ABC des Marxismus XLIV: Die Revolte von Kronstadt

Der Aufstand von Kronstadt im März 1921 ist ein Ereignis, das nicht nur für die Entwicklung Sowjetrusslands wichtig war, sondern bis heute für die politische Positionierung der Linken eine große Rolle spielt.

Anfang 1921 befand sich Sowjetrussland in einer sehr schwierigen Lage. Der Bürgerkrieg war zwar siegreich beendet worden und die Bolschewiki saßen fest im Sattel, doch die Wirtschaft lag am Boden und die Städte hungerten. Das Land blieb isoliert und von Hilfsquellen abgeschnitten, weil die Revolutionen in anderen Ländern gescheitert waren. Allerdings wurden schon ab 1922 mit dem Rapallo-Vertrag die Außenwirtschaftsbeziehungen, v.a. mit Deutschland, wieder aktiviert. Der “Kriegskommunismus“ der Bürgerkriegszeit mit der Beschlagnahme von Getreide, den umfangreichen Einschränkungen der Demokratie und der weitgehenden Auszehrung der Sowjetstrukturen konnte nicht ewig so weitergeführt werden. Nur vor diesem Hintergrund sind die Ereignisse von Kronstadt verständlich.

Kronstadt liegt auf einer Petrograd (St. Petersburg) vorgelagerten kleine Insel mit einer Festung, einer Marinegarnison und Industrie- und Werftanlagen. Die Bevölkerung und die Matrosen Kronstadts waren bereits vor 1917 sehr politisch, den stärksten Einfluss hatten die Bolschewiki und die AnarchistInnen. Die Kronstädter Matrosen gehörten in der Revolution und im Bürgerkrieg zur Vorhut der Revolution. Doch der Aderlass, den der Bürgerkrieg von ihnen forderte, war hoch. Die Garnison verlor viele revolutionäre Kader und wurde, da sie nicht im Kampfgebiet lag, mit weniger zuverlässigen Rekruten ergänzt. Der frühere Anarchist und Schriftsteller Victor Serge konstatierte: Kronstadt war nicht mehr die Heimstatt der politischen Leidenschaften und Ideen von 1917 und 1918. Arbeiter und Matrosen, die treuesten Anhänger, waren verschwunden, über ganz Russland verstreut, im Kampfeinsatz an verantwortlichen Stellen. (…) die, die sich noch in der Festung und bei der Flotte befanden, waren mit wenigen Ausnahmen nicht gerade die Fortschrittlichsten“. Hier wird zwar ein reales Problem angesprochen, jedoch ist die Behauptung, z.B. von Trotzki, dass die Garnison von 1921 nicht mehr dieselbe gewesen wäre wie 1917 und davon, dass die revolutionären Matrosen sich gegen die Revolution gewandt hätten, keine Rede sein könne, stark überzogen. Das Gros der Bevölkerung Kronstadts war in der Stadt geblieben, darunter die Familien der Marineangehörigen und der Werftarbeiter, u.a. weil die Lebensmittelversorgung dort besser war als woanders. Auch die Besatzungen der Kriegsschiffe waren großteils noch die alten. Das konnte auch kaum anders sein, denn Matrosen wie Werftarbeiter sind technische Spezialisten, die nicht einfach ersetzt werden konnten.

Über Monate hatten v.a. die Berichte über das rigide Vorgehen der Bolschewiki gegen die Bauern und die Streikenden in Moskau und Petrograd für Empörung gesorgt. Matrosen, ArbeiterInnen und EinwohnerInnen aus Kronstadt schickten Delegationen aufs Land, die mit den Bauern redeten und ihnen dringend benötigte Dinge brachten, die sie in ihren Werkstätten für die Bauern hergestellt hatten, um sie gegen Lebensmittel zu tauschen. Allen war klar, dass es einen politischen Kurswechsel geben musste. Letztlich erlebte Kronstadt dieselbe politische Radikalisierung wie die Petrograder und Moskauer ArbeiterInnen, die die sozialen und politischen Probleme sahen und auch die zunehmende Bürokratisierung kritisierten.

