Problematische Mitte – Ein Beitrag zur Klassenanalyse (Teil 2 von 3)

Hanns Graaf

Hinsichtlich der Mittelschichten wollen wir zunächst die Kategorien klären. Zu den Mittelschichten gehört einmal traditionell das Kleinbürgertum. Das sind Besitzer von Produktionsmitteln, welche die Ausbeutung von Lohnarbeit in geringem Umfang ermöglichen (was oft „Selbstausbeutung“ einschließt). Dazu zählen v.a. selbstständige Bauern, Handwerker, kleine Händler und Ladenbesitzer sowie diverse „freie Berufe“. Ihre soziale Stellung (hinsichtlich ihres Einkommensniveaus) kann um ein Mehrfaches besser sein als das von durchschnittlichen ArbeiterInnen, es kann aber auch darunter liegen.

Es gibt zahlreiche Berufsgruppen, wo zwar ein Lohnarbeitsverhältnis besteht, dieses jedoch nicht den Tatbestand der Lohnabhängigkeit voll erfüllt, weil der Lohn bzw. das Gehalt sehr hoch sind oder ein relevantes Einkommen auch aus Aktienbesitz usw. gezogen wird, so dass ein Ausscheiden aus einer Anstellung nicht direkt oder überhaupt nicht zu materieller Not führt und es fast immer Möglichkeiten gibt, eine Position im „Establishment“ zu behalten. Zu dieser Gruppe gehören etwa höhere Manager, die obere Schicht in Wissenschaft und Kultur oder die Spitzen in Politik und Staat. Zum Teil muss dieses Milieu wegen ihrer sozialen Lage und ihrer Stellung im gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess sogar zur Bourgeoisie gerechnet werden.

Zu dieser Gruppe der lohnabhängigen Mittelschicht gehören aber auch viele Berufsgruppen, die über keine Produktionsmittel verfügen und nur „normal“ bezahlt werden; sie sind durchaus lohnabhängig im eigentlichen Wortsinn. Doch ihre soziale Funktion ist oft derart, dass sie direkt an der Aufrechterhaltung und Organisation der kapitalistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsordnung mitwirken – als „Arbeitsaufseher“, wie Marx sagt. Das trifft u.a. auf Polizisten, Juristen, Beamte, Lehrer oder Journalisten zu. Ihre Lebenslage ist oft nicht besser, u.U. sogar schlechter als die von FacharbeiterInnen in der Großindustrie, doch viele von ihnen verfügen zugleich über bestimmte soziale Privilegien (z.B. Beamtenstatus), welche sie partiell über das Proletariat erheben, sie von ihm absondern und zu einem Teil des (teils staatlichen, teils privaten) Indoktrinations- und Repressionssystems und Managements machen.

Zur lohnabhängigen Mittelschicht zählen auch die meisten Ingenieure. Sie bilden sozusagen die Schnittstelle zwischen Wissenschafts- und Technikentwicklung und deren Anwendung in der Praxis. Sie stehen sozial zwischen der Arbeiterklasse (ein Teil von ihnen gehört auch direkt dazu) und der Bourgeoisie und dem höheren Management. Zu Marx´ oder Lenins Zeiten gehörte der Ingenieur immer zu einer sozial abgehobenen Schicht, tw. sogar zur unteren Bourgeoisie. Das hat sich deutlich geändert, die Ingenieure sind einer Tendenz der Proletarisierung unterworfen.

