Stalins Terror

Hannah Behrendt

Die rücksichtslose, jede Art von Menschenrecht und Anstand missachtende Anwendung von  administrativer Gewalt und Terror gegen einzelne Menschen wie gegen politische, soziale, nationale oder religiöse Gruppen ist ein so markantes wie abstoßendes Merkmal der Politik Stalins. Eine Liste mit allen von ihm persönlich angeordneten oder von seinem Apparat praktizierten Terrormaßnahmen wäre sehr sehr lang. Hier sollen deshalb nur einige, historisch gut belegte Beispiele aufgeführt werden. Wir werden zeigen, dass der Terror Stalins mit der Entwicklung zum Kommunismus völlig unvereinbar war. Wir zeigen, dass er stattdessen notwendig war, um die Errungenschaften der Oktoberrevolution zu eliminieren und eine staatskapitalistische Ordnung zu errichten.

Der Schachty-Prozess

Der offizielle Auftakt für die Forcierung des Stalinschen Terrors war der Schachty-Prozess von 1928. Er markiert die Beendigung der Leninschen „Neuen ökonomischen Politik“ (NÖP) und war quasi die ideologische Einleitungsmusik zur Hyperindustrialisierung und zur Zwangskollektivierung. Der Schachty-Prozess richtete sich gegen Vertreter der technischen Intelligenz, denen vorgeworfen wurde, die Produktion absichtlich zu boykottieren. Sie waren die ersten Opfer und dienten als Sündenböcke für die Fehler der Wirtschaftspolitik. Sie wurden als angebliche Verschwörer und Auslandsagenten verantwortlich gemacht. Es wurden absurde Vorwürfe konstruiert und alle normalen Regeln der Prozessführung missachtet.

Der Schachty-Prozess war zugleich eine generelle Warnung, jede Kritik an den voluntaristischen Plänen der Parteiführung zu unterlassen, es wurde ein Klima des generellen Misstrauens geschürt.  Die Schachty-Anklagen sollten zeigen, dass die „bürgerliche“ Intelligenz und parteilose Fachleute politisch suspekt sind. So wurde die Kontrolle der Apparate in Staat und Wirtschaft durch die Partei vorangetrieben. Es wurde ein Mechanismus installiert, der es ermöglichte, jederzeit und überall Fachleute durch linientreue, oft aber fachlich ungeeignete Personen zu ersetzen. Ähnlich wie in Hitlers Regime sorgten auch Stalins „Personalrochaden“ für Unterstützung und Loyalität gegenüber dem Führer, weil sie unzähligen Bürokraten soziale Aufstiegschancen boten. War es bis Mitte der 1920er noch eingeschränkt möglich, zu diskutieren und Kritik an der offiziellen Linie zu üben, setzt der Schachty-Prozess hinter diese Phase einen Schlusspunkt. Die Verbannung von Trotzki u.a. Vertretern der Linksopposition ab 1927 und Trotzkis Ausweisung 1929 zeigen, dass der Schachty-Prozess keine einzelne Episode, sondern nur ein Puzzleteil bei der Eliminierung jeder Art von Demokratie war.

Der Schachty-Prozess und die von ihm eingeleitete Politik war eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung des 1. Fünfjahrplans ab 1928, der eine voluntaristische, ins Absurde übersteigerte und oft genug ruinöse Hyperindustrialisierung einleitete und ein wichtiger Schritt zur Enteignung der Produzenten und zur Errichtung einer staatskapitalistischen Ordnung war.

Die Zwangskollektivierung

Eine dramatische Ausweitung des Terrors erfolgte im Rahmen der Zwangskollektivierung ab 1929. Millionen von Mittelbauern – pejorativ Kulacken genannt – wurden enteignet, in die neuen Staatsgüter, die fälschlich Genossenschaften (Kolchosen) genannt wurden, gezwungen oder umgesiedelt, wobei Hunderttausende umkamen. Ergebnis dieser voluntaristischen, den Umständen nicht angepassten und völlig überzogenen Landwirtschaftspolitik war die Vernichtung gigantischer agrarischer Produktivkräfte (Arbeitskräfte, Vieh, Saatgetreide). Nicht nur, aber in starkem Maße sind diese Maßnahmen auch für die Hungersnot (oft „Holodomor“ genannt) Anfang der 1930er Jahre verantwortlich, die Millionen Opfer forderte. Ohne die Androhung und Anwendung von Terror wäre es Stalin nicht gelungen, gegen den passiven und aktiven Widerstand der meisten Bauern seine „Entkulackisierung“ durchzusetzen. Sein Terror richtete sich also nicht nur gegen (vermeintliche) politische Gegner, sondern diente auch direkt der Umsetzung seiner abstrusen wirtschaftspolitischen Gigantomanie.

