Hanns Graaf
2. Die Übergangsmethode
Von großer Bedeutung ist Trotzkis Beitrag zur Weiterentwicklung der revolutionären Programmatik. Während die Theorie der Permanenten Revolution v.a. die Frage der Strategie berührt, betrifft die Übergangsmethode eher die Taktik.
Schon immer hat die revolutionäre Linke darüber nachgedacht, wie der alltägliche Klassenkampf für konkrete Verbesserungen und Reformen mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus verbunden werden kann. Bis 1917 gab es dazu aber – im Sinne eines Systems von Taktiken, eines Programms – nur bescheidene Ansätze. Das lag v.a. daran, dass die Arbeiterbewegung und der Klassenkampf erst an der Wende zum 20. Jahrhundert so weit entwickelt waren, dass bestimmte Erfahrungen vorlagen, die theoretisch verarbeitet werden konnten. Hier sei als Beispiel dafür nur auf die Frage der Massen- bzw. Generalstreiks und die „Generalstreikdebatte“ verwiesen sowie auf das erstmalige Entstehen von authentischen Arbeiterräten (Sowjets) in der Revolution von 1905 in Russland.
Ein erster qualitativer Sprung erfolgte dann 1917 – allerdings weniger durch theoretische Erwägungen oder die bewusste Umsetzung von programmatischen Prämissen, sondern durch das praktische revolutionäre Handeln des Proletariats. Nicht schon im Februar 1917, sondern erst mit den „Aprilthesen“ von Lenin war die bolschewistische Partei als revolutionärer Faktor, d.h. als eine Partei mit einem konsequent revolutionären Programm, zunehmend von Bedeutung. Ihre Politik, ihre Methode und die konkreten Taktiken, die sie anwendete, führten de facto zu einem System von Politik, zu einer „Programmatik“. Allerdings wurde diese in der systematischen Form eines Programms mit Forderungen, mit konkreten Strukturen, Organisationsformen usw. dann erst 1938 von Trotzki formuliert: in Form des Gründungsprogramms der IV. Internationale, dem „Übergangsprogramm“ (ÜP).
Doch bereits zuvor fand die Übergangsmethode teilweise Eingang in die Programme einiger kommunistischer Parteien und der III. Internationale (Komintern). Insgesamt jedoch wurden die reichhaltigen Erfahrungen der russischen RevolutionärInnen in der kommunistischen Bewegung (ganz zu schweigen von anderen linken Strömungen) zu wenig verarbeitet, was schon Lenin bedauerte. Die Russische Revolution wurde meist entweder verflucht oder bejubelt, eine tiefere sachliche Auseinandersetzung gab es weniger. Besonders negativ wirkte sich dabei die Stalinisierung der Komintern aus.
Trotzki fasst im ÜP die über Jahrzehnte gesammelten positiven wie negativen taktischen Erfahrungen aus den revolutionären Klassenkämpfen, insbesondere von 1917, programmatisch zusammen. Trotzkis Methode war die, an den konkreten Klassenkämpfen, am gegebenen Bewusstsein der Klasse, an deren Organisationen und Kampfformen anzuknüpfen, diese zugleich aber so zu verändern und zu entwickeln, dass sich die Klasse, ihr Kampf, ihr Bewusstsein und ihre Strukturen weiterentwickeln und eine Dynamik der Überwindung des Kapitalismus entsteht, die bis zur Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse führt.
Methodik
Die Methodik des ÜP besteht darin, dass das Proletariat eigene Strukturen aufbaut, die sie selbst demokratisch kontrolliert und als Kampf- und Machtorgane nutzt. Dazu gehören Streikkomitees, Preiskontrollkomitees, Organe zur Kontrolle von Produktion und Buchführung der Unternehmen u.a.. Diese Organe von Arbeitermacht kulminieren in der Forderung nach Schaffung von Räten als alternativen Machtorganen und von Arbeitermilizen. Alle diese Organe münden dann in eine zentralisierte revolutionäre Arbeiterregierung, die auf ihnen beruht.
Obwohl keine Übergangsforderung im eigentlichen Sinn, betont Trotzki daneben immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären Partei und der Umwandlung der Arbeiterorganisationen, v.a. der Gewerkschaften, in wirkliche Kampforgane der ArbeiterInnen, die deren direkter demokratischer Kontrolle unterliegen. Im Unterschied etwa zu Räte-KommunistInnen oder AnarchistInnen, die das Rätesystem oder Selbstverwaltungsorgane oft fetischisieren, vertritt Trotzki die Meinung, dass auch Räte nicht per se revolutionär sind, sondern nur dann, wenn in ihnen RevolutionärInnen bzw. eine revolutionäre Partei die Politik bestimmen.