Es wäre unsinnig, eine mechanische Zuordnung dieser Schichten zum Kleinbürgertum, zur Bourgeoisie oder zum Proletariat vorzunehmen. Dafür sind die sozialen Differenzierungen, Übergänge und Veränderungen innerhalb der lohnabhängigen Mittelschichten viel zu groß. Allerdings lehnen wir die – unter Linken gar nicht seltene – Sichtweise ab, nach der alle Menschen, die nicht über Kapital (Produktionsmittel) verfügen und Lohn oder Gehalt bekommen, automatisch zur Arbeiterklasse gerechnet werden. Diese Vorstellung beruht auf der falschen Methode, einzelne Faktoren überzubewerten und nicht die Stellung von Menschen, Klassen oder Schichten im gesamten Produktions- und Reproduktionssystem zu betrachten. Für uns sind daher Polizisten, Spitzenmanager oder ein Bundeskanzler – obwohl sie alle im strengen Sinn nicht über Privateigentum an Produktionsmitteln verfügen und Gehalt bekommen – nicht Teil der Arbeiterklasse, sondern deren Klassengegner.

Kommen wir nun zu der anfangs gestellten Frage, ob sich die Marxsche These der Tendenz zur Erosion, zur Abnahme der Bedeutung der Mittelschichten in der Gesellschaft historisch bestätigt hat oder nicht.

Heute können wir wesentlich genauer und von einer weit besseren empirischen Basis aus urteilen als Marx. In allen entwickelten Ländern schwindet der Anteil des traditionellen Kleinbürgertums, v.a. des ländlichen, an der Bevölkerung. Als Beispiel sei hier auf Deutschland verwiesen. Zu Marx´ Zeit stellten Bauern hier noch den Hauptteil der Bevölkerung, heute beträgt deren Anteil nur noch ca. 3-4%. Der Einzelhandel, der im 19. Jahrhundert noch fast zu 100% nur in Gestalt kleiner „Tante-Emma-Läden“ existierte und eine typische Domäne des Kleinbürgertums war, wird heute weitgehend von großen Handelskonzernen dominiert. Der einzige „Kleinbürger“ in der Filiale einer Kette, die ein Vielfaches des Umsatzes generiert, den früher ein kleiner Laden hatte, ist der Filialleiter. Dieser ist aber auch kein Kleinbürger im strengen Sinn, sondern er gehört als Angestellter oder Franchise-Nehmer auch oft zur lohnabhängigen Mittelschicht – im Unterschied zu seinen proletarischen Angestellten.

Während viele traditionelle Milieus von Kleinbürgertum verschwunden sind, haben sich auch neue etabliert, die in den Nischen der Großproduktion agieren und in speziellen Branchen dominieren (Kultur, Werbung, Handwerk, Service usw.).

Der allgemeine Trend der zahlenmäßigen Minimierung des Kleinbürgertums und deren Veränderung bestätigen zunächst Marx´ These. Diese Entwicklung bedeutet – aus Sicht des Proletariats -, dass jener Teil der Gesellschaft, der aufgrund seines Privatbesitzes kein oder wenig Interesse an der Überwindung des Kapitalismus hat, kleiner wird. Eine Hürde, welche die Revolution überspringen muss, ist damit gewissermaßen niedriger.

Die Ursache dieser Verdrängung des Kleinbürgertums sind die Umwälzprozesse an der materiellen Basis des Kapitalismus. Überall wird die Kleinproduktion durch rationellere Produktionsformen abgelöst, überall wird menschliche Arbeit durch Maschinerie ersetzt (was allerdings in anderen Sektoren auch wieder mehr Arbeit erzeugt). Oft – aber nicht überall – wird das enge Privatmilieu des kleinen Krämers durch das im weiteren Rahmen operierende große Kapital abgelöst.

Das Schrumpfen des Kleinbürgertums betrifft aber nicht alle seine Teile gleichmäßig. Am stärksten trifft es auf die Bauern und den Handel zu, weniger und z.T. gar nicht auf bestimmte städtische Milieus. So entstehen in den Poren der großen Industrie immer wieder aufs Neue „kleine“ Unternehmen, die technische Innovationen hervorbringen, spezialisierte Service-Firmen, Start ups usw. Die dort agierenden „Gründer“ bilden ein neues Kleinbürgertum, dessen Traum, einmal groß zu werden, mitunter sogar aufgeht, wie etwa der Windows-Erfinder Bill Gates oder der Apple-Gründer Steve Jobbs zeigen. Doch das sind Ausnahmen von der Regel, oft gehen die Kleinen früher oder später ein, werden von den Großen geschluckt oder „eingemeindet“.