Die Schauprozesse

Besonders bekannt wurden Stalins große Schauprozesse in den 1930ern, die auch international für Aufsehen und Unverständnis sorgten, weil sie sich gegen fast alle alten Führungskader der Bolschewiki richtete, die fast alle zum Tode verurteilt wurden. Unter fadenscheinigen Anklagen, unter Einsatz von Folter und der Androhung, auch die Familien der Angeklagten zu bestrafen, gestanden fast alle Angeklagten ihre „Schuld“. So ergab sich das absurde Bild, dass alle Mitkämpfer Lenins letztlich Agenten des Imperialismus und Gegner der Sowjetmacht gewesen wären. Das Ziel dieses Vernichtungsfeldzuges gegen den Führungskern der Partei war es, die Position Stalins zu untermauern, jede Kritik und jede Fraktionierung auszuschalten sowie eine andere politische Strategie durchzusetzen, die der Lenins in wesentlichen Fragen entgegengesetzt war. Der Staatsapparat und die Partei, aber auch die Bevölkerung insgesamt wurden in Angst und Schrecken versetzt und zu absoluter Willfährigkeit und striktem Gehorsam gezwungen. Das kritisch-historische Denken und der Meinungsstreit, die bis dahin in der marxistisch-revolutionären Arbeiterbewegung und auch bei den Bolschewiki normal waren, wurden durch die Schauprozesse als verbrecherisch, als abweichlerisch dargestellt und der Partei, dem Land und der Kommunistischen Internationale (Komintern) regelrecht ausgetrieben. Dieser Kadavergehorsam erzeugte auch Kadaver: die Komintern wurde zu einem Leichnam.

Es ist klar, dass die Vernichtung der Diskussionskultur langfristig dazu führen musste und auch dazu geführt hat, dass die Fähigkeit zum systematischen politischen und theoretischen Denken unterminiert wird. Bei Menschen, die aus dem stalinistischen Milieu kommen (aber auch bei anderen Reformisten) ist sehr oft zu beobachten, dass sie völlig außerstande sind, überhaupt zu begreifen, was revolutionäre Politik ist, dass sie deren Grundbegriffe, Kategorien und Taktiken nicht verstehen und sich völlig in den Denkschemata bürgerlicher Vorstellungen (vom Staat, von der Demokratie usw.) bewegen. Auch in dieser Hinsicht hat der Stalinismus seine konterrevolutionäre Arbeit weit besser verrichtet als der Faschismus, denn dieser schlug „nur“ von außen auf die revolutionären Kräfte ein, während der Stalinismus sie von innen zersetzte und zerstörte.

Stalin erzeugte permanent Bedrohungen: durch Agenten, Saboteure oder durch eine drohende Aggression von außen, die ab Mitte der 1920er und in den 1930ern überhaupt nicht möglich waren. So konnte sich nach dem Motto „Haltet den Dieb“ der Staatsapparat, der diese Gefahren selbst an die Wand gemalt hatte, als Retter vor ihnen aufspielen. Das gesamte öffentlich-politische Leben unter Stalin hatte stark psychotische Züge.

