Problematische Mitte – Ein Beitrag zur Klassenanalyse (Teil 1 von 3)

Hanns Graaf

Vor über 170 Jahren beschrieben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ die Veränderung der Sozialstruktur des Kapitalismus: „In den Ländern, wo sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, hat sich eine neue Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie schwebt und als ergänzender Teil der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem sich bildet, deren Mitglieder aber beständig durch die Konkurrenz ins Proletariat hinabgeschleudert werden, ja selbst mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt herannahen sehen, wo sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich verschwinden und im Handel, in der Manufaktur, in der Agrikultur durch Arbeitsaufseher und Domestiken ersetzt werden.“

Hier wird nicht nur konstatiert, dass Kleinbürgertum und Mittelschichten ständigen Veränderungen unterworfen sind, hier wird auch die Tendenz aufgezeigt, dass deren quantitativer Anteil an der Bevölkerung abnimmt, dass sie „mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt herannahen sehen, wo sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich verschwinden“.

Marx und Engels haben auch später an dieser Einschätzung festgehalten. Für sie wie auch für fast alle MarxistInnen nach ihnen stand fest, dass sich die Gesellschaft immer mehr zwischen Bourgeoisie und Proletariat polarisiert – nicht nur, was den Klassenwiderspruch anlangt, sondern auch, was den quantitativen Anteil der Mittelschichten an der Gesellschaft betrifft. Nicht nur die Abnahme der Zahl des Kleinbürgertums, auch deren Ersetzung bzw. deren Metamorphose zu „Arbeitsaufsehern und Domestiken“ wurde vorausgesagt.

Wenn sich die kapitalistische Produktionsweise in immer mehr Bereichen durchsetzt und global ausbreitet, wächst auch das Proletariat zahlenmäßig. Damit hat Marx ohne Frage recht behalten. Allerdings sinkt bzw. stagniert innerhalb des Proletariats seit Ende des 20. Jahrhunderts der Anteil der ArbeiterInnen, der in der Industrie beschäftigt sind, während der Anteil derer, die im „Dienstleistungssektor“, d.h. in eher kleingliedrigen Strukturen oder sogar in Einpersonenunternehmen arbeiten, wächst. Wir dürfen hier allerdings nicht den Fehler vieler bürgerlicher Soziologen machen, die viele industrielle Tätigkeiten zum Dienstleistungssektor zählen. Im Zuge der neoliberalen Umstrukturierungen wurden viele Bereiche aus den Industrie-Unternehmen ausgegliedert, ohne dass sich an der Art ihrer Tätigkeit grundsätzlich etwas geändert hätte (Transport, Logistik, Werbung, Service usw.).

Marx und Engels nahmen an, dass die Tendenz der Verarmung der Lohnabhängigen immer weiter zunimmt. Sie konstatierten v.a. eine Tendenz der relativen, aber auch eine der absoluten Verarmung. Zudem würden permanente Krisen und Kriege das Proletariat immer wieder in Situationen drängen, wo sie sich zur Wehr setzen müssten. Diese Gesamt-Dynamik würde, so eine Grundannahme von Marx, auch zu einem immer höheren Klassenbewusstsein führen. Allerdings gingen Marx und Engels nie einfach davon aus, dass sich dieses revolutionär-kommunistische Bewusstsein quasi automatisch entwickeln würde. Vielmehr meinten sie, dass dabei auch eine revolutionäre Partei (als „Vordenker“ wie als Organisator) eine zentrale Rolle spielen müsse. Nicht zufällig maßen sie den Erfolg im Klassenkampf weniger daran, welche sozialen und politischen Zugeständnisse dem Gegner zeitweilig abgetrotzt werden, sondern v.a. daran, welchen Zuwachs an Klassenbewusstsein und Organisiertheit das Proletariat dabei erreicht.
Es ist klar, dass diese Ansichten über die Klassenstruktur der Gesellschaft den Kern der revolutionären Doktrin berühren. Sollte die These vom Erodieren der sozialen Mitte historisch nicht zutreffen oder diese gar eine wichtigere Rolle im sozialen Gefüge spielen, so hätte das weitreichende Folgen: a) würde der strukturelle Einfluss der Mittelschichten auf politische und soziale Prozesse größer sein bzw. werden, als von Marx angenommen, b) würden sie eine Art „Puffer“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat bilden und c) als Bündnispartner für beide Hauptklassen eine wichtigere Rolle spielen.