Diese Phänomene bestätigen die schon lange bekannte (und eigentlich selbstverständliche) Tatsache, dass die Innovationskraft einer Gesellschaft immer aus der „Mitte“ kommt – nicht von den obersten Schichten, die sich – wie Lenin treffend bemerkte – in der imperialistischen Epoche immer mehr zu unproduktiven Schmarotzern entwickeln. Innovation kommt aber – was leicht einsichtig ist – auch kaum aus den untersten sozialen Schichten. Eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft hätte somit auch die Aufgabe, diese produktiven Potenzen der „Mitte“ möglichst optimal zum Wohle der Gesamtheit nutzbar zu machen und sowohl die Oberschicht als auch die Unterschicht aus ihrem unproduktiven Dasein herauszuführen – die einen durch die Enteignung, die anderen durch Arbeit und Bildung.

Die lohnabhängige Mittelschicht

Hier hat sich – um es schon vorweg zu nehmen – Marx´ Voraussage insgesamt nicht bestätigt. Auch im 19. Jahrhundert gab es eine von Lohn, vom Gehalt oder von Honoraren abhängige Mittelschicht. Dazu zählten Beamte, Lehrer oder freie Berufe wie z.B. Juristen. Doch deren Zahl war sehr gering. Mit der Entwicklung des Kapitalismus hat sich mit der Veränderung der Produktionsweise und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte auch die soziale Struktur grundlegend gewandelt. Die Kleinproduktion wurde immer mehr durch die große Industrie verdrängt. An die Stelle der Vielzahl von vielen kleinen Krautern traten wenige, aber größere Kapitalisten. Mit der steigenden Bedeutung von Wissenschaft und Technik – nicht nur in der Industrie, sondern im gesamten sozialen Leben – wurden die Produktion und die Wechselwirkungen zwischen den wirtschaftlichen Einheiten immer komplexer. Die Konkurrenz wurde härter und spielt sich immer mehr im internationalen Rahmen ab. Die Auswirkungen der kapitalistischen, auf das Erwirtschaften von Profit orientierten Produktionsweise verstärkten oft ihre zerstörerischen Tendenzen für soziale Systeme und die natürliche Umwelt. Die Kriege der imperialistischen Epoche und der Faschismus haben Dimensionen des Inhumanen erreicht, die vorher kaum vorstellbar waren. Nicht zuletzt hat sich mit der imperialistischen Epoche auch der Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat zugespitzt und nahm mitunter offen revolutionären Charakter an.

Die Zunahme und Ausweitung dieser, dem Kapitalismus inhärenten Merkmale und Widersprüche führte dazu, dass es zu einem enormen Anwachsen von Strukturen kam, die diese Verwerfungen glätten, die diese Widersprüche ausbalancieren sollen. Im Wesentlichen erfolgt das über den Staat. Sowohl seine unterdrückerischen Funktionen (darunter auch „indirekte“ wie die Indoktrination), als auch seine „vermittelnden“ Funktionen (Rechts- und Sozialsystem) wurden stark ausgebaut – nicht (nur) als „Wohltat“, sondern als notwendig zur Organisation des Lohnarbeits- und Konkurrenzsystems und zugleich als Profitquelle für bestimmte Teile des Kapitals (z.B. Pharmaindustrie).