Gewalt gegen nationale Gruppen

Ein weiteres Feld des Terrors Stalins war die „Nationalitätenpolitik“. „Unangepasste“ und „aufmüpfige“ Völkerschaften wurden in abgelegene Gebiete umgesiedelt. In den der UdSSR angeschlossenen Gebieten wie Ostpolen 1939 oder den baltischen Staaten ab 1940 wurden 100.000e Menschen, die als potentiell gefährlich eingeschätzt wurden, eingesperrt, umgebracht oder deportiert. Dazu zählten v.a. Intellektuelle, Offiziere, Politiker, Lehrer und Beamte. Ein bekanntes Beispiel für diesen Terror ist die Ermordung tausender polnischer Offiziere in Katyn, die von Stalin den Nazis in die Schuhe geschoben wurde, sich aber schließlich als Opfer der stalinschen politischen Polizei herausstellten. Nichts anderes als ein Verbrechen stellte auch die Vertreibung von Millionen Deutschen aus den östlichen Teilen Deutschlands sowie die zwangsweise Umsiedlung von Millionen Russen und Polen in die nun von den Deutschen verwaisten Gebiete nach 1945 dar. Diese besondere Form ethnischer „Säuberung“ zählt zu den abscheulichsten Untaten Stalins. Bezeichnend ist dabei aber auch, dass die „demokratischen“ Westalliierten die ethnischen Säuberungen und Vertreibungen mittrugen.

Terror gegen Antifaschisten und Opfer des Faschismus

Besonders ekelerregend ist der Umgang des stalinschen Apparats mit Menschen, die gegen den Faschismus gekämpft oder unter ihm gelitten hatten. So wurden viele deutsche Antifaschisten, die vor Hitler in die UdSSR geflohen waren, in Gulags geschickt, wo die meisten umkamen. Einige wurden im Zuge der Abkommen zwischen Hitler-Deutschland und der UdSSR im August 1939 sogar nach Deutschland – und damit in die Hände der Gestapo – zurückgeschickt. Das gleiche Schicksal erwartete viele Angehörige der Roten Armee, die in Spanien gegen Franco gekämpft hatten. Sie wurden als gefährliche Zeugen der Verbrechen und des kompletten Versagens der Stalinschen Spanienpolitik aus dem Verkehr gezogen und in Gulags eingewiesen. Auch Massen von russischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die 1945 befreit wurden, erwartete nach ihrer Rückkehr erneut ein Lager – diesmal in ihrer Heimat.

Terror gegen die Rote Armee

Absolut dramatisch wirkte sich der Terror Stalins gegen die Rote Armee aus. Ende der 1930er wurden tausende Kommandeure abgelöst, in Lager eingewiesen oder umgebracht. Stalin wollte damit sicherstellen, dass die Armee sich nicht gegen ihn wenden könnte, denn gegen eine Revolte der Armee wäre wahrscheinlich auch die Geheimpolizei machtlos gewesen. Diese Enthauptung der Roten Armee schwächte ihre Kampfkraft bedeutend. Das zeigte sich schon 1940 im Krieg gegen Finnland, besonders dramatisch aber 1941 beim Überfall der Wehrmacht. Obwohl die Rote Armee personell der Wehrmacht ebenbürtig und materiell, hinsichtlich der Zahl der Panzer, der Flugzeuge und der Artillerie, sogar deutlich überlegen war und sich auch lange auf eine mögliche Aggression Hitlers hätte vorbereiten können, stand sie Ende 1941 am Rand einer Niederlage. Nur aufgrund dieses Desasters von 1941 zog sich der Krieg bis 1945 hin, nur deshalb forderte er so viele Tote und riesenhafte Zerstörungen v.a. auf Seiten der UdSSR. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Stalins Politik nicht zum Sieg des Sozialismus führte, sondern ihn stattdessen vereitelte, das Land ruinierte und seine Entwicklung um Jahre zurückwarf.

Das Terrorsystem als Wirtschaftsfaktor

Nicht vergessen werden darf, dass der Staatsterror unter Stalin auch dazu diente, einen Wirtschaftssektor zu schaffen, der auf extremer Überausbeutung von Gefangenen in den Gulags beruhte. Die Gulags unterschieden sich hier kaum von den KZs und Arbeitslagern der SS, in denen sich Millionen Häftlinge in der Rüstungsindustrie zu Tode schuften mussten. In der UdSSR waren ab Ende der 1920er bis in die 1950er permanent Hunderttausende, ja Millionen in den Lagern oder auf den „Großbaustellen des Sozialismus“ zur Zwangsarbeit eingesetzt. Stalins – oft unsinnige –  Megaprojekte wurden in der Tat mit dem Schweiß, den Tränen und dem Blut meist unschuldig Inhaftierter aufgebaut. Dabei war der Umgang des Apparats mit den „normalen“ Arbeitern oft nicht viel besser. Ihr Enthusiasmus für den „sozialistischen“ Aufbau, der in Wahrheit nur eine nachholende kapitalistische Entwicklung war, wurde schamlos ausgenutzt. In den 1930ern, also viele Jahre nach Krieg und Bürgerkrieg, gab es kaum ein Land, wo die Arbeiterklasse so unter Repression, Entrechtung und schlechten Bedingungen leben musste wie in „Sowjet“russland.