Diese – wie alle – Ansichten von Marx und Engels müssen immer auch vor dem Hintergrund einer bestimmten Entwicklungsphase des Kapitalismus betrachtet werden. Zwischen den 1840ern und 1883 bzw. 1895 (den Todesjahren von Marx und Engels), als beide ihr theoretisches Gebäude errichteten – oder genauer: einen Teil des Gebäudes und des Fundaments des „Marxismus“ schufen -, befand sich der Kapitalismus zwar nicht mehr am Anfang, aber noch in einer frühen Phase. Die bürgerliche Gesellschaft kämpfte sich erst aus den feudalen Bedingungen heraus, ihre Strukturen waren deshalb noch stark von den Konflikten mit dem Feudalismus geprägt.

Die imperialistische Phase des Kapitalismus hatte noch nicht begonnen bzw. stand erst unmittelbar bevor. Bestimmte qualitative Entwicklungen wie die Herausbildung von Konzernen oder die Entstehung des Finanzkapitals waren noch nicht erfolgt oder fingen erst an. Die Zahl der entwickelten kapitalistischen Länder war noch sehr gering, ein Weltmarkt im heutigen Sinn als eine Struktur tiefer Verflechtungen von Produktion, Technologie, Finanzen, Information und Kultur usw. gab es so noch nicht. Wesentliche Entwicklungen im Bereich der Produktivkräfte, z.B. die Elektrifizierung oder die Telefonie, kamen erst später, an Entwicklungen wie die Digitalisierung, den Auto- und Flugverkehr oder die Gentechnik war nicht zu denken. Insofern war es Marx natürlich auch nur möglich, eine Momentaufnahme, eine Diagnose des konkreten Kapitalismus seiner Zeit vorzunehmen. Gleichwohl gelangte er dabei auch zu allgemeinen Schlüssen, die sich – unabhängig von konkreten Entwicklungsstadien – als wesentlich für die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt und den Klassenkampf erweisen sollten.

Obwohl Marx durchaus klar war, dass die kapitalistische Produktion unter dem Druck der Konkurrenz beständig umgewälzt wird, konnte er die konkrete Ausprägung dieser Entwicklung nicht voraussehen. Insofern können und müssen MarxistInnen heute, da der Kapitalismus zur vollen Reife gelangt ist, ja zunehmend Tendenzen von „Fäulnis“ zeigt, wie es Lenin ausdrückte, genauere Aussagen dazu treffen, inwieweit Marx mit seiner Prognose hinsichtlich der Mittelschichten richtig lag. Wenden wir uns aber zunächst kurz den beiden Hauptklassen, dem Proletariat und der Bourgeoisie, zu.

Das Proletariat

Die Klasse der Lohnabhängigen wuchs – historisch gesehen – an Zahl und Organisiertheit. Es ist müßig, das zu beweisen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es weltweit erst etwas über 100 Mill. ProletarierInnen. Heute gib es allein in Deutschland etwa 40 Mill. lohnabhängig Beschäftigte, wovon die große Mehrzahl zur Arbeiterklasse zählt. Rechnet man noch die Kinder und die Rentner der Arbeiterklasse hinzu, kommt man auf ca. 80% Anteil an der Bevölkerung. In China ist die Arbeiterklasse seit Beginn der Industrialisierung um über 300 Millionen angewachsen. Gerade in Asien und den „Schwellenländern“ wächst die Arbeiterklasse. Aktuell besteht die Mehrheit der Weltbevölkerung noch aus Bauern, doch der Anteil der proletarischen Schichten wächst. Ihr Anteil an der weltweiten Wertschöpfung ist ohnehin schon lange dominant. Fast alle Entwicklungen in der Gesellschaft – ob in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik oder Kultur – sind direkt oder indirekt mit dem modernen Proletariat verbunden.