Im Bereich des Staates ist das schon daran ablesbar, dass gegenüber der Zeit von Marx eine unerhörte Zunahme der Zahl von Ministerien und diversen Verwaltungen zu verzeichnen ist. Das 19. Jahrhundert kannte weder ein Verkehrs- noch ein Umweltministerium oder ein Amt für Datenschutz. Heute verfügen alle entwickelten Länder über ein riesiges Geflecht von Ämtern, Ministerien, Instituten, Stiftungen usw. zum Managen all dieser, in letzter Instanz von der Konkurrenz der kapitalistischen Produktion erzeugten Probleme. Die Konkurrenz zwingt alle Unternehmen dazu, die technische Grundlage ihrer Produktion ständig umzuwälzen. Wissenschaft und Technik werden immer wichtiger, immer größere Ressourcen fließen in Forschung und Entwicklung.

Rudolf Hilferding beschrieb schon um 1900 die Auswirkung dieser Tendenz auf die Klassenstruktur: „Eine ganz andere Stellung nehmen jene Schichten an, die man (…) als ´neuen Mittelstand` bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Angestellten in Handel und Industrie, die durch die Entwicklung des Großbetriebes und durch die gesellschaftliche Form des Unternehmens eine außerordentliche Vermehrung erfahren haben und in hierarchischer Abstufung zu den eigentlichen Leitern der Produktion werden. Es ist eine Schicht, deren Anwachsen selbst das des Proletariats übertrifft. Der Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung (des Kapitals, d.A.) bedeutet eine relative, in manchen Fällen und manchen Industriesphären sogar eine absolute Verminderung der Arbeiter. Dies muss aber durchaus nicht der Fall sein mit dem technischen Personal, das vielmehr mit dem Umfang des Betriebes, wenn auch nicht im selben Verhältnis, zunimmt. Denn Fortschritt der organischen Zusammensetzung bedeutet Fortschritt des automatischen Betriebes, Veränderung und Komplizierung der Maschinerie. Die Einführung neuer Maschinerie macht menschliche Arbeitskraft überflüssig, sie macht aber durchaus nicht die Aufsicht des Technikers überflüssig. Die Ausdehnung des maschinellen, großkapitalistischen Betriebes ist daher ein Lebensinteresse der technischen Angestellten aller Kategorien und macht die Angestellten der Industrie zu den leidenschaftlichsten Anhängern großkapitalistischer Entwicklung.“ (Das Finanzkapital, Dietz-Verlag, Berlin, 1947, S. 482/83)

Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion mit ihrer Ausweitung von Wissenschaft und Bildung führte und führt dazu, dass der Staat dafür sorgen muss, dass diese Bereiche so organisiert werden, dass das Kapital genügend qualifizierte (und indoktrinierte) Menschen zur Verfügung gestellt bekommt. So wurden die Bereiche Bildung, Wissenschaft, Forschung, Medien immer größer und wachsen weiter. Sehr markant für diesen Trend ist etwa das Internet, in dessen Umfeld sich viele Firmen und etliche Berufsgruppen etabliert haben, die es so noch vor 30 Jahren überhaupt nicht gab.

In welchen Bereichen der Gesellschaft treffen wir nun diese lohnabhängige Mittelschicht an? Wir können u.a. folgende Milieus bzw. Berufsgruppen identifizieren:

  • MitarbeiterInnen der Verwaltung in Staat, Kommunen und im Sozialwesen;
  • Management und Verwaltung in Unternehmen;
  • Bildung, Wissenschaft inkl. der dortigen Verwaltungsbereiche;
  • Kultur und Medien;
  • Juristerei und Politik.

In all diesen Bereichen gibt es allerdings auch viele MitarbeiterInnen, die Lohnabhängige sind, die zur Arbeiterklasse gerechnet werden müssen, sowie (in geringem Umfang) Angehörige der Bourgeoisie. Wir wollen mit einigen Beispielen verdeutlichen, was konkret mit dem Begriff „lohnabhängige Mittelschicht“ gemeint ist.