Parteistaat statt Rätedemokratie

Der Terror Stalins beruhte auf mehreren ideellen und strukturellen Grundlagen. Zunächst gründet er auf der These von der führenden Rolle der Partei, die man nicht kritisieren, geschweige denn sich gegen sie stellen durfte. Die Partei hatte immer recht. Diese Ansicht erklärt zum Teil auch das Verhalten der Angeklagten in den Schauprozessen. Obwohl die extreme Ausprägung dieser Auffassung von der Rolle der Partei auf Stalin zurückgeht, war sie doch schon in der Theorie und der Praxis Lenins teilweise angelegt. Lenin sah immer in der Partei die maßgebliche Struktur – nicht im Rätesystem. Insoweit letzteres ein Faktor war, wurde es der Partei und ihrem Staatsapparat generell – nicht nur in besonders „heiklen“ Situationen wie dem Bürgerkrieg – untergeordnet. Schon in Lenins zentraler Schrift zur Staatsfrage „Staat und Revolution“ werden die Sowjets kaum erwähnt, geschweige denn, dass dort dargestellt worden wäre, welche Funktion Räte in und v.a. nach der Revolution haben sollen.

Mit dieser Parteidoktrin eng verbunden war die Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen, die schon in „Staat und Revolution“ und umso mehr in seiner Regierungspolitik zum Ausdruck kommen. Am deutlichsten zeigte sich dies in der Rolle der politischen Polizei (Tscheka, später GPU, NKWD, KGB). Diese unterstand nur der Parteispitze bzw. sogar Lenin persönlich, der direkte Befehle für bestimmte Maßnahmen, darunter auch präventive Exekutionen von Unschuldigen, gab. Hier war der ungehemmte Zugriff auf jeden tatsächlichen oder vermeintlichen „Gegner“ und die Anwendung von Terror schon strukturell angelegt – Stalin weitete ihn nur gewaltig aus.

Allerdings sind hier auch einige Anmerkungen nötig. 1. richteten sich die Tscheka-Maßnahmen bis Mitte der 1920er meist gegen tatsächliche Gegner, die für Anschläge verantwortlich waren oder im Bürgerkrieg auf Seiten des Gegners standen. 2. wandte sich die Tscheka noch nicht gegen die Opposition in der Partei. 3. existierten noch eine innerparteiliche Demokratie und Diskussionsfreiheit, tw. auch noch außerhalb der Partei. Selbst das – als vorübergehende Maßnahme gedachte – Fraktionsverbot von 1921 änderte daran wenig. Erst Stalin richtete seine Gewaltmaßnahmen auch gegen Parteimitglieder.

Eng mit der „schiefen“ Auffassung der Rolle der Partei verbunden ist Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein. Anders als Marx verstand er dieses a) v.a. als ein nur politisches Bewusstsein. B) entstünde dieses nicht in der Klasse bzw. auch in Organen der Klasse, sondern sollte von außen, durch die Partei, ins Proletariat getragen werden. Damit war die Bevormundung der Klasse schon intendiert. Diese Konzeption verband sich noch mit der gerade in der russischen Linken stark ausgeprägten Auffassung, dass die Linke die Klasse beglückt und befreit, die Klasse wurde eher in der Rolle des Objekts gesehen, weniger als historisches Subjekt. Dabei war es gerade das russische Proletariat, dass schon 1905 und im Februar 1917 die Revolution begonnen hat, ohne dass eine „allwissende“ Partei dort die Führung gehabt oder auch nur die Initiative ergriffen hätte. Erst im Verlauf der Ereignisse wurde sie zu einem realen Faktor. Es war das Proletariat, das von sich aus Sowjets und Betriebskomitees schuf. Die Bolschewiki waren bis April 1917, als Lenin seine „Aprilthesen“ schrieb, nur in Ansätzen fähig, diese Erfahrungen zu verarbeiten und eine brauchbare Konzeption für die Revolution vorzulegen. Lenin und Trotzki kam dabei entscheidende Bedeutung zu. Ohne Lenin hätten sich die Bolschewiki wahrscheinlich mit den Menschewiki wiedervereinigt und es hätte den Oktoberaufstand nicht gegeben.