Trotzkis Methode besteht also nicht nur darin, das Bewusstsein der Klasse durch den Einfluss der Partei zu heben oder gar darin, dass überhaupt nur die Partei ein hinreichender Faktor wäre, um die Klasse zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Für Trotzki entwickeln sich Bewusstsein, Organisation und Aktion der Klasse auch und v.a. dadurch weiter, dass die Massen selbst Erfahrungen im Kampf sammeln, den sie voran treiben, und von dem sie selbst voran getrieben werden. Diese dialektische Auffassung knüpft damit an Marx´ Vorstellungen von Klassenbewusstsein und Klassenkampf an, die sich in der sozialen Praxis äußern und umwälzen.
Trotzki frönt keinem abstrakten, voraussetzungslosen „Radikalismus“. Vielmehr betont er, dass die Umsetzung der Forderungen des ÜP vom Niveau des Klassenkampfes abhängen und bestimmte Forderungen (Räte, Milizen, Arbeiterregierung) natürlich nur in Momenten zugespitzter Klassenkämpfe und in (vor)revolutionären Situationen umsetzbar sind – was jedoch nicht bedeutet, sie nur dann (agitatorisch) aufzustellen. Vielmehr müssen sie immer Teil der revolutionären Propaganda sein. In revolutionären, aber auch in einzelnen zugespitzten Klassenkampfsituationen (Massenstreiks, Betriebsbesetzungen usw.) finden die Übergangsforderungen dann auch Eingang in die Agitation. Sie dienen generell nicht nur zur Entwicklung des Klassenkampfes, sondern auch zur Gewinnung und Schulung der fortgeschrittensten Elemente der Arbeiterklasse.
Einheitsfront
Das ÜP beruht grundsätzlich auf der Einheitsfronttaktik (EF). Es geht immer darum, möglichst große Teile der Klasse und der Unterdrückten in den Kampf einzubeziehen und ihr Bewusstsein im doppelten Licht der selbst gemachten Erfahrungen und der von den verschiedenen beteiligten politischen Kräften eingebrachten Vorschläge zu verändern. Diese Einheitsfronts-Methode unterscheidet sich diametral sowohl von der Volksfront, welche die Massen gerade von der Selbstorganisation in eigenen Klassenstrukturen abbringen will, als auch von der links-sektiererischen Politik a la „Dritte Periode“ und der RGO-Politik (Rote Gewerkschaftsopposition), welche die revolutionären Kräfte von den Massen und ihren Organisationen (Gewerkschaften) separieren und diese somit dem Einfluss des Reformismus überlassen.
Heute treffen wir – selbst bei Denen, die sich positiv auf das ÜP beziehen – häufig auf ein Verständnis, das mit dem Trotzkis wenig zu tun hat und die revolutionäre Sprengkraft des ÜP entschärft. Dazu zählt etwa die Methode, einzelne Forderungen des ÜP aus dem Zusammenhang zu reißen. Doch das ÜP entfaltet seine revolutionäre Dynamik nur als Komplex, als System von Forderungen. Keine einzelne Forderung hat für sich genommen eine besondere revolutionäre „Zauberkraft“. Was nutzt etwa die Forderung nach Arbeiterkontrolle über die Produktion ohne die flankierende Forderung etwa nach Streikposten, welche absichern können, dass ein Betrieb nicht schon am nächsten Tag von Streikbrechern übernommen wird?! Wozu regionale Räte, wenn die Forderung, diese in einer Arbeiterregierung national zu zentralisieren und die bürgerliche Regierung zu ersetzen, fehlt?!
Unter „Übergangsmethode“ wird oft verstanden, dass das gegebene Bewusstsein, die Aktions- und Organisationsformen der Arbeiterklasse weiterentwickelt und auf ein höheres Niveau gehoben werden müssen. Das ist natürlich richtig – doch es stutzt Trotzkis Methode zusammen, es verkürzt sie darauf, dass der Klassenkampf allgemein vorangebracht werden soll. Dabei bleibt jedoch oft die entscheidende Frage offen, wohin er geführt, auf welches Niveau er gehoben werden soll.