Mit der Einführung der Sozial-Gesetzgebung in Deutschland durch Bismarck entstand auch ein großer Apparat, um den „Sozialstaat“ zu verwalten. Heute ist das „Sozialsystem“ ein riesiges Geflecht von staatlichen, privaten und halbstaatlichen Strukturen. Allein die Existenz von hunderten miteinander konkurrierenden Sozialkassen bedeutet, dass zehntausende Menschen damit beschäftigt sind, diesen Wildwuchs zu verwalten. 2017 waren in Deutschland lt. Statistischem Bundesamt von rund 31 Mill. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten über 12 Mill. in den Bereichen Unternehmensor¬ganisation, Buch¬hal¬tung, Recht, Ver¬wal¬tung, Gesundheit, Soziales, Leh¬re und Er-zieh¬ung beschäftigt, d.h. über ein Drittel! Das Gros der dort Beschäftigten zählt zwar zum Proletariat, aber dieses ist oft direkt mit strukturell unterdrückerischen, ordnungspolitischen, staatlichen Funktionen verbunden und insofern – anders als klassische FabrikarbeiterInnen – auch stärker ideell mit dem Staat bzw. dem System verbunden.

Beispiel Bildungsbereich

2015/16 waren an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ca. 750.000 LehrerInnen in Voll- oder Teilzeit beschäftigt. Zusammen mit LehrerInnen an anderen Schulen (z.B. Berufsschulen) sind damit 2-3% aller Beschäftigten in diesem Bereich tätig. Diese „kleine“ Schicht beeinflusst aber 100% der Bevölkerung, da jeder Mensch die Schule besucht. Neben vielen „sachlich-neutralen“ Inhalten (Lesen, Schreiben, Rechnen usw.) vermittelt die Schule aber sowohl inhaltlich-ideologisch wie strukturell auch bürgerliche Werte und konditioniert die SchülerInnen gewissermaßen für den Kapitalismus. Das trifft umso mehr auf die „höhere“ gymnasiale, berufliche und universitäre Bildung zu.

LehrerInnen haben somit immer die doppelte Funktion (adäquat dem Doppelcharakter der Arbeit im Kapitalismus: Arbeit als Quelle von Gebrauchswert und von Tauschwert) der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten usw. und der Funktion als Vermittler von Werten und Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Dass der Kapitalismus diese Rolle durchaus wertschätzt, zeigt sich u.a. in der Verbeamtung, d.h. der teilweisen sozialen Besserstellung von PädagogInnen. Indem LehrerInnen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – also Teil des Herrschafts- und Indoktrinations-Apparats sind, können sie nicht einfach – trotz ihrer Lohnabhängigkeit und ihrer auch grundsätzlich „beherrschten“ Lage – dem Proletariat zugerechnet werden. Sie stehen eben v.a. hinsichtlich ihrer sozialen Funktion und Lage nach zwischen den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat. Sicher ist aber die Kita-Erzieherin oder die Grundschullehrerin eher der Arbeiterklasse zuzurechnen als etwa ein Schulleiter oder gar eine Professorin.

Gegenüber der Zeit von Marx ist der Bildungsbereich weitaus größer, er erfasst auch mehr Menschen und für längere Zeit. Dessen Einfluss nicht nur auf das Denken, sondern auf das gesamte Leben von Menschen ist daher weit größer als früher. Die Tendenz der Bedeutungszunahme von Wissenschaft und Bildung verstärkt sich weiter. Für die Formierung eines antikapitalistischen Potentials und für den Klassenkampf ist also die Lehrerschaft weitaus bedeutender als zu Marx´ Zeiten, während etwa der Einfluss der Kirche hierzulande geringer ist als früher. Es stellt sich also einerseits die Frage, wie LehrerInnen auf „unsere“ Seite der Barrikade gezogen werden können und andererseits, wie dem stärkeren Einfluss der bürgerlichen Bildung und des bürgerlichen Staates begegnet werden kann? In ähnlicher Weise betrifft das auch den universitären Bereich und die Wissenschaft.