In vielen imperialistischen Zentren hingegen stagniert die Zahl der ArbeiterInnen – allerdings auf hohem Niveau. Die oft geäußerte These, dass immer mehr Beschäftigte nicht mehr in der Industrie, sondern im Dienstleistungssektor arbeiten, verwechselt oft die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit Umschichtungen im wirtschaftlichen Gefüge. Wird z.B. die Transportabteilung eines Unternehmens ausgegliedert, wird sie oft zur Dienstleistungsbranche gezählt, obwohl es natürlich weiter eine industrielle Tätigkeit ist, die sie verrichtet. Ein Drucker in einem Druckereibetrieb ist Proletarier, eine Angestellte in einem Copyshop gilt als Dienstleisterin, obwohl sie im Prinzip die gleiche Arbeit verrichtet und ebenfalls lohnabhängig ist. Outsourcing, informelle Beziehungen und „halb-selbstständige“ Arbeitsverhältnisse (z.B. Frenchising) nehmen zu. D.h. die Struktur der Arbeiterklasse ändert sich – das ist allerdings nicht neu, sondern eine permanente Folge der Umbrüche in der kapitalistischen Produktionsweise schon seit deren Entstehung.

Hinsichtlich der Arbeiterklasse, ihrer zahlenmäßigen Zunahme und damit auch ihres objektiven sozialen Gewichts in der Gesellschaft (Anteil an der Wertschöpfung) haben Marx und Engels recht behalten. Selbst in der Frage der Organisation trifft die Marxsche Erwartung zu: gegenüber der Situation vor 100 oder 150 Jahren ist die Zahl der in Arbeiterparteien, Gewerkschaften, linken Gruppen, Genossenschaften u.ä. Organisationen aktiven ArbeiterInnen heute höher. Allerdings gibt es hinsichtlich Organisation und Bewusstseinsentwicklung keine lineare Abhängigkeit von der ökonomischen Entwicklung; revolutionär-sozialistische Einstellungen und die Organisierung haben auch eine Eigendynamik, die v.a. mit Erfolgen und Niederlagen im Klassenkampf und mit den Entwicklungen in der Linken und in der Arbeiterbewegung zusammenhängen. So hat etwa der Aufstieg des Stalinismus über Jahrzehnte die Linke desorientiert und verhindert, dass die Dominanz des sozialdemokratischen Reformismus über die Arbeiterklasse aufgebrochen und der revolutionäre Flügel stärker werden konnte.

Das Proletariat produziert den größten Teil des globalen Reichtums, ob Autos, Kühlschränke, Computer, Filme, Babyschnuller oder Hauspantoffeln. Selbst in der Landwirtschaft steigt der Anteil der (halb)proletarischen Schichten. Natürlich erwächst aus dieser potentiellen ökonomischen Stärke nur in besonderen Momenten auch politische oder gesellschaftliche Macht im eigentlichen Sinn. Bei einem Streik etwa kann die wirtschaftliche Stellung oft direkt in soziale Macht in einem Betrieb umschlagen und umso mehr bei einem Generalstreik, der das gesamte soziale Getriebe lahmlegen kann und objektiv die Machtfrage in der Gesellschaft aufwirft. Aber nur in einer Revolution kann die Arbeiterklasse den Vorteil ihrer großen Zahl und ihrer wirtschaftlichen Stellung in wirkliche politische und soziale Macht ummünzen und aus einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden, wie Marx es ausdrückte.