Es war die revolutionäre Dynamik der Klasse, die auch die Bolschewiki voran trieb. Ohne diese Kraft der Basis wäre Lenin 1917 in der Partei konzeptionell möglicherweise in der Minderheit geblieben. Vor 1917 hatte Trotzki klarer als Lenin verstanden, dass die Revolution in Russland in eine sozialistische übergehen könnte.

Feindbild Bourgeoisie

Eine wichtige ideologische Begründung des Terrors war die These vom Kampf gegen die einheimische und ausländische Bourgeoisie. Natürlich ist der Kampf gegen die Kapitalisten ein zentrales Element der proletarischen Revolution. Doch Marx meinte damit a) die Enteignung der Kapitalisten und b) den Kampf gegen Konterrevolutionäre (im Kommunistischen Manifest „Rebellen“ und „Emigranten“ genannt). Nirgends wurde die offene Repression, die Sippenhaftung oder gar die Ermordung der „Bürgerlichen“ gefordert, wie sie unter Stalin und tw. schon davor erfolgte. Den meisten westlichen Marxisten war klar, dass ein Teil der unteren Bourgeoisie und der bürgerlichen Mitte zum sozialistischen Aufbau herangezogen werden musste und konnte – umso mehr im rückständigen Russland.

Mit der „extremen Auslegung“ der These vom Kampf gegen die Bourgeoisie war auch eine völlig unmarxistische Auffassung des Klassenbegriffs verbunden. Der Begriff „Bourgeoisie“ war nicht mehr eine definierte soziale Kategorie, sondern wurde zum Schimpfwort für alle, die als „Systemfeinde“ galten. Nicht mehr das Eigentum bzw. die soziale Stellung waren maßgebend, sondern das „vermeintliche“ Bewusstsein oder die Herkunft der Familie. Die ungenaue These vom „Bourgeois“ diente als Vorwand für Terror gegen Jedermann und führte in der Praxis dazu, dass sich bürgerliche Spezialisten permanent als Feinde bedroht sahen (und es auch waren). So wurde es auch wesentlich erschwert, sie für die neue Ordnung zu gewinnen und produktiv zu machen. Das Vorgehen der Anarchisten u.a. Linker in den republikanischen Gebieten Spaniens ab 1936 zeigt hingegen, dass es sehr wohl möglich war, bürgerliche Schichten einzubinden, oft selbst nachdem man diese zuvor enteignet hatte.

Zerschlagung der Rätedemokratie

Eine wesentlich Grundlage des Terrors war die völlige Gleichschaltung der Medien und der Öffentlichkeit und deren Unterordnung unter den Parteiapparat. Genauso wichtig war die Eliminierung jeder Demokratie wie der Organisations- und Versammlungsfreiheit und freier Wahlen. Letztere gab es unter Stalin auch in der Partei und in den formell noch bestehenden Sowjets nicht mehr. Funktionäre wurden weitestgehend von oben ausgewählt oder direkt eingesetzt.