Der Staatsapparat bzw. staats-ähnliche und mit dem Staat verbundene Strukturen sind in den letzten Jahrzehnten wie ein Hefeteig aufgequollen. Die Staatsverwaltung und die Kommunen (auch ohne Armee und Polizei) sind in allen entwickelten Ländern längst die größten „Arbeitgeber“. Die staatlichen, privaten oder halbprivaten Strukturen auf diesen Gebieten sind zum großen Teil der Tätigkeitsbereich der lohnabhängigen Mittelschichten: Büro- und VerwaltungsarbeiterInnen in diversen Ämtern – ob verbeamtet oder nicht -, PädagogInnen, Beschäftigte im universitären und im Wissenschaftsbereich, in den sozialen Diensten, in Instituten, Ämtern, Stiftungen, NGOs usw. Ein großer Teil dieser Tätigkeiten, insbesondere im Repressionsapparat und in der Verwaltung, sind unproduktiv – unproduktiv in dem Sinn, dass sie keine Gebrauchswerte erzeugen und keine wirklichen Bedürfnisse befriedigen, es sei denn „Bedürfnisse“, die von der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt werden und deren Erhalt dienen.

Eine nichtkapitalistische Gesellschaft muss es sich daher zur Aufgabe machen, solche unproduktiven Strukturen zu minimieren; das trifft umso mehr für den Kommunismus zu bzw. ist sogar eine seiner wesentlichen Voraussetzungen. Allein daraus erwachsen schon die Notwendigkeit und die Möglichkeit des Absterbens des Staates, wie es Marx und Engels postuliert haben. Daraus erwächst auch die Notwendigkeit für die Arbeiterbewegung und die Linke, gegen diese unproduktiven und bürokratischen Strukturen zu kämpfen – sie tun es leider nicht.

Studierende

Mit der Bedeutungszunahme von Wissenschaft und Technik im Kapitalismus steigt auch die Zahl der Studierenden. Gegenwärtig studieren in Deutschland ca. 3 Millionen, noch vor 10 Jahren waren es nur 2 Millionen – eine Zunahme von 50%! Dieser Trend ist auch international zu beobachten.

Studierende sind eine soziale Gruppe, die sich durch einige Besonderheiten auszeichnet. Natürlich ist die Studienzeit zeitlich begrenzt, insofern sind Studierende nur „auf Zeit“ in ihrer besonderen sozialen Situation. Die Klassenzugehörigkeit von Studierenden wird bestimmt a) durch die Klasse, der sie entstammen (zum großen Teil kommen sie aus der Bourgeoisie, den Mittelschichten und der Arbeiteraristokratie) und b) durch die Klasse, zu der sie nach dem Studium gehören werden bzw. gehören wollen. Sicher versprechen sich die meisten Studierenden per Studienabschluss einen sozialen Aufstieg und eine sozial gehobene Stellung.

Die Studienzeit ist von einer besonderen sozialen Lage geprägt. Diese beruht entweder auf der Alimentierung durch das Elternhaus bzw. den Staat (Stipendien) und/oder auf Einkünften durch eigene Arbeit in Mini- und Teilzeitjobs, Werkverträgen, Praktika usw. Diese Einkünfte erlauben aber meist (außer bei Kindern der oberen Schichten) nur ein bescheidenes Leben. Viele Studierende zählen somit ihrer direkten sozialen Lage während des Studiums nach eigentlich zum (unteren) Proletariat – nicht nur „finanziell“, sondern auch deshalb, weil sie tw. über ihre „Gelegenheitsarbeit“ mit dem Produktionsprozess und mit dem Proletariat direkt in Berührung kommen. Zugleich wirken aber eben auch die oben beschriebenen Aspekte der Klassenzugehörigkeit.

So können wir sagen, dass das Gros der Studierenden aufgrund ihrer schwankenden Klassenlage alles in allem (zumindest zeitweise) zu den lohnabhängigen Mittelschichten gerechnet werden muss.

