Problematische Mitte – Ein Beitrag zur Klassenanalyse (Teil 3 von 3)

Hanns Graaf

Die Ideologie der Mitte

Viele Ideologien und Bewegungen der Gegenwart wie etwa der Feminismus, der Ökologismus oder der Demokratismus sind oft nicht wesentlich Ausdruck des Proletariats oder des Kapitals – höchstens indirekt -, sondern der Mittelschichten.

Wie können wir erklären, dass Ideologien und Bewegungen der Mittelklassen oft einen solchen Einfluss erlangen?

Zunächst einmal hat das damit zu tun, dass sich mit der Entwicklung des Kapitalismus auch dessen „soziale Mitte“ stark gewandelt hat. Anfänglich bestand diese zunächst v.a. aus dem klassischen Kleinbürgertum, d.h. aus den städtischen Händlern und Handwerkern, Beamten, Freiberuflern sowie den Bauern. Deren Zahl schrumpfte jedoch immer mehr, v.a. die Bauernschaft. Dagegen nahm die Zahl der lohnabhängigen (städtischen) Mittelschichten stark zu. Die Entwicklung der modernen Großproduktion erforderte immer mehr gebildete SpezialistInnen. Das Bildungswesen, die Medien, Forschung und Entwicklung, Marketing u.ä. Bereiche wuchsen immer mehr an. Logischerweise nahm damit auch das – objektive – soziale Gewicht der (städtischen) Mittelschichten zu.

Parallel dazu war mit dieser Umschichtung der “Mitte“ ein Funktions- und Bewusstseinswandel dieser Schichten verbunden. Die Arbeit der neuen (lohnabhängigen) Mittelschichten erfordert ein größeres Maß an Bildung, auch ihre Funktion in der Gesellschaft ist viel stärker und direkter auch die von IdeologInnen. Selbst wenn sie als WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen oder berufliche SpezialistInnen nicht immer Ideologie produzieren müssen, sind sie allein schon durch ihr Studium viel stärker ideologisch geprägt als früher der Krämer, Handwerker oder Bauer. Das heißt allerdings nicht, dass daraus automatisch eine besondere Affinität für reaktionäre oder progressive Anschauungen folgt. Es bedeutet nur, dass diese Schichten stärker das Leben und v.a. das Denken der Gesellschaft beeinflussen.

Der Kapitalismus wird zwar wesentlich durch die Herrschaft der Bourgeoisie geprägt, stellt aber zugleich auch eine Balance – allerdings eine schwankende, widersprüchliche, umkämpfte – zwischen den beiden Hauptklassen dar, die aufeinander „angewiesen“ und miteinander verbunden sind. Diese Situation kann nur durch die proletarische Revolution beendet werden, denn das Kapital kann nicht ohne Proletariat auskommen, dieses aber sehr wohl ohne das Kapital.

Die „Klassen-Balance“, der „vermittelte“ Klassenkampf bewirkt, dass auch die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft diesen „vermittelten Widerspruch“ abbildet. Das Kapital als kleine Minderheit der Gesellschaft ist immer darauf angewiesen, dass es die Mittelschichten und oft sogar Teile der Arbeiterklasse für den eigenen Machterhalt einspannt und korrumpiert. Insofern ist die bürgerliche Ideologie auch immer mit vielen Elementen versetzt, die – zumindest scheinbar – auf die Vermittlung, auf die Co-Existenz beider Hauptklassen abzielt, so der Parlamentarismus oder die einseitige, ja falsche Vorstellung des neutralen, über den Klassen stehenden Staates.

Die Bourgeoisie hat im Imperialismus ihre fortschrittliche Funktion, die sie in ihrer Aufstiegsphase tw. noch hatte, verloren. Die Kapitalisten sind weitgehend zu unproduktiven Schmarotzern geworden. Sie haben keine, auch noch so bescheidene Idee mehr, wie wirklicher gesellschaftlicher (!) Fortschritt aussehen könnte, geschweige denn können sie diesen allgemein durchsetzen.