Am 1. März 1921 wurde in Kronstadt eine öffentliche Versammlung abgehalten, an der 16.000 Matrosen, Soldaten und ArbeiterInnen teilnahmen. Den Vorsitz hatte der Chef des Kronstädter Sowjets, der Bolschewik Wassiliew. Anwesend waren auch der Präsident der Russischen sozialistischen Föderativrepublik Kalinin und der Kommissar der Ostseeflotte Kusmin (beide Bolschewiki), die zu den Versammelten sprachen. Als Zeichen der freundlichen Einstellung zur Regierung war Kalinin bei seiner Ankunft mit allen militärischen Ehren empfangen worden.

Die Resolution der Mannschaften des 1. und 2. Geschwaders der Ostseeflotte vom 1. März 1921 wurde als Programm der KronstädterInnen angenommen. Das Protokoll vermerkt: Nach Anhörung des Berichts der von der allgemeinen Versammlung der Schiffsmannschaften nach Petrograd zur Untersuchung der dortigen Lage geschickten Vertreter wird beschlossen:

  1. Angesichts der Tatsache, dass die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muss.
  2. Rede- und Pressefreiheit einzuführen für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linksstehende sozialistische Gruppen.
  3. Versammlungsfreiheit für Arbeitergesellschaften und Bauernorganisationen zu gewährleisten.
  4. Eine parteilose Konferenz der Arbeiter, Soldaten der Roten Armee und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz für nicht später als den März 1921 einzuberufen.
  5. Alle politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und alle in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen freizulassen.
  6. Eine Kommission zu wählen zur Revision der Fälle der in Gefängnissen und Konzentrationslagern Inhaftierten.
  7. Alle politotdell (Anm.: politische Büros) abzuschaffen, weil keine Partei spezielle Privilegien zur Propagierung ihrer Ideen besitzen oder zu solchen Zwecken finanzielle Regierungshilfe erhalten darf. An deren Stelle sollten erzieherische und kulturelle Kommissionen errichtet werden, lokal gewählt und von der Regierung finanziert.
  8. Sofort alle sagryadltelniye otryadi (Anm.: bewaffnete, von den Bolschewiki organisierte Formationen zur Unterdrückung des privaten Handels und zur Konfiskation von Lebensmitteln.) abzuschaffen.
  9. Die Rationen aller Arbeitenden gleichzumachen, mit Ausnahme der in gesundheitsschädlichen Beschäftigungen tätigen.
  10. Die kommunistischen Kampfabteilungen in allen Zweigen der Armee und die Kommunistischen Wachen, die in Werken und Fabriken Dienst tun. Sollten solche Wachen oder militärische Abteilungen sich als notwendig herausstellen, sind sie in der Armee aus der Mannschaft zu ernennen und in den Fabriken nach der Wahl der Arbeiter.
  11.  Den Bauern volle Aktionsfreiheit in Bezug auf ihr Land zu geben, ebenso das Recht, Vieh zu halten, unter der Bedingung, dass sie mit ihren eigenen Mitteln auskommen, das heißt ohne gedungene Arbeitskräfte zu benutzen.
  12. Alle Zweige der Armee und unsere Kameraden, die militärischen Kursanti, zu ersuchen, unseren Beschlüssen zuzustimmen.
  13. Zu verlangen, dass die Presse unsere Beschlüsse in vollstem Umfang an die Öffentlichkeit bringt.
  14. Eine Reisende Kontrollkommission zu schaffen.
  15. Freie Kustar-Produktion (Anm.: individuelle Kleinproduktion) durch individuelle Arbeit zu ermöglichen.

Resolution einstimmig von der Brigadeversammlung angenommen bei Stimmenthaltung von zwei Personen.“

Es wurde beschlossen, eine Delegation nach Petrograd zu schicken, um den ArbeiterInnen und Soldaten die Forderungen zu erklären und um die Entsendung parteiloser Delegierter durch das Petrograder Proletariat nach Kronstadt zu ersuchen, um diesen die Forderungen bekanntzumachen. Die aus 30 Mitgliedern bestehende Delegation wurde nach ihrer Ankunft in Petrograd sofort von den Bolschewiki verhaftet, ihr Verbleib ist unbekannt, kann aber erahnt werden.