Verelendung

Die Annahme von Marx, dass die Verarmung der Arbeiterklasse zunimmt, hat sich insgesamt nicht bewahrheitet. Im „Manifest“ schrieb Marx: „Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.“

Das Lebensniveau der Arbeitermassen zur Zeit von Marx, also im 19. Jahrhundert, war sehr niedrig. Schwere und gesundheitsgefährdende Arbeit, ein sehr langer Arbeitstag, Armut, Hunger und schlechte Wohnverhältnisse waren typisch. Eine weitere absolute Verschlechterung der Lebenslage war kaum denkbar. Abgesehen etwa von den Zuständen in den Nazi-KZ oder in Stalins Gulags verschwanden solche Bedingungen immer mehr. In den entwickelten Ländern gibt es sie kaum noch. In den Ländern der „3. Welt“ existiert Not natürlich noch als verbreitetes Phänomen, jedoch ist das kein spezifisches Problem des Proletariats. Selbst die oft unwürdigen und katastrophalen Arbeitsbedingungen und Löhne in den sog. Sweat shops schneiden zwar im Vergleich zu den Umständen in den hochentwickelten Ländern schlecht ab, nicht unbedingt aber im Vergleich zur Lage etwa der Bauern oder der SlumbewohnerInnen in den Entwicklungsländern. Von einer historischen Tendenz der Zunahme der absoluten Verarmung des Proletariats kann insgesamt nicht gesprochen werden – eher trifft das Gegenteil zu.

Nicht so einfach ist die Sache aber in der Frage der relativen Verelendung. Diese beschreibt den Anteil aller Arbeitenden bzw. des Proletariats an der gesamten Wertschöpfung bzw. am Reichtum eines Landes.

Einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung dieser Frage bietet das 2013 erschienene Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty. Er behandelt darin die Entwicklung der Einkommensverhältnisse in vielen wichtigen Ländern tw. seit Ende des 18. Jahrhunderts. Marx hatte zu seiner Zeit kein solches empirisches Material zur Verfügung, weil genaue Statistiken zu Ökonomie, Steuern und sozialer Lage usw. damals kaum existierten. So finden wir in Marx´ Werk auch nur relativ wenige solcher empirischer Daten, insbesondere für internationale oder historische Vergleiche.

Eine zentrale These Pikettys ist, dass die Vermögenskonzentration seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den Industrieländern deutlich angestiegen ist und die Ungleichheit zugenommen hat. Piketty ist kein Marxist, wovon schon sein eingeschränkter Kapitalbegriff zeugt. Trotzdem knüpft er durchaus an Marx an, wenn er sagt, dass die zunehmende Ungleichheit ein wesentliches Merkmal des Kapitalismus sei. Diese Tendenz bedrohe die Demokratie und den sozialen Frieden. Daher, so Pikettys Schlussfolgerung, müsse der Kapitalismus „gezähmt“ werden. Von einer revolutionären Perspektive der Überwindung des Kapitalismus ist bei Piketty jedoch keine Rede.

Was bei Piketty deutlich wird, ist der Umstand, dass es Phasen der Zunahme der Einkommensungleichheit gab, aber auch Phasen, wo diese wieder abnahm. Diese Veränderungen sind sehr eng mit der Steuergesetzgebung verbunden. D.h. der Staat spielt dabei eine wichtige Rolle. Piketty arbeitet zwei wichtige Tendenzen heraus: 1. steigen die Einkommen aus Vermögen und Kapital schneller als jene aus Erwerbsarbeit und schneller als das Wirtschaftswachstum, 2. wächst der Anteil der obersten, reichsten Schicht am Reichtum der Gesellschaft schneller als jener der anderen Teile der Bourgeoisie – vulgär ausgedrückt: der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