Dieses System konnte auch deshalb so schnell durchgesetzt werden, weil die bürgerliche Demokratie vor 1917 so unterentwickelt war. Mit der Revolution begann (!) die Arbeiterklasse erst, ihre eigenen Macht- und Verwaltungsorgane aufzubauen (Betriebskomitees, Sowjets, Milizen, Wohngebietskomitees usw.). Durch den Bürgerkrieg, durch Hunger und Wirtschaftskrise kollabierten diese gerade erst etablierten Strukturen aber sehr schnell. Überall wurden sie durch einen extrem zentralisierten, bürokratischen und oft ineffektiven neuen Partei-Staatsapparat ersetzt bzw. entmachtet. Diese Entwicklung war von den Bolschewiki und Lenin, die sehr stark auf Zentralisierung von oben setzten, aber durchaus beabsichtigt. Zugleich war sie der objektiven Not geschuldet. Doch diese Politik wurde selbst 1921, nach dem Sieg im Bürgerkrieg, nicht geändert, es gab wirtschaftliche Reformen, die NÖP, aber keine in der politisch-staatlichen Struktur. Während der 1920er Jahre wurden die Reste des Sowjetsystems, d.h. der Machtstrukturen des Proletariats, nach und nach vollständig durch eine Bürokratie ersetzt, die schließlich ab den 1930ern eine neue herrschende Klasse darstellte.

Das proletarische Subjekt

Hintergrund all dieser Entwicklungen war die zahlenmäßige Schwäche und soziale Unreife des russischen Proletariats. Durch Bürgerkrieg, Hunger und Wirtschaftskrise war es in jeder Hinsicht geschwächt, demoralisiert und atomisiert. Der verbleibende revolutionäre Kern wurde vom schnell ein enormes Ausmaß annehmenden Partei- und Staatsapparat sowie der Roten Armee absorbiert. Die Ineffizienz dieses bürokratischen Riesenapparates wurde von Lenin immer wieder in schärfsten Worten kritisiert. Doch gerade er selbst hatte ihn aufgebaut und geglaubt, dass die revolutionären Arbeiterkader in der Lage wären, einen funktionierenden proletarischen Apparat zu schaffen. Er irrte sich. Nicht der Proletarier prägte den Apparat, sondern v.a. der Apparat den (ehemaligen) Proletarier. Die Umstände prägten auch hier die Menschen – eine für Materialisten nicht überraschende Feststellung. Schon in „Staat und Revolution“ wurde deutlich, dass Lenins Auffassung von der bürgerlichen Demokratie sehr einseitig war. Zudem hatte er die Illusion, dass die Arbeiterklasse sich bereits im Kapitalismus die wesentlichen Fähigkeiten zur Verwaltung der Gesellschaft aneignen könne. Doch das ist nur – und auch nur eingeschränkt – in selbstverwalteten und genossenschaftlichen Strukturen des Proletariats möglich. Die gab es in Russland aber nicht.

Selbstverwaltung

In Russland existierte 1917 zwar noch ein großer Sektor von gemeinschaftlich durch die Dorfbewohner genutztem Land (das Mir), doch er war über Jahrzehnte bereits zugunsten der selbstständigen Mittelbauern zurückgegangen. Die Kapitalisierung der Landwirtschaft war bereits deutlich stärker ausgeprägt als zu Zeiten von Marx, der noch die Möglichkeit einkalkuliert hatte, dass die Dorfgemeinschaft zu einem Faktor der sozialistischen Umgestaltung werden könnte. Praktisch fand ein solcher Prozess aber kaum statt, allerdings orientierte die Agrarpolitik der Bolschewiki auch nicht darauf, sondern favorisierte Genossenschaften – jedoch auf freiwilliger Basis und nicht wie unter Stalin durch Zwang. Die Bauern wurden von den Bolschewiki generell als „unsichere Kantonisten“ angesehen. Zwar strebte man ein Bündnis mit der Dorfarmut an, aber der Mittelbauer, der das wirtschaftliche und soziale Zentrum des Dorfes war, wurde immer als Gegner behandelt – und so verhielt er sich dann auch. Die Agrarpolitik der Anarchisten in Spanien zeigt hingegen, dass man auch anders – und deutlich erfolgreicher – agieren konnte, indem man die Mittelbauern einband, sie aber nicht zwang, in eine Genossenschaft einzutreten, oder sie daran hinderte, ihre Produkte auf dem Markt anzubieten. Allerdings waren diese „Freiheiten“ in ein demokratisch bestimmtes Wirtschaftssystem eingebunden. Während in Sowjetrussland die Agarproduktion sank, stieg sie im Spanien der anarchistischen Kollektive an.