Einen sehr ähnlichen Zustand von Passivität und mangelnder „Kreativität“ zeichnet jedoch auch oft die Arbeiterbewegung aus, weil sie sich meist fest im Griff reformistischer Apparate befindet – ob in Gestalt des Stalinismus oder in Form der Sozialdemokratie. Wie in vorauseilendem Gehorsam denken diese Bürokraten immer mit, dass ihre Gewerkschaft oder Partei nichts tun sollte, was grundlegende Konflikte heraufbeschwört oder gar das System als Ganzes in Frage stellt.

Eine treffende Einschätzung der ideellen Verfasstheit des Kleinbürgertums in Deutschland zwischen 1815 und 1848, einer konservativen Phase, besagt: „Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Zustände, die das Bewußtsein des Verlorenseins und der Verlassenheit hinreichend erklären, lag es insbesondere für das gebildete mittlere Bürgertum nahe, sein Heil in einem ausschweifenden Gefühls- und Leidenskult zu suchen. Der aufklärerische Optimismus, der zunächst allen das Glück verheißen hatte, wich einem tragischen Untergangspathos.“ (Winfried Freund, Die deutsche Ballade, Verlag Schöningh Paderborn, 1978)

Ein Vergleich zur heutigen „Mitte“ und der „Klimabewegung“ drängt sich hier geradezu auf. Natürlich gibt es – als „Kehrseite“ der Untergangsphantasien auch immer wieder eine „soziale Euphorie“, die sich aus bestimmten Entwicklungen der bürgerlichen Gesellschaft speist und Ausdruck eines auch reformerischen Impetus der Mittelschichten ist. So war etwa der Zusammenbruch des Ostblocks nach 1990 für viele Menschen Anlass zur Hoffnung auf friedliche und konfliktärmere Zustände. Diese Illusionen zerbrachen schon sehr bald, etwa in den Balkankriegen Anfang der 1990er. Für ähnliche Illusionen sorgten Anfangs die Schaffung der EU oder die Einführung des Euro. Auch diese Illusionen zerbersten immer mehr angesichts der sozialen Probleme in Südeuropa oder des Brexits.

Es ist interessant festzustellen, dass es in manchen historischen Phasen des (aufkommenden) Kapitalismus einen starken politisch-ideologisch-kulturellen Einfluss der Mittelschicht gab, in anderen jedoch weniger. So wurde etwa das ideologische Klima des Deutschen Reiches ab der Reichsgründung 1871 bis zum Faschismus – also immerhin über ein halbes Jahrhundert – ganz direkt, massiv und gewissermaßen „durchgängig“ von den beiden Hauptklassen bestimmt. Die Bourgeoisie (in Verquickung mit dem Preußentum) prägte und beherrschte es durch ganz offenen Chauvinismus, Nationalismus und Militarismus; die aufstrebende Arbeiterbewegung beeinflusste es durch ihre Ideen von Sozialismus, Gerechtigkeit usw. Die Stärke der beiden Klassen und ihr offensives Agieren ließen fast keine Bühne für einen eigenständigen Auftritt der Mittelschichten und zogen Teile der Mitte jeweils in ihren Bann.

Im Zeitalter des Imperialismus zeichnen sich Bourgeoisie wie „reformiertes“ Proletariat in manchen Phasen aber durch eine ideologische „Passivität“ aus. So ermöglichen sie, dass die Mittelschichten diesen Spielraum für sich nutzen. Weil Kleinbürgertum und Mittelschichten eben zwischen den Hauptklassen stehen, von beiden unter Druck geraten und einerseits vom Wunsch inspiriert sind, nach oben aufzusteigen und andererseits von der Angst geplagt werden, nach unten abzurutschen, nimmt ihre Ideologie meist einen schwankenden, unklaren, aber zugleich oft „aggressiven“ Charakter an.