Der Anteil am Reichtum einer Gesellschaft lässt sich natürlich nicht nur in Geld oder an der Lohnhöhe bemessen. Zum Reichtum einer Gesellschaft gehört auch das „tote“ Kapital in Form von bereits früher vorgenommenen Investitionen. Und es gehören z.B. auch Ausgaben für Bildung dazu, die natürlich nicht nur der Bourgeoisie zugute kommen, sondern zum größten Teil den Mittelschichten und dem Proletariat. Schon dieses Beispiel verweist auf das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Diese erfordert unter dem Druck der Konkurrenz immer mehr Aufwendungen für Wissenschaft und Technik, wodurch die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeit zunehmen und somit auch die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft steigen und tw. auch der Wert der Ware Arbeitskraft zunimmt.

Wie enorm groß die Ungleichheit in der Welt ist, mögen einige Zahlen veranschaulichen. Für 2010 konnte konstatiert werden, „dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen etwa 11 % des gesamten Einkommens der Welt erhält, die reichere Hälfte also 89 %. Das reichste Zehntel der Weltbevölkerung erhält knapp 47 %, das ärmste Zehntel nur 0,7 % des Welteinkommens. Je ein Viertel des Welteinkommens erhalten die ärmsten 71 % der Weltbevölkerung, dann die daran anschließenden 18 % und 8 % und schließlich die reichsten 3 %.“ (Die weltweite Einkommensverteilung: Die letzten 40 Jahre und die Perspektiven, 22.11.15, homepage des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. München). Seitdem hat sich diese soziale Schieflage noch verstärkt. Dass die relative Verelendung der Arbeiterklasse steigt und ihr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum sinkt, erscheint also – im historischen Maßstab betrachtet – plausibel.

Insgesamt hat sich also die Einschätzung der sozialen Perspektive der Arbeiterklasse durch Marx und Engels nur zum Teil bestätigt: Zahl und soziales Gewicht der Arbeiterklasse sind gestiegen und steigen weiter. Doch eine allgemeine, d.h. absolute Verelendung ist nicht zu beobachten. Daraus nun aber zu folgern, dass das Proletariat nicht mehr „zur Revolution getrieben würde“, wäre ein Kurzschluss, denn es gibt 1. keinen direkten, mechanischen Zusammenhang zwischen der Lage der Klasse, ihrem Bewusstsein und ihrer sozialen Aktion. 2. ist die Lage des Proletariats insgesamt immer noch durch Unterdrückung, Ausbeutung, Benachteiligung, Entfremdung, Unsicherheit usw. geprägt.

Es kann sowohl Momente in der Geschichte geben, wo das Proletariat sich erhebt, weil – zumindest kurzfristig – sein Lebensstandard absolut sinkt oder davon bedroht ist bzw. wo die Unzufriedenheit sich v.a. im Vergleich etwa zu anderen Ländern offenbart. Letzteres war z.B. 1989 in der DDR der Fall, als sich die Bevölkerung gegen das SED-Regime erhob – nicht, weil das Leben der Massen sich absolut verschlechtert hätte, sondern weil der Rückstand zur BRD und der Widerspruch zwischen der Realität und den Propaganda-Versprechungen der SED immer größer und insofern auch die Zukunftsaussichten immer düsterer wurden.

Hinsichtlich einer Zunahme der absoluten Verarmung irrte Marx. So drückte er mehrfach die Ansicht aus, dass das Lohnniveau immer weiter bis auf das absolute Existenzminimum sinken würde. Das ist historisch gesehen aber offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenteil: die immer stärkere Durchdringung der Produktion und aller Lebensbereiche durch Wissenschaft und Technik führte dazu, dass die Qualifizierung der LohnarbeiterInnen zunehmen musste und ihr Wert – und damit die Löhne – anstiegen. War noch zu Marx` Zeiten der ungelernte Arbeiter, der relativ einfache Arbeiten erledigte, die Normalität, so ist heute das Qualifikationsniveau deutlich höher und der technisierte Arbeitsprozess viel komplizierter. Das Heuern und Feuern der qualifizierten Beschäftigten innerhalb einer immer komplexeren Produktionsstruktur ist daher zunehmend problematisch. Das ist eine Ursache dafür, dass es z.B. in Deutschland eine umfangreiche Kurzarbeiterregelung gibt, um die qualifizierte und eingearbeitete Stammbelegschaft zusammen zu halten.

