zeigt die SPD v.a. als Partei des Öffentlichen Dienstes: 42% der SPD-Mitglieder arbeiten hier. Sogar der Anteil der Beamten ist hier höher als jener der ArbeiterInnen. Allerdings muss bei diesen Zahlen bedacht werden, dass die bürgerliche Soziologie nie exakt die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht erfasst. Klar ist aber, dass die SPD hinsichtlich ihrer Mitglieder heute a) eher eine Partei des Öffentlichen Dienstes als eine der IndustriearbeiterInnen ist und b) Beamte und Angestellte bei den berufstätigen Mitgliedern überwiegen. Auch das Durchschnittsalter der SPD-Mitgliedschaft, das bei 60 Jahren liegt, zeigt, dass sich die Mitgliedschaft weiter von der „Arbeitswelt“ und damit von der Arbeiterklasse als einer Klasse von LohnarbeiterInnen entfernt hat. Bildeten früher also überwiegend ArbeiterInnen und kleine Angestellte die Mehrheit der Mitglieder, so verschob sich dies bis heute zugunsten der BeamtInnen und RentnerInnen.

Die sinkende Repräsentation der Gewerkschaftsmitglieder zeigt sich auch bei den Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion: 1990 gehörten ihr noch 176 GewerkschaftlerInnen an, 2017 nur noch 104 (obwohl diese Zahl immer noch über den Werten anderer Parteien liegt).
Hinsichtlich der Wählerschichten der SPD zeigt sich ein ähnliches Bild. Auch wenn der Anteil von proletarischen WählerInnen bei der SPD (wie bei ihrer reformistischen Schwester, der LINKEN) immer noch relativ höher ist als bei Union, FDP oder den Grünen, wählt die große Mehrzahl der Lohnabhängigen nicht mehr die SPD, der Anteil von Nichtwählerinnen ist hier besonders hoch.

Diese Entproletarisierung der SPD sollte jedoch nicht zu dem vorschnellen Schluss führen, dass sie hinsichtlich ihrer sozialen Basis und Verankerung keine Arbeiterpartei mehr wäre. Sicher ist ihre Verwurzelung im Proletariat, sind ihre Verbindungen zu ihm weit schwächer als in früheren Jahrzehnten. Das umfangreiche Milieu proletarischer „Kultur“ – Arbeiterbildungsvereine, proletarische Kultur- und Sportvereine, Arbeiterpresse usw. – ist fast völlig verschwunden. Ja, selbst ein lebendiges inneres Parteileben außerhalb von Apparaten, Gremien und Wahlkampagnen ist eher die Ausnahme. Das Verschwinden dieser Strukturen ist aber nicht nur dem Zeitgeist geschuldet oder erklärt sich nur daraus, dass der Zugang zur „offiziellen“ Kultur und Bildung sich für die Arbeiterklasse deutlich verbessert hat. Es hat auch stark damit zu tun, dass die SPD völlig davon abgekommen ist, eine proletarische „Gegenkultur“ zum bürgerlichen Mainstream aufzubauen oder zu verteidigen. Jeglicher Kampf um eine proletarische „Hegemonie“ wurde schon lange ad acta gelegt.

Der Zugriff der Sozialdemokratie auf die Arbeiterklasse erfolgte und erfolgt jedoch nicht nur dadurch, dass man proletarische Mitglieder und WählerInnen gewinnt. In der Partei war immer nur eine kleine Minderheit des Proletariats organisiert. Selbst die Gewerkschaften, die einen größeren Teil der Klasse erfassen, organisieren nur eine Minderheit. Die entscheidende strukturelle Verbindung der SPD zur Klasse, ihr wesentlicher Einfluss auf sie ist ihre Verbindung zu den Gewerkschaften, insbesondere zu deren Apparat:

  • viele gewerkschaftliche Funktionäre, Betriebsräte (BR) und Vertrauensleute (VL) sowie (fast) alle Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften sind Mitglied der SPD;
  • die Politik und das Selbstverständnis der Gewerkschaften sind klar reformistisch und folgen methodisch den Prämissen der Sozialdemokratie; de facto sind die Gewerkschaften sozialdemokratisch, allerdings als „unerklärte“ und einzige Mehrheits-Fraktion (die meisten deutschen Gewerkschaften haben im Unterschied zu Gewerkschaften in anderen Ländern ein Fraktionsverbot);
  • es existiert eine Art Arbeitsteilung zwischen zwischen DGB und SPD, die Gewerkschaften kümmern sich v.a. um betriebliche und tarifliche Fragen, die SPD um die „große Politik“.