Obwohl die Mittelschichten historisch gesehen kein entscheidendes soziales Gewicht haben, ist ihr ideologischer Einfluss oft weit größer. Zwischen den Hauptklassen hin und her gestoßen, erinnern sie oft an die Kugel im Flipperautomaten, die zwar nicht die Kraft hat, den Automaten zu zerstören, uns jedoch durch ihre hektischen Zick-Zack-Bewegungen zwischen rechts und links, zwischen oben und unten in ihren Bann zieht.

Marx reloaded

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels einige Merkmale von nicht-proletarischen linken, „sozialistischen“ Strömungen. Es ist geradezu frappierend, wie etliche dieser Züge auch in den heutigen Ideologien, Bewegungen und Organisationen der Mitte anzutreffen sind: „Dieser Sozialismus zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. Er enthüllte die gleisnerischen Beschönigungen der Ökonomen. Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach“. (MEW 4, 484/85)

Doch der Haken an diesem “Sozialismus“, führen Marx und Engels weiter aus, ist der: “Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mußten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte.“ (ebenda)

Es ist, als hätten Marx und Engels die heutige Öko-Bewegung gekannt: „Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philantrophen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden.“ (ebenda S. 488) Dieser „Sozialismus“ „suchte der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden, durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.“ (ebenda S. 489)

„Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaft¬lichen Zustände, wodurch ihnen die be¬stehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird.“ (Marx, Ansprache der Zentrale an den Bund der Kommunisten, 1851)

Von der Bourgeoisie etwas Positives für die Menschheitsentwicklung zu erwarten, ist wie darauf zu hoffen, dass der Folterknecht ständig Rheuma hat, und daher die Drangsal milder ausfällt. Nein, die irrlichternde Attraktivität der Ideologien und Bewegungen „der Mitte“ wird und kann nur dadurch abgelöst werden, dass die Arbeiterbewegung wieder an Attraktivität gewinnt und zum Hegemon der Geschichte wird. Dazu muss sie aber mit allen Auffassungen brechen und alles konsequent kritisieren, was einer revolutionären und kommunistischen Orientierung im Wege steht. Als Katalysator dieser Dynamik müsste die „radikale“ Linke wirken – leider zeigt sie sich dazu in jeder Hinsicht außerstande.

Einige Folgerungen

Wir haben gesehen, dass die Annahme von Marx´ hinsichtlich der historischen Perspektive des Kleinbürgertums nur teilweise eingetroffen ist. Was richtig war an seiner Einschätzung ist der Umstand, dass im Zuge der sozialen Dynamik des Kapitalismus die Mitte der Gesellschaft ständig „durchgeschüttelt“ wird, dass sich Struktur, soziale Lage und Funktion der Mittelklassen in der Gesellschaft ständig verändern. Richtig war auch Marx´ Annahme, dass das Kleinbürgertum schmilzt und zu großen Teilen proletarisiert wird. Marx irrte aber darin bzw. unterschätzte die Bedeutung der Tatsache, dass die lohnabhängigen Mittelschicht insgesamt wächst und ihre Bedeutung für das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft zunimmt.

Aus der besonderen Stellung und Funktion der Mittelschichten in der modernen kapitalistischen Gesellschaft folgt, dass sich MarxistInnen intensiv darüber Gedanken machen müssen, was das hinsichtlich einer revolutionären Programmatik bedeutet. Grundsätzlich können wir sagen, dass – anders als es Marx prognostiziert hatte – die Mittelschichten wie ein großer Block zwischen den antagonistischen Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat stehen (oder schwanken) und damit oft, aber nicht immer direkte Kollisionen zwischen diesen vermeiden bzw. diese ablenken. Ausgehend vom zentralen Ziel jedes revolutionären Programms, eben eine solche Kollision mit dem Ergebnis des Sturzes der Bourgeois-Herrschaft herbeizuführen oder auszunutzen, ergibt sich eine zentrale Frage: Wie kann die Arbeiterbewegung die Mitte (oder einen relevanten Teil von ihr) für das Proletariat und die Revolution gewinnen? Diese Fragen sind nicht neu, sie stellen sich heute nur mit größerer Schärfe.