Da die Amtsdauer des Kronstädter Sowjets endete, wurde für den 2. März eine Delegiertenkonferenz zur Vorbereitung von Neuwahlen einberufen. Die Konferenz sollte aus Vertretern der Matrosen, der Garnison, der Sowjetinstitutionen und von Arbeiterkomitees der Fabriken bestehen. An der Konferenz nahmen über 300 Delegierte teil, darunter auch Bolschewiki. Die Konferenz trat für Sowjets ohne Einmischung, d.h. ohne Sonderrechte für eine politische Partei (praktisch betraf das nur die Bolschewiki) ein. Diese Position ist v.a. Ausdruck der Ablehnung des Einflusses der von oben eingesetzten politischen Kommissare, weniger der Ablehnung gegenüber der bolschewistischen Partei insgesamt.

Die Bolschewiken Kusmin und Wassiljew wurden aus der Versammlung vom 2. März entfernt und unter Arrest gestellt, weil sie die Resolution am 1. März abgelehnt hatten. Es ist jedoch auch bezeichnend für die Stimmung der Konferenz, dass der Antrag, alle anwesenden Bolschewiki zu verhaften, mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Die Delegierten meinten, dass die KommunistInnen den VertreterInnen anderer Organisationen gleichgestellt seien und gleiche Rechte beanspruchen könnten. Dieses Verhalten drückt auch die Absicht aus, zu einem Übereinkommen mit der bolschewistischen Regierung zu kommen.

Die zentrale – und berechtigte – Kritik der Bolschewiki richtete sich gegen die von der Opposition in Petrograd und Kronstadt erhobene Forderung nach Sowjets ohne Bolschewiki. Damit waren die  Forderungen nach Demokratisierung nämlich mit dem Makel behaftet, selbst die Demokratie einzuschränken. Das Hinausdrängen der Bolschewiki aus den Sowjets hätte bedeutet, dass die zentrale Kraft zur Verteidigung der Revolution faktisch entmachtet worden wäre. Natürlich war das für die Bolschewiki nicht hinnehmbar oder verhandelbar. Es war aber auch klar – jedenfalls der Opposition -, dass eine Wiederherstellung der Sowjetdemokratie unmöglich wäre, wenn die „Vorrechte der Bolschewiki“, u.a. das Kommissar-Regime und die willkürlichen Verhaftungen, nicht abgeschafft würden. Das Heft des Handelns lag nun bei den Bolschewiki, nicht zuletzt, weil auch die Kronstädter Opposition nicht den Sturz der Regierung anstrebte, sondern einen Dialog mit ihr und eine politische Kurskorrektur.

Die Ziele der Kronstädter kamen auch in einer Radiobotschaft vom 6. März – nach den ersten Repressionen und nach Beginn der Propaganda-Kampagne der Regierung – zum Ausdruck: Unsere Sache ist eine gerechte: wir treten ein für die Macht der Sowjets, nicht die der Parteien. Wir treten ein für freigewählte Vertreter der arbeitenden Massen. Die Ersatzsowjets, die von der Kommunistischen Partei betrieben werden, blieben immer unseren Bedürfnissen und Forderungen gegenüber taub; die einzige Antwort, die wir je erhielten, war schießen Genossen! Man täuscht euch nicht nur, man verdreht mit voller Absicht die Wahrheit und bedient sich der verächtlichsten Ehrabschneidung. (…) In Kronstadt ist die ganze Gewalt ausschließlich in den Händen der revolutionären Matrosen, Soldaten und Arbeiter,nicht in denen der von irgendeinem Koslowsky (Anm.: ein ehem. Zarengeneral in Diensten der Roten Armee) geführten Gegenrevolutionäre, wie das lügnerische Moskauer Radio euch glauben machen will (…) Zögert nicht, Genossen! Schließt euch uns an, tretet in Verbindung mit uns. Verlangt Zulassung nach Kronstadt für eure Delegierten. Nur diese werden euch die ganze Wahrheit sagen und die teuflische Verleumdung über Brot von Finnland und Entente-Angebote bloßstellen. Es lebe das revolutionäre Proletariat und Bauerntum! Es lebe die Macht freigewählter Sowjets!