Dass es diese Verbindungen zwischen SPD und Arbeiterklasse über die Gewerkschaften noch heute gibt, lässt sich schwer leugnen. Doch zugleich muss auch dieses Problem im historischen Kontext gesehen werden.

Historischer Wandel

Wem wir die SPD vor 1914 mit der heutigen vergleichen, fallen einige gravierende Unterschiede bezüglich ihrer strukturellen Verbindungen mit den Gewerkschaften auf. Zunächst einmal bestand der Einfluss der SPD auf die (sozialdemokratisch orientierten) Gewerkschaften früher weniger über den Apparat oder die BR (letztere gab es damals noch nicht), sondern v.a. darin, dass SozialdemokratInnen die aktivsten und fortgeschrittensten Elemente darin waren. Sie bauten die Organisation auf, sie führten Kämpfe, sie waren zugleich Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Insofern war die SPD damals in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Basis stark verankert und nicht nur im Apparat.

Inzwischen ist sie fast nur noch mit den Apparaten verbunden, ihre Verbindungen zur betrieblichen Basis der Arbeiterklasse sind weitgehend erodiert. Dieser Prozess erlebte mehrere historische Schübe: ein erster erfolgte mit der Novemberrevolution 1918/19 und der Entstehung der KPD, die den „linkeren“ Teil der Klasse hinter sich brachte und der SPD abnahm. Weitere Verluste erlebte die SPD dann durch den SDS, die 68er-Bewegung und die Grünen, die ihnen Teile des Nachwuchses und des linken Milieus abspenstig machten. Diese Verluste entstanden auch deshalb, weil die SPD in wichtigen Politikbereichen (Bildung, Umwelt, Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, Antiimperialismus usw.) aktivistisches und alternatives Potential vermissen ließ. Die SPD wurde zunehmend zu einer reformistischen Partei – ohne Reformen. Die meisten unmittelbaren Ziele der alten Sozialdemokratie – bürgerlich-demokratische und „sozialstaatliche“ Forderungen waren erfüllt. Alle weitergehenden Ambitionen würden mit den Grundlagen des Kapitalismus kollidieren und auf den Sozialismus verweisen, daher ist es für die reformistische SPD unmöglich, für weitergehende Reformen einzutreten.

Den letzten markanten Einbruch hinsichtlich ihrer Verbindungen zu den Lohnabhängigen brachten dann die Agenda-Reformen von Rot/Grün ab 2002. Die Enttäuschung der Massen über „ihre“ SPD schlugen sich nicht nur in deutlichen Mitglieder- und WählerInnenverlusten nieder, sondern auch in der Entstehung der „Wahltalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) 2004, in der v.a. von der SPD Enttäuschte mitmachten. Die WASG repräsentierte aber weniger den Bruch mit dem Reformismus an sich, als die Ablehnung seiner „Rechtswendung“ unter Schröder, die wiederum i.w. eine Anpassung der „normalen“ SPD-Politik an eine krisenhafte Situation war, in der die sozialen Verteilungsspielräume kleiner waren.