Den ideologischen und den strukturellen Einfluss der Mittelschichten kann die Arbeiterklasse nur „überwinden“, indem sie sich ihre eigene Anschauung und ihre eigenen Klassenorgane schafft. Der Marxismus als Methode der Weltbetrachtung und als Programm des Sturzes des Kapitalismus ist jene Weltanschauung, die den diversen bürgerlichen Sichtweisen entgegengesetzt werden kann und muss. Das große Problem hierbei ist allerdings, dass der „Marxismus“ selbst einen Degenerationsprozess durchlaufen hat, der dieses wunderbare Werkzeug der Welterkenntnis und Weltveränderung abgestumpft hat, der aus dessen humanistischer Sprengkraft eine Verwaltungsmentalität und eine machiavellistische Doktrin gemacht hat. Der den „Marxismus“ wie ein roter Faden durchziehende „Etatismus“ ist nur ein Beispiel dafür, wie weit sich dieser von den Intentionen von Marx entfernt hat.

Das Proletariat im Imperialismus

Ein anderer Aspekt betrifft die Klassenstruktur des Proletariats. Lenin stellte bei seiner Darstellung des Imperialismus richtig dar, dass dieser zwei besondere Schichten erzeugt hat: die Arbeiteraristokratie und die Arbeiterbürokratie. Erstere gehören als „gehobene“ Schicht zum Proletariat. Diese besteht v.a. aus den FacharbeiterInnen sowie den (unteren) Betriebsräten, den Vertrauensleuten und „einfachen“ GewerkschaftsfunktionärInnen. Letztere, die Arbeiterbürokratie, sind die hauptamtlichen „ArbeiterfunktionärInnen“ (Konzern-Betriebsräte, höhere Gewerkschaftsfunktionäre, Parteikader, Parlamentarier der LINKEN und der SPD und deren Mitarbeiter). Sie zählen nicht zur Arbeiterklasse, sondern zur lohnabhängigen Mittelschicht. Sie sind stark an die Existenz und die Verhandlungsfunktion der (reformistischen) Organisationen der Arbeiterklasse sowie an die bürgerlichen Mechanismen gebunden (Parlamentarismus, „Sozialpartnerschaft“). Rekrutierte sich die Arbeiterbürokratie früher noch aus der Arbeiterklasse, so kommt sie heute immer häufiger als Quereinsteiger aus der lohnabhängigen Mittelschicht.

Eine andere wesentliche Frage ist die der Vorhut der Klasse. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Vorhut direkt von Teilen der Arbeiterklasse gestellt, die sich mit einigen Intellektuellen verbanden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts, v.a. aber nach 1945 änderte sich das zunehmend. Zu Marx´ Zeiten formierte sich die revolutionäre Vorhut aus einer Symbiose von klassenbewussten (männlichen) Arbeitern und Intellektuellen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts waren es neben Intellektuellen überwiegend Angehörige der lohnabhängigen Mitte, kaum noch ArbeiterInnen, die zu revolutionären Führungskadern wurden. V.a. in den hochentwickelten Ländern führte der normale Weg der politischen Sozialisierung über die Uni. Schon während des (oft sozialwissenschaftlichen) Studiums schloss man sich einer linken Gruppe an. Die politische Sozialisierung erfolgte nicht durch den Klassenkampf und innerhalb der Arbeiterbewegung, sondern in einem Kleingruppen-Biotop. Allein daraus ergibt sich ein hohes Level an Ideologisierung (nicht zu verwechseln mit historisch-theoretisch-fachlicher Bildung) und das Eingerichtetsein in einem ideologischen Glashaus und einem dort gepflegten Ismus. Diese besondere Verfasstheit der „radikalen“ Linken hängt auch mit ihrer weitgehenden Isolation von der Arbeiterklasse und tw. der Arbeiterbewegung zusammen.