Gegen die These von der „konterrevolutionären Verschwörung“ steht auch, dass das „Revolutionäre Komitee“ v.a. aus ProletarierInnen und Matrosen bestand, deren revolutionäre Verdienste bekannt waren. Die Kronstädter „Iswestia“ bemerkte zu den Vorwürfen, Kronstadt stehe in Verbindung zu zaristischen Generalen ironisch: Dies sind unsere Generale, meine Herren Trotzki und Sinowjew, während die (…) Berühmtheiten des zaristischen Regimes auf Ihrer Seite sind.

Die Bewertung des „Aufstands von Kronstadt“ durch die Bolschewiki (she. dazu u.a. Trotzkis Schrift „Das Gezeter um Kronstadt“) beinhaltet v.a. folgende Thesen (neben der schon behandelten Behauptung, dass die Garnison eine ganz andere gewesen wäre als 1917): 1. Kronstadt wäre ein Aufstand gewesen; 2. das Programm sei konterrevolutionär; 3. die Führung stünde in Verbindung mit der ausländischen Konterrevolution und wäre von ihr (in Gestalt des ehemaligen zaristischen Generals Koslowsky) infiltriert; 4. wäre es nötig gewesen, den Aufstand schnell niederzuschlagen, weil Kronstadt ansonsten zum Ausgangspunkt einer imperialistischen Aggression geworden wäre.

Alle diese Vorwürfe sind falsch und widersprechen sowohl den historischen Fakten und Zeugnissen als auch der Logik und waren nichts anderes als Vorwände, um die Opposition niederzuschlagen, die Macht der Partei zu sichern und einen Kurswechsel in Richtung Demokratisierung und wirklicher Arbeitermacht zu verhindern.

Kronstadt war zunächst nichts anderes als eine organisierte politische Opposition. Es gab anfangs weder eine Entmachtung der örtlichen militärischen und zivilen Machtorgane noch einen Aufruf zum Aufstand, zum Sturz der Regierung o.ä. Die Absicht der KronstädterInnen – wie auch der Streikenden in Petrograd – war es, eine Korrektur der Politik der Bolschewiki zu erreichen und darüber zu diskutieren. Die offizielle Reaktion der Bolschewiki darauf war – parallel zur brutalen Niederwerfung der Streiks – die Entsendung einer Delegation nach Kronstadt. Diese agierte ausgesprochen dumm und anmaßend – ein unmissverständliches Zeichen für das bereits etablierte neue „Selbstbewusstsein“ der herrschenden Schicht. Die Delegation forderte Kronstadt ultimativ zur Aufgabe auf und goss somit noch Öl ins Feuer. Sinowjew, der Parteichef von Petrograd, der ursprünglich selbst nach Kronstadt fahren sollte, hatte sich davor gedrückt.

Auf diese Episode folgte von Seiten der Bolschewiki eine massive Verleumdungskampagne gegen Kronstadt, deren Delegation wurde verhaftet. Erst danach, als klar war, dass ein Dialog mit der Macht unmöglich und diese eine militärische Konfrontation wollte, wurde aus der Kronstädter Opposition ein Aufstand.

Am 4. März stellten die Bolschewiki ein letztes Ultimatum: „Wenn ihr nicht nachgebt, wird man euch der Reihe nach wie Rebhühner abschießen“, tönte Sinowjew. Am 5. März beauftragte Trotzki, der Führer der Roten Armee, Tuchatschewski damit, den Angriff vorzubereiten.