Trotzki geht es aber keineswegs nur darum, die Klasse „irgendwie“ voran zu bringen. Ihm geht es darum, dass möglichst ein revolutionäres Niveau erreicht wird. Ihm geht es darum, das Proletariat zu befähigen – ideell, organisatorisch und in der Aktion -, die Macht zu erkämpfen. Dabei stellt er eine konsequente und logische Verbindung her zwischen einzelnen Sektoren wie z.B. dem einzelnen Betrieb oder einer Branche und der gesamtgesellschaftlichen Ebene, was in der Frage der Ergreifung der Staatsmacht und der Schaffung einer auf einem Rätesystem und Kampfstrukturen fußenden revolutionären Arbeiterregierung mündet.
Trotzki schreibt dazu im Übergangsprogramm ganz klar: „Man muss der Masse helfen, bei ihrem täglichen Kampf die Brücke zwischen ihren augenblicklichen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke sollte aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, welche von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewußtsein der breiten Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und unbeirrbar zu ein und demselben Schluss führen: zur Eroberung der Macht durch das Proletariat.“
Eine andere Form von Missverständnis besteht darin, dass Linke bestimmte Forderungen des ÜP zwar „allgemein“ für richtig halten, sie jedoch nicht öffentlich vertreten, um niemanden zu „verschrecken“. Doch auch das Gegenteil dieses Fehlers eines „verschämten Opportunismus“ ist ein Fehler: mit Forderungen aus dem ÜP „durch die Tür zu poltern“, ohne die Forderungen zu erklären, in eine Gesamtpolitik einzubauen und am aktuellen Bewusstsein der Klasse anzudocken. Das mag die eigene „Radikalität“ beweisen, doch es geht vielmehr darum, die „Radikalität“ der Klasse zu befördern.
Insgesamt müssen wie leider feststellen, dass es – historisch gesehen – nur wenige positive Beispiele für die Anwendung des ÜP gibt – wenn wir von 1917 absehen. Das hat zwei Ursachen: 1. degenerierte die kommunistische Bewegung schon ab dem Beginn der 1920er und der „Trotzkismus“ erlangte fast nie eine Stärke, die es ihm erlaubt hätte, das ÜP spürbar in die Klasse und ihre Kämpfe einzubringen. 2. weigerten sich alle anderen Strömungen der Arbeiterklasse und der Linken mehr oder weniger, Übergangsforderungen aufzustellen und konsequent umzusetzen. Die dadurch vergebenen Chancen sind so allerdings auf ihre Art negative Beweise für die Notwendigkeit und Richtigkeit des ÜP.
Probleme
Es gibt allerdings auch Grenzen und Beschränkungen in den Auffassungen Trotzkis, die meist auch den „TrotzkistInnen“ nicht bewusst sind. Worin bestehen diese?
Zum einen knüpft Trotzki im ÜP zwar an Marx´sche Vorstellungen von Klassenbewusstsein und Klassenkampf an, setzt sich aber andererseits nicht mit den davon tendenziell durchaus abweichenden Auffassungen Lenins (der dabei wiederum an Kautsky anknüpft) auseinander. Lenins Auffassung (und die der Bolschewiki insgesamt) beschränkt nämlich das (Klassen)Bewusstsein v.a. auf den Bereich der Politik und der Ideologie. Für Marx, für den der Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ war, für den das Bewusstsein sich in der sozialen Praxis äußert und sich in dieser und durch diese „umwälzt“, zählte aber eben nicht nur der Bereich der Politik und der Ideologie.
Für Lenin ging es v.a. darum, die Partei aufzubauen, für ihn war die Vorhut des Proletariats fast deckungsgleich mit der Partei. Das ist auch nicht ganz falsch. Aber daraus folgte bei Lenin eine Überbetonung der Partei und eine tendenzielle Unterschätzung anderer Organe, Strukturen und Praxisbereiche. Konkret kam das etwa darin zum Ausdruck, dass dem Sowjetsystem schon sehr früh, insbesondere nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1921 eine Partei-Hierarchie „übergestülpt“ und damit der Bürokratisierung (wenn auch ungewollt) Vorschub geleistet wurde. Anstatt die Selbstorganisation der Massen (Räte, Genossenschaften und Kollektive) zu fördern und damit die Entwicklung ihrer schöpferischen Potenzen zu ermöglichen, wurde alles dem bürokratischen Partei-Staats-Apparat untergeordnet. In die gleiche falsche Richtung weist auch Lenins – von ihm oft wiederholtes und betontes – Konzept eines „Staatskapitalismus unter Arbeiterherrschaft“. Dazu passt auch die permanente Unterschätzung von Strukturen proletarischer Selbstverwaltung und des Genossenschaftswesens. Diese theoretisch-programmatische „Schieflage“ durchzieht das gesamte Werk von Lenin, so u.a. auch „Staat und Revolution“.