Es ist augenfällig, dass die „radikalen“ sozialen und politischen Bewegungen und Strukturen der Gegenwart in starkem Maße von Studierenden und der lohnabhängigen Mittelschicht bestimmt werden: die 68er, die Anti-Globalisierungs-Bewegung, die Umweltbewegung inkl. der KlimaaktivistInnen. Das äußert sich in den Organisationsprinzipien (z.B. dem Konsensprinzip statt demokratisch transparenter Mehrheitsentscheidungen) und den Aktionsweisen (mediale Wirkung, autonom-spontane Symbolaktionen wie z.B. im Hambacher Forst). Das zeigt sich aber auch in der politischen Verfasstheit. So fehlt meist eine Orientierung auf die Arbeiterklasse und jeder ernsthafte Versuch, auf die Klasse und deren Strukturen (Gewerkschaften) taktisch einzuwirken. Stattdessen überwiegen die Orientierung auf den bürgerlichen Staat als Exekutor einer grüneren oder sozialeren Politik, auf die „Zivilgesellschaft“ oder gar bestimmte „grüne“ Milieus des Kapitals.

Die äußerst enge Verbindung der lohnabhängigen Mittelschichten zu Bildung und Wissenschaft – sowohl bezüglich ihrer Ausbildung als auch hinsichtlich ihrer Arbeitswelt – bedeutet, dass die Linke und die Arbeiterbewegung besonderes Augenmerk auf diese Bereiche legen müssen, was bis jetzt kaum der Fall ist. Ganz im Gegensatz zu Marx und Engels, die sich sehr intensiv auch mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit auseinandergesetzt haben, ist die Verbindung zwischen (Natur)Wissenschaft und Marxismus inzwischen weitgehend abgerissen, woran u.a. der Stalinismus mitschuldig ist. So kam es, dass verschiedene Entwicklungen in der Wissenschaft ignoriert wurden oder unreflektiert blieben: die moderne Physik, die Psychoanalyse, die Genetik usw. usf. Das Ergebnis ist, dass der Marxismus zu wichtigen Fragen kein Referenzpunkt für Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Mittelschicht mehr ist und bürgerliche Wissenschaft und Ideologie oft unkritisiert bleibt. Der aberwitzige Hype um die angebliche Klimakatastrophe oder die „erneuerbaren“ Energien, der fast von der gesamten Linken unkritisch mitgetragen wird, zeigt das besonders krass. Eine Folge dessen ist, dass die Linke im Fahrwasser der links-kleinbürgerlichen Ideologie treibt, anstatt gegen den Strom zu schwimmen.

Formierung des revolutionären Subjekts

Die Linke und der Marxismus haben die größere Bedeutung der lohnabhängigen Mittelschichten im Imperialismus nur unzureichend verstanden. Daher gebricht es ihnen an einer konkreten Politik, auf diese Mitte einzuwirken und sie auf die Seite des Proletariats zu ziehen. Ohne Erfolge in diesem Bereich ist es aber weitgehend unmöglich, heute eine revolutionäre Vorhut des Proletariats zu formieren. Dieser Mangel wiederum äußert sich auch darin, dass es an einem „Zustrom“ systemkritischer, sozialistisch orientierter Menschen mangelt. Trotzkis Postulat der „historischen Führungskrise des Proletariats“, die das Fehlen einer revolutionären Internationale meint, entpuppt sich insofern auch als Schwäche der Konstituierung der Klasse; es fehlt nicht nur am Angebot, sondern auch an der Nachfrage.