Auch wenn es auch heute noch FunktionärInnen im DGB, in den BR und (wenn auch weniger) unter den VL gibt, die Mitglied der SPD sind oder ihr politisch nahe stehen, so zählen diese durchaus nicht immer zur aktiven und kämpferischen „Vorhut“ der Klasse, ja sie erweisen sich oft genug als Bremser und Abwiegler oder als offene Streikbrecher. Letzteres betrifft z.B. oft die Chefs der Gesamtbetriebsräte der großen Konzerne. Der gewerkschaftliche Apparat bzw. die mit ihm meist verbundenen BR sind zwar einerseits jene Strukturen, die Kämpfe, Tarifrunden usw. organisieren und führen (können), sie sind andererseits aber auch jene, die dafür sorgen, dass alle Aktionen bürokratisch gemanagt und „gefährliche“ Ausweitungen und Zuspitzungen verhindert werden.

Schlussfolgerung

Die Feststellung dieses Einerseits – andererseits reicht aber für ein tieferes Verständnis der Sozialdemokratie nicht aus. Es geht vielmehr darum zu betrachten, was der Grundcharakter, was die Funktion des sozialdemokratischen Reformismus insgesamt ist. Und hier ist die Analyse klar: die SPD ist eine bürgerliche, konterrevolutionäre Agentur in der Arbeiterklasse (im Unterschied zu Strukturen außerhalb der Klasse). Sie begrenzt die Kämpfe der Klasse, verhindert jede revolutionäre, das System sprengende Dynamik und blockiert die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein und revolutionärer Organisierung des Proletariats. Das schließt freilich nicht aus, dass SPD und Gewerkschaften mitunter für begrenzte soziale „Errungenschaften“ eintreten, d.h. für ein „ausgewogenes“ Verhältnis von Kapital und Arbeit sorgen. So etwa aktuell zu sehen beim Eintreten der SPD für den Mindestlohn oder die Grundrente. Dass die Reformisten auch ganz anders können, dass sie auch jedes Engagement für Reformen aufgeben und die Klasse (und insbesondere deren Vorhut) massiv angreifen, haben sie an allen historischen Wendepunkten (1914, 1918, 1933, 1945, 1989) bewiesen. Auch bei der Einführung der asozialen Agenda 2010 durch SPD und Grüne waren mit Walter Riester und Peter Hartz zwei Sozialdemokraten und führende IG Metall-Funktionäre maßgeblich beteiligt.

Die Fähigkeit der SPD, mitunter einen „Klassenkompromiss“, d.h. für relativ „ausgewogene“ Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu sorgen, ergibt sich aber nicht einfach aus dem Reformismus der SPD. Zunächst ergibt sie sich aus der objektiven Stärke der Arbeiterklasse, der man manchmal Zugeständnisse machen muss. Zum anderen ist es eben auch meist die Rolle der SPD als „good cob“ im System, die ab und zu bedient werden muss, damit der Reformismus seine Funktion als bürgerlicher Unteroffizier über das Proletariat auch wahrnehmen kann und die Illusionen in ihn aufrecht erhalten bleiben.

In den letzten Jahren hat sich wiederholt gezeigt, dass ein Linksschwenk (oder schon das Blinken zum Linksabbiegen, das aber dann oft gar nicht erfolgt) dafür sorgt, dass die Illusionen in die SPD wieder erstarken. So traten mit dem Amtsantritt des Vorsitzenden Martin Schulz (2017) und seinen linken Ankündigungen 40.000 neue Mitglieder ein – das Debakel bei der folgenden Bundestagswahl konnte trotzdem nicht verhindert werden. Das zeigt, dass die Entproletarisierung der SPD, dass ihr Ablöseprozess von der Klasse längst nicht mehr durch einzelne Manöver überwunden werden kann.

Doch das Wesentliche für die Einschätzung der SPD als einer immer noch bürgerlichen Arbeiterpartei ist der Umstand, dass es weiterhin direkte personelle, politische und strukturelle Verbindungen zwischen SPD und der Gewerkschaftsbürokratie gibt, die es der Sozialdemokratie (in ihrer doppelten Gestalt als SPD und DGB) ermöglichen, die Arbeiterklasse zu domestizieren, zu beherrschen und ins System einzubinden.