Im Unterschied zu Westeuropa, wo es ein größeres Genossenschaftswesen gab, war es in Russland sehr unterentwickelt. In der Programmatik der Bolschewiki spielte es (mit Ausnahme der dörflichen Genossenschaften) keine Rolle. Wo es Ansätze dazu gab, wurden sie a) entweder von oben geschaffen, b) von Basisinitiativen gegründet, aber dann in den Staat von oben „integriert“ oder c) überhaupt durch staatliche Strukturen abgelöst. Ein Beispiel dafür sind die „Wohngebietskomitees“, die eine basisdemokratische und effiziente Verwaltung der Wohnungen installierten. Sie wurden von den Bolschewiki durch staatlich-bürokratische Strukturen ersetzt, die sehr ineffizient arbeiteten. Auch insgesamt war die bolschewistische Wohnungspolitik von Anfang an chaotisch, in sich widersprüchlich und außerstande, wirkliche Fortschritte zu bewirken und effizient zu funktionieren. (she. dazu: https://aufruhrgebiet.de/2016/06/ein-dreiviertel-jahrhundert-fuer-vier-quadratmeter/)

Die Ignorierung der Selbstverwaltung und des Genossenschaftswesens (außer in der Landwirtschaft) durch die Bolschewiki bedeutete praktisch, dass die Industriebetriebe und soziale Einrichtungen aller Art nicht unter der direkten Kontrolle der Massen standen, sondern unter Kontrolle einer abgehobenen Bürokratie. Ein damit verbundener ökonomischer Negativ-Effekt war, dass eine große und teure Bürokratie nötig war, um die gesamte Gesellschaft zu managen. Während Marx und Engels vom Absterben des Staates, also eines „hauptamtlichen Staatsapparats“, sprachen – was die Bolschewiki und Lenin allgemein durchaus anerkannten -, schufen sie ihn neu und weiteten ihn praktisch gewaltig aus.

Gerade das russische Proletariat, dem viele kulturelle und soziale Qualitäten, die die Arbeiterklassen im Westen besaßen, fehlten, hätte den Selbstverwaltungssektor als Areal des Lernens, des Ausprobierens gebraucht. Diese Möglichkeit, die Verwaltung der Gesellschaft per learning by doing  zu meistern, wurde ihnen von oben verwehrt.

Terror als notwendiges Element des Staatskapitalismus

Das Gesellschaftsmodell, das Lenin für die Übergangsphase, die Diktatur des Proletariats,  vorschwebte (insoweit man bei ihm hier von einem „theoretischen System“ sprechen kann), bestand wesentlich darin, dass die Partei als Vorhut einen „proletarischen“ Staatsapparat dominiert, der – mit breiter Unterstützung der Massen – die Gesellschaft lenkt: eine Art gutgemeinter Paternalismus.

Stalins Modell – durchaus im Anschluss an Lenin – bestand darin, dass die Partei, die letztlich ein Instrument seiner Einzelherrschaft wurde, mit dem Staatsapparat verschmilzt und die Gesellschaft extrem zentralistisch organisiert. Da es aber Stalin wie seinem Politbüro und der Bürokratie insgesamt an der dafür notwendigen Analysefähigkeit, an Sachkenntnis und Kreativität fehlte, entwickelten sich ständig gewaltige Widersprüche und Probleme, die dann oft dadurch „gelöst“ wurden, mittels Terror bestimmte Maßnahmen und Kurskorrekturen durchzusetzen.

Einem anderen Modell folgte z.B. der Aufbau der Roten Armee unter Trotzki. Hier wurde auf die alten Militärexperten zurückgegriffen, denen man Politkommissare zur Seite stellte, um sicherzustellen, dass die Armee im Sinne des Arbeiterstaates handelte. Ohne diese Einbindung „bürgerlicher“ Elemente hätten die Bolschewiki den Bürgerkrieg vielleicht verloren.

Eine zentral von oben geführte Staatswirtschaft erfordert eine einheitlich handelnde Bürokratie. Einzelinteressen bestimmter ihrer Teile dürfen nicht offen aufbrechen oder gar zur Fraktionierung der Bürokratie führen. Eine solche würde nicht nur die Entwicklung negativ beeinflussen; sie könnte auch zum Desaster der Staatsplanung, zur Spaltung der Partei und zum Bürgerkrieg führen. Stalin war sich