Die Mittelschichten haben natürlich nicht die soziale Kraft und das ökonomische Gewicht, den Gang der Weltgeschichte grundlegend zu prägen. Auch die bürgerlichen Revolutionen haben gezeigt, dass das Bürgertum selbst zwar darin die Führung inne hatte und ihnen den Stempel aufdrückte, es aber auf die Unterstützung durch die Masse der Unterdrückten und Ausgebeuteten angewiesen war. Doch in bestimmten Momenten als Initiator, als Zünglein an der Waage, als Katalysator zu wirken – das können die Mittelschichten sehr wohl. Denken wir an die 68er-Bewegung oder an den „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking 1989. In beiden Fällen spielten StudentInnen darin die Rolle der Vorhut. Oder denken wir an die Umwelt-, die Klima- oder die Anti-AKW-Bewegung und an FFF, die sich wesentlich auf die Mittelschichten stützen, nicht auf das Proletariat.

Doch der Klassenkampf wird, wie jeder Krieg, nicht von der Vorhut entschieden, sondern durch die Konfrontation der Hauptkräfte.

Beispiel Faschismus

Die imperialistische Phase des Kapitalismus ist oft von einem scheinbar seltsamen Phänomen geprägt: erhebliche Teile der Ideologie, der Politik, der sozialen Bewegungen der Gesellschaft sind in „reiner Form“ weder vom Großkapital noch vom Proletariat geprägt – obwohl diese die Hauptklassen der Gesellschaft darstellen. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen.

Der Faschismus ist die Ideologie des durch die Krise ruinierten und „wild gewordenen Kleinbürgertums“ (Trotzki). Dass der Faschismus als kleinbürgerliche Bewegung überhaupt für einen historischen Moment zu einem zentralen Faktor werden konnte, lag aber weniger an der sozialen Kraft, die ihm selbst innewohnt. Stattdessen besetzte er die politische Arena, weil die beiden Hauptklassen sie nicht besetzen konnten: Das große Kapital war durch die Kriegsniederlage und die politischen und sozialen Krisen der Weimarer Republik geschwächt und diskreditiert und verfügte über keine ausreichend starke traditionelle politische Partei, die hätte allein regieren und die angestauten Probleme lösen können. Die Arbeiterbewegung wiederum war gespalten und durch ihre Führungen – die sozialdemokratische wie die „kommunistische“ – politisch gelähmt und desorientiert. Nur darum konnte Hitler als hohnlachender Dritter ins Rampenlicht treten und sein historisches Horrorstück inszenieren.

Zu welch fatalen Konsequenzen es führen kann, die spezifische Rolle der Mittelschichten im imperialistischen Kapitalismus nicht zu verstehen, zeigt gerade auch die Faschismus-Analyse der stalinisierten Komintern. Georgi Dimitroffs bekannte Faschismus-Definition hielt den Faschismus v.a. für den politischen Ausdruck des aggressivsten Teils des Großkapitals. Den spezifischen Bewegungscharakter des Faschismus, sein reaktionäres soziales Revoluzzertum u.a. Besonderheiten konnten mit seiner „Analyse“ überhaupt nicht verstanden werden.

Es ist aber andererseits kein Wunder, dass sowohl die Bewegung als auch die Ideologie des Faschismus, als dieser dann an der Macht war, sich wandelten: seine kleinbürgerlich-revoluzzerhaft-utopischen Elemente wurden zurückdrängt und machten offen imperialistisch-großkapitalistischen Platz. Aus der kleinbürgerlichen Massen-Bewegung wurde ein bonapartistisches System als spezifische Form der Herrschaft des Großkapitals. Das wurde u.a. 1934 deutlich, als die SA als wesentliche Struktur des mobilisierten Kleinbürgertums von Hitler entmachtet und ihr ein untergeordneter Platz in der Machthierarchie zugewiesen wurde.

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