Auch bei der militärischen Niederschlagung des Aufstands zeigte sich die politische Dimension der Kronstädter Episode. Viele Rotarmisten, die gegen Kronstadt geschickt wurden, liefen über, so dass erst der massive Einsatz von Tscheka-Einheiten hinter den Angreifern, die mit MG-Salven die eigenen Truppen ins Feuer zwangen und jeden, der „schlapp machte“, erschossen, brachte den Umschwung. Nach zehn Tagen erbitterter Kämpfe war Kronstadt besiegt. Die Sieger nahmen blutige Rache an Soldaten und ZivilistInnen. Nach Schätzungen gab es auf Seiten der Aufständischen 3.000 Tote im Kampf oder durch Hinrichtungen. Lt. einem Kommunique der Tscheka vom 1. Mai 1921 wurden 6.528 Aufständische verhaftet, 2.168 hingerichtet und 1.955 zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Familien der Aufständischen wurden nach Sibirien deportiert. 8.000 Matrosen, Soldaten und Zivilisten gelang die Flucht nach Finnland.

Kronstadt wurde zur blutigen Warnung für alle, die eine andere Auffassung als die Bolschewiki davon hatten, wie ein Arbeiterstaat aussehen soll.

Am 3. April nahm Trotzki die Parade zu Ehren der vor Kronstadt gefallenen Soldaten der Roten Armee ab. Dabei sagte er u.a.: „Wir warteten solange wie möglich, damit unsere verblendeten Matrosengenossen mit ihren eigenen Augen sehen konnten, wohin die Revolte sie führte.“ Was Trotzki „warten“ nennt – er wartete gerade einmal vier Tage -, war nichts anderes, als die Kronstädter von Anbeginn an – als es noch kein „Aufstand“ war -, zur Aufgabe zu zwingen und jeden Dialog abzulehnen.

Die Behauptung vom konterrevolutionären Charakter des Programms der Kronstädter ist unhaltbar – abgesehen von der schon erwähnten Forderung nach Sowjets ohne Bolschewiki oder „ohne Parteien. Doch diese Forderung war nur eine unter vielen, auch nicht unbedingt die zentrale und wurde nicht von allen Oppositionellen mitgetragen. Im Grunde forderten die Kronstädter die Wiederherstellung und Reorganisation des politischen und administrativen Systems, das die Revolution getragen hatte und das unter den Bedingungen des Bürgerkriegs stark beschädigt worden war. Im Unterschied zu den offiziellen Statements etwa von Lenin, dessen Einschätzung des maroden Zustands des Sowjetstaates Anfang der 1920er jener der Opposition durchaus ähnlich war, schlug die Opposition jedoch konkrete und durchgreifende Maßnahmen vor, während sich die „offizielle Politik“ meist in Worthülsen erschöpfte, denen aber nichts folgte.

Es stimmt, dass es in Kronstadt auch den ehemaligen Zarengeneral Koslowsky gab. Doch dieser wurde an führender Stelle, als Artilleriekommandeur der Festung, von der Roten Armee selbst eingesetzt und nicht von der Opposition. Eine bemerkbare Rolle in der Kronstädter Bewegung spielte er nicht.

Wie Dokumente belegen, gab es tatsächlich informelle Beziehungen zwischen Kronstadt und der ausländischen Reaktion. Aber es ist nur normal, dass diese immer in den Startlöchern sitzt, um Konflikte und Opposition im Arbeiterstaat für sich auszunutzen. Auch in der Führung der Bolschewiki saßen seit ihrer Konstituierung 1903 immer Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, doch niemand kam je auf die Idee, die Bolschewiki deshalb „konterrevolutionär“ zu nennen. Genauso absurd ist es, von einer Verbindung „der Kronstädter“ zum Imperialismus zu reden, schon gar nicht kann ein einzelner General als Beleg dafür genommen werden. Zudem wurden einzelne Verbindungen zu Exil-Kreisen erst nach der Niederschlagung Kronstadts und etliche Dokumente sogar erst Jahrzehnte später bekannt – Trotzki konnte sie also gar nicht kennen. Seine „Verschwörungstheorie“ damals war reine Propaganda.