Spätestens, nachdem der Bürgerkrieg vorbei, die Frage der Macht endgültig geklärt war und der friedliche Aufbau begann, fand eine Verschiebung von der Ebene des „Machtkampfes“ und der Politik hin zur Ökonomie, zur Kultur, zur Bildungspolitik und zum „Alltagsleben“ statt. Hier war es entscheidend, die Erfahrungen, das Wissen und die Schöpferkraft der Massen zu nutzen und zu entwickeln. Dabei spielt auch die Partei eine Rolle, sie ist hier jedoch – anders als noch in Revolution und Bürgerkrieg – weder der entscheidende Faktor noch gar die einzige Autorität. Die Partei ist eben eine politische Struktur und ihre Arena ist die der Politik, nicht die der Kultur, der Wirtschaft usw.. Anstatt aber diesen Paradigmenwechsel nach 1921 zu verstehen, beharrte sie weiter darauf, in allen Bereichen als Spiritus rector, als „Herrschaft“ aufzutreten. Das führte – und musste führen – zur Entmündigung, zur Unterordnung, zur Entmachtung der Massen und zur Herrschaft der Bürokratie.
Im ÜP bestätigte Trotzki seine Einschätzung der UdSSR als eines „degenerierten Arbeiterstaats“. Er kritisierte die Fehlentwicklungen unter Stalin nicht nur, er betonte, dass die herrschende Bürokratie nicht reformiert, sondern durch eine – aber nur „politische“, nicht soziale – Revolution des Proletariats gestürzt werden müsse. Bei aller Berechtigung und Klarheit seiner Kritik am Stalinismus fehlt Trotzkis Analyse aber die Erkenntnis, dass die UdSSR ab Ende der 1920er Jahre staatskapitalistisch und kein Arbeiterstaat mehr war. Zum anderen versteht er nicht die Fehler in der politischen und Gesellschaftsstrategie Lenins und der Bolschewiki, die er ja auch selbst mitgetragen hatte. Die Frage, die sich schon damals Viele gestellt haben – warum die UdSSR unter Stalin derart degenerieren konnte – wird von Trotzki fast nur aus objektiven Faktoren (Bürgerkrieg, Mangel, Rückständigkeit, Stagnation des weltrevolutionären Prozesses) erklärt, die Bedeutung des subjektiven Faktors – der Politik der Bolschewiki – wird hingegen weniger betrachtet. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Trotzki hat keine wesentlichen Differenzen zur Politik Lenins und der Bolschewiki.
Diese Probleme zeigen sich im ÜP nicht nur in Form der fehlenden Kritik an diesen konzeptionellen Fehlern, sondern auch darin, dass von Strukturen proletarischer Selbstverwaltung und Genossenschaften entweder gar nicht die Rede ist oder sie nur in Bezug auf die politische Ebene erwähnt werden (Räte, Milizen usw.). Selbstverwaltungsstrukturen entstehen aber nicht erst in zugespitzten Klassenkampfsituationen, sondern auch schon in „ruhigen“ Zeiten. Das Ignorieren dieser Frage im ÜP führt kurioserweise gerade dazu, dass der Übergang zwischen der revolutionären Zuspitzung und dem „Alltag“ des Klassenkampfes, den das ÜP ja gerade herstellen will, wieder aufreißt, indem der Zusammenhang zwischen der proletarischen Selbstverwaltung und der Revolution weitgehend ausgeblendet wird.
Trotz dieser Einschränkungen stellt das ÜP einen großen Schritt vorwärts in der Entwicklung der revolutionären Programmatik dar. Die im ÜP dargelegte Methode des Klassenkampfes ist die einzig mögliche und sinnvolle, um den Klassenkampf erfolgreich und bis zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Es ist kein Zufall, dass auch 80 Jahre nach der Übergangsmethode kein besseres taktisches System gefunden wurde als das des Übergangsprogramms.