Das gesamte Konzept vom Klassenkampf bei Marx und Engels und ihre Kennzeichnung des Proletariats als der einzigen konsequent revolutionären Klasse speist sich wesentlich aber nicht daraus, dass es dem Proletariat schlecht oder gar immer schlechter gehen würde. Vielmehr sehen Marx und Engels das Revolutionäre des Proletariats darin, dass es 1. keine Produktionsmittel besitzt und deshalb nichts, d.h. kein Eigentum, keinen „Reichtum“ und keine Privilegien, zu verlieren habe, und dass es 2. am engsten mit der modernen Produktion verbunden ist, d.h. objektiv in der Lage ist, die Produktionsmittel zu beherrschen, weiter zu entwickeln und Träger einer höheren, kommunistischen Produktionsweise zu sein. Diese Eigenschaften befähigen es auch dazu, andere ausgebeutete und unterdrückte Schichten mitzureißen.

Die Bourgeoisie

Auch bezüglich der Entwicklung der Bourgeoisie lagen Marx und Engels insgesamt richtig. Das Kapital durchdringt und dominiert die Gesellschaft immer stärker – Großkonzerne, Banken und Fonds beherrschen den Erdball inzwischen bis in den äußersten Zipfel der Kontinente und bis in die letzte Ecke unserer Wohnzimmer. Trotz dieser immensen Macht stellt die Bourgeoisie nur eine winzige Minderheit der Gesellschaft: je nach Kriterium und Zählweise 1-5% der Bevölkerung. Der Anteil des gesellschaftlichen Reichtums, über den die Bourgeoisie verfügt, hat sich im Zuge der Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt vergrößert. Allerdings ist ihr Anteil, v.a. in den hochentwickelten Ländern, auch Schwankungen unterworfen. Piketty weist darauf hin, dass es innerhalb der Bourgeoisie eine Tendenz der Akkumulation von Reichtum und sozialer Macht zugunsten der obersten Teile der Bourgeoisie gibt. Nicht nur die Position der Milliardäre in der Welt wird immer stärker, auch der Einfluss der großen Konzerne und Finanz-Konglomerate wächst. Doch davon, dass die Bourgeoisie einen immer kleineren Bevölkerungsanteil stellt, kann nicht gesprochen werden. Trotz aller Konzentrations- und Zentralisationstendenzen kam es bisher nicht dazu, dass die Klein- und Mittelkapitale verschwunden wären.

Die Verteilung bzw. der Anteil am Reichtum der Gesellschaft hängt naturgemäß auch von großen historischen Erschütterungen wie Krisen oder Kriegen ab, welche die Reichtumsverteilung beeinflussen. Ein wichtiger Faktor ist dabei der Klassenkampf der Lohnabhängigen. So konnte die Arbeiterklasse oft erreichen, dass ihr Anteil am verteilbaren Endprodukt nicht weiter fiel oder in bestimmten Perioden sogar anstieg. Manchmal genügte sogar schon das objektive soziale Gewicht der Arbeiterklasse und die schiere Möglichkeit des Kampfes gegen das Kapital, das dieses dazu bewog, Zugeständnisse zu machen.

Eine markante historische Tendenz innerhalb der Bourgeoisie ist das Anwachsen von bürgerlichen Schichten, die fast überhaupt keine Verbindungen zum Produktionsprozess (als materieller wie als immaterieller Prozess verstanden) mehr haben. Lenin bezeichnete diese Schicht als „Kuponschneider“, die nur noch von Aktien- und Fondsanteilen und Erbschaften leben oder sich auf dem spekulativen Finanzsektor austoben.