Der Angriff auf Kronstadt wurde auch damit begründet, dass es nach der Eisschmelze im März/April schwer möglich wäre, die Seefestung Kronstadt einzunehmen, was zutrifft. Daraus folgerte Trotzki aber, dass Kronstadt dem Imperialismus in die Hände fallen und für diesen als Stützpunkt für eine erneute Invasion genutzt werden könnte.

Zunächst spricht nichts dafür, dass die Kronstädter ihre Festung dem Imperialismus übergeben hätten. Doch selbst wenn, stellt sich die Frage, ob Kronstadt rein militärisch gesehen als Ausgangspunkt einer Invasion geeignet gewesen wäre, und ob der Imperialismus, nachdem er gerade den Bürgerkrieg gegen Sowjetrussland verloren hatte, bereit und in der Lage war, erneut zuzuschlagen – gegen eine der stärksten Militärmächte der Welt. Beides ist mehr als unwahrscheinlich, ja ausgeschlossen. Der Hauptfaktor dabei, Deutschland, war dazu z.B. weder militärisch noch politisch in der Lage.

Die zwei möglichen Varianten der Entwicklung – wenn die Rote Armee Kronstadt nicht besiegt hätte – waren folgende: entweder Kronstadt kämpft gegen den imperialistischen Westen, dann wäre ihm die Rote Armee zu Hilfe gekommen und die Chancen einer imperialistischen Invasion wären auf Null gesunken. Oder die Kronstädter hätten dem Imperialismus die Tore geöffnet, dann hätte sich das ganze Land gegen sie gestellt. Trotzkis These von einer drohenden Aggression ist also mehr als unplausibel. Außerdem eignet sich die kleine Seefestung überhaupt nicht als Aufmarschgebiet einer Interventionsstreitmacht.

Wie lautet das Fazit aus Kronstadt? Ohne zwingenden Grund forcierten die Bolschewiki die Repression und lehnten jeden Dialog ab. Der Eindruck des rein repressiven Vorgehens des Staates gegen die Opposition auf die Massen war fatal und unterminierte ihr ohnehin durch den Terror der Tscheka und den Bürokratismus schon stark angegriffenes Vertrauen in die Lenin-Regierung weiter. Trotzdem gab es neben aller Unzufriedenheit über das herrschende Regime auch immer noch eine starke Verbundenheit mit den Bolschewiki als den Führern und Verteidigern der Revolution und die Hoffnung, dass mit dem Ende des Bürgerkriegs eine Verbesserung der Verhältnisse eintreten würde. Den Massen durchaus klar, dass viele Maßnahmen der Bolschewiki auch durch die außergewöhnlichen und dramatischen Umstände bedingt waren.

Da die selbstständige politische Mitwirkung der Massen bei der Umgestaltung der Gesellschaft vom bolschewistischen Apparat nicht erwünscht war, hing nun umso mehr alles davon ab, welchen Kurs der im März 1921 – parallel zu den Ereignissen in Kronstadt – tagende X. Parteitag der Bolschewiki einschlagen würde. Der Parteitag beschloss – richtigerweise – die „Neue ökonomische Politik“ (NÖP), die eine fast noch weitergehende wirtschaftliche Liberalisierung beschloss, als die Kronstädter gefordert hatten. Zweitens wurde das Fraktionsverbot beschlossen, das sich v.a. gegen die parteiinterne „Arbeiteropposition“ richtete, die ähnlich wie die Kronstädter eine Demokratisierung des Sowjetsystems, v.a. auf betrieblicher Ebene gefordert hatte. Eine wirkliche Reorganisation des Sowjetsystems wurde nicht vorgenommen und der notwendige energische Kampf gegen die sich formierende Bürokratie wurde nicht geführt. Das wäre aber 1921 nicht nur notwendig, sondern auch möglich gewesen, weil die Bolschewiki ihre Macht gesichert hatten und der Bürgerkrieg beendet war. So wurde diese Chance versäumt und der Aufstieg des Stalinismus auf den Trümmern der Arbeiter-Demokratie – wenn auch vielleicht ungewollt – befördert. Insofern war Kronstadt ein Menetekel der fortschreitenden Degeneration der Revolution Richtung Staatskapitalismus.

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