Sollten allerdings auch diese letzten Verbindungen zum Gewerkschaftsapparat abreißen, wäre die SPD nur noch eine „normale“ bürgerliche Partei, für die auch die Anwendung der Einheitsfronttaktik nicht mehr angebracht wäre.

2 Gedanken zu „Ist die SPD noch eine Arbeiterpartei? (Teil 1/2)“

  1. Die Mitglieder- und Wählerschaft der SPD war früher fast durchweg proletarisch und sie propagierte die Überwindung des Kapitalismus (wenngleich ihre Politik bis 1914 eher zentristisch und nicht revolutionär war). Insofern war die SPD damals eine Arbeiterpartei – was sonst?

    Du sagst: „Die SPD war und ist immer ein Auffang-Konstrukt, um die Menschen der privaten Kapitalverwertung zuzufuehren oder dafuer gefuegig zu machen.“ Immerhin hat die SPD aber Gewerkschaften aufgebaut und Streiks organisiert. Wenn Du recht hättest: Wie erklärst Du Dir dann die massive Repression gegen die SPD (Sozialistengesetz)?

    Die Ambivalenz der (heutigen) SPD – einerseits soziale Verbindung zum Proletariat, andererseits bürgerliche Politik – wird ja gerade durch die Kategorie „bürgerliche Arbeiterpartei erfasst.

    Du schreibst: „Wir koennen ohne weiteres sagen, dass Parteien generell diesem Zweck (der Kapitalverwertung, d.A.) dienen.“ Das stimmt nicht. Die frühe KPD oder die Bolschewiki wollten bzw. haben den Kapitalismus gestürzt. Und beide kamen aus der Sozialdemokratie.

    Wenn Du schreibst: „Die Hauptaufgabe der „Arbeiter-Bewegungen“, oder allgemeiner der „Werktaetigen“ (…) war und ist immer die demokratische Selbstorganisation des oekonomischen Unterbaus.“, so stimme ich Dir hier zu. Doch die „alte“ Arbeiterbewegung, auch die SPD, hat sich früher auch für das Genossenschaftswesen engagiert. Es stimmt aber (ich nehme an, dass Du das meinst), dass die Arbeiterparteien diese Frage meist sträflich vernachlässigen. Auch der „Marxismus“ kümmert sich keinen Deut darum – im Gegensatz zu Marx, der immer positiv zu genossenschaftlicher proletarischer Selbstverwaltung stand. Insofern muss der sog. „Marxismus“ auch in diesem Punkt gründlich renoviert werden. Dafür gibt es Aufruhrgebiet.

  2. Lieber Hanns Graaf, schon der Titel ist falsch.
    „Ist die SPD noch eine Arbeiterpartei?“

    Es wird von dir unterstellt, dass die SPD eine „Arbeiterpartei“ war. Aber das war sie nie und kann es auch heute niemals sein. Die SPD war und ist immer ein Auffang-Konstrukt, um die Menschen der privaten Kapitalverwertung zuzufuehren oder dafuer gefuegig zu machen.

    Wir koennen ohne weiteres sagen, dass Parteien generell diesem Zweck dienen. Dafuer wurden und werden sie kreiert. Aus dem Uebergang vom Feudalismus zur repraesentativen Republik, was wir heute haben, konnten so die zentralen privaten Interessen erhalten werden.

    Dem direkt entgegen steht die Demokratie, die allerdings niemals Parteien als „geschaeftsfuehrende Einheiten“ zulassen wird, weil die Demokratie keine Repraesentation zulaesst. Umgekehrt gilt auch: Eine Repraesentation laesst keine Demokratie zu.

    Die Hauptaufgabe der „Arbeiter-Bewegungen“, oder allgemeiner der „Werktaetigen“, weil die Bauern immer der wichtigste Teil sind, neben den Handwerkern, war und ist immer die demokratische Selbstorganisation des oekonomischen Unterbaus. Dieser Aufgabe haben sich bisher alle Parteien verweigert. Es geht auch nicht fuer sie, weil sie der privaten Kapitalakkumulation sich verpflichtet fuehlen, weil sie alle davon leben.

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