Eigentumsfrage

Diese Tendenz ist damit verbunden, dass sich die Funktion des „Eigentümers“ verändert. Eigentum hat zwei Aspekte: einerseits impliziert es einen juristischen Eigentumstitel, andererseits bedeutet es, einen realen Zugriff auf die Verwendung des Eigentums zu haben. So hat ein Aktionär eines börsennotierten Unternehmens natürlich einen juristisch klar geregelten Rechtsanspruch auf einen Anteil am Unternehmens- bzw. Aktiengewinn, die direkte Verfügung über das konkrete Eigentum, liegt aber kaum bei ihm, sondern beim Management. Diesem wiederum gehört jedoch das Unternehmen nicht, sie sind Angestellte desselben – tw. so gut bezahlt, dass sie selbst zur Bourgeoisie gehören, tw. nur besser bezahlte Lohnabhängige, die zur lohnabhängigen Mittelschicht zählen. Dieses „Auseinanderfallen“ der verschiedenen Eigentumsfunktionen (auch in Gestalt verschiedener Personengruppen) ist umso stärker, je größer die Bedeutung des Finanzsektors ist. Auch Marx zeigte schon, dass die Kapitalakkumulation die Tendenz hat, sich immer mehr vom „realen“, mit der industriellen Produktion verbundenen Wertschöpfungsprozess, abzukoppeln, ohne jedoch völlig seine Bindung daran zu verlieren.

Historisch können wir diese Veränderungen auch an vielen deutschen Unternehmer-Biographien früherer Jahrzehnte ablesen. In den „Gründerjahren“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machte der Unternehmer seiner „Berufsbezeichnung“ oft noch alle Ehre – er war oft Erfinder, Techniker, Organisator, Finanzmann und „Sozialpolitiker“ in einer Person. Natürlich war er dabei immer Kapitalist, der Lohnarbeit ausbeutet, doch eine Trennung von Eigentumsrecht und Verfügungsgewalt gab es damals viel weniger als heute. Die Eigentümer-Funktion fällt heute immer mehr auseinander: hier die Wissenschaftler, Techniker und „unteren“ Manager, die den Produktionsprozess steuern, vorantreiben und erneuern; dort die „formalen“ Eigentümer, die Spitzenmanager und Aufsichtsräte, die von Juristerei, Finanzwesen oder von „gar nichts“ Ahnung haben, aber über „Beziehungen“ verfügen und Zugriff auf die strategischen Entscheidungen haben. Hatten die Kapitaleigner in der Aufstiegsphase des Kapitalismus noch eine gewisse „fortschrittliche“ Funktion, so ist diese nicht nur weitgehend abhanden gekommen – sie ist in eine weitgehend reaktionäre umgeschlagen.

Das Auseinanderfallen dieser beiden Eigentumsfunktionen – Eigentümer „de jure“ und Eigentümer „de facto“ – verweist auf das immer weitere Auseinanderdriften, auf den immer größer werdenden Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Produktivkraftentwicklung.

Zusammenfassend können wir sagen, dass Marx und Engels mit ihren Voraussagen bezüglich der Entwicklung bzw. der Stellung der beiden Hauptklassen in der Gesellschaft recht hatten – mit den oben angeführten Einschränkungen. Letztere ändern jedoch nichts Wesentliches daran, dass a) die Bourgeoisie die Geschicke der Gesellschaft bestimmt und eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse nur durch den Sturz und die Enteignung des Kapitals erreicht werden kann und b) die Arbeiterklasse die einzige Klasse ist, die objektiv revolutionär ist und das entscheidende Subjekt fortschrittlicher gesellschaftlicher Veränderungen und umso mehr für den revolutionären Sturz des Kapitalismus darstellt.

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