Die nach wie vor stark auf das Industrieproletariat fokussierte Politik der marxistisch-revolutionären Linken ist nicht falsch, geht aber stark von einem Proletariat und einer Klassenstruktur aus, die es so nicht mehr wie im 19./20. Jahrhundert gibt. Zugleich hängt die „marxistische“ Linke stark dem einseitigen, politizistischen Verständnis Lenins von Klassenkampf und Klassenbewusstsein an, welches den Kampf für den Aufbau sozialer Strukturen proletarischer Selbstverwaltung ignoriert. Infolge dessen vernachlässigt es die Linke, alternative Strukturen des sozialen Zusammenlebens, der Kultur, der Freizeit, der Bildung, der Wissenschaft, der Produktion und Distribution zu entwickeln. Nimmt man diese „reformerischen“ Aufgaben aber nicht in Angriff, wird man außerstande sein, ein alternatives Potential zu formieren, ohne das weder eine Revolution geschweige denn eine Entwicklung Richtung Kommunismus gelingen kann.

Die besondere Bedeutung der lohnabhängigen Mitte für den Klassenkampf und die Formierung des Proletariats zur „Klasse für sich“, zum revolutionären Subjekt können wir mit einem System von Hebeln vergleichen: Die kleine Minderheit der revolutionären Vorhut – der erste „Hebel“ – muss sowohl auf die fortgeschrittensten Elemente des Proletariats, zugleich aber auch auf die Mittelschichten einwirken, um einen zweiten, größeren „Hebel“ zu haben, um die Masse des Proletariats in Bewegung setzen zu können. Dieser Prozess drückt sich auch aus im Übergang von der revolutionären Klein(Gruppe) über die Kaderpartei zur Massenpartei und zum Aufbau größerer selbstverwalteter, genossenschaftlicher Strukturen.

Seit Jahrzehnten sind es in starkem Maße Studierende, die als linke AktivistInnen in politischen und sozialen Auseinandersetzungen und in linken Strukturen eine dominante Rolle einnehmen – aufgrund ihrer Jugend, ihrer Ideale, ihrer Bildung, die sie oft die Widersprüche und Probleme des Kapitalismus besonders empfinden lassen. Die Studierenden – als besonderer Teil der Mittelschichten – sind daher von großer Bedeutung für die Formierung der revolutionären Vorhut der Klasse. Da ihr dominanter sozialer Erfahrungsraum aber die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Kultur sind und weniger das betrieblich-proletarische Milieu, ist es von großer Wichtigkeit, dass der Marxismus auf diesen Gebieten besonders aktiv wird – als Kritik und Alternative zum bürgerlichen Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb – sowohl ideell wie strukturell. Gerade hier hat der „Marxismus“ aber große Schwächen – und erweist sich methodisch oft als weit entfernt von Marx.

Ähnlich verhält es sich bezüglich der Arbeiterschaft, v.a. der Arbeiteraristokratie in Gestalt der Facharbeiterschaft, der TechnikerInnen und IngenieurInnen. Die linken Ideologismen – oft völlig konträr zu den Erkenntnissen von (Natur)Wissenschaft und Technik -, sind für dieses Klientel nicht nur oft völlig uninteressant, sondern erscheinen ihnen zu recht als weltfremd und absurd. Als Beispiel sei hier nur auf die Positionen der Linken zu Klima und Energiewende verwiesen. Dort sind materialistische und wissenschaftliche Positionen inzwischen oft eher bei bürgerlich-konservativen, tw. zu unrecht als „rechts“ bezeichnet, beheimatet, nicht bei der Linken.

Der Kampf um die Mittelschichten ist nicht nur nötig, er ist auch möglich, weil auch sie immer wieder in die gefährlichen Strudel der kapitalistischen Gesellschaft gezogen werden, weil auch sie an den Krisen, Kriegen und den Widersprüchen des Kapitalismus leiden und sich der allgemeinen Entfremdung und seinem Irrationalismus nicht entziehen können. An diesen Konflikten kann und muss angeknüpft werden, dazu braucht es fundierte Kritik und das Aufzeigen von Alternativen. Bisher scheiterte die marxistische Linke daran weitgehend – schon allein deshalb, weil sie die besondere Bedeutung und die Situation der lohnabhängigen Mittelschichten in der modernen kapitalistischen Gesellschaft nur unzureichend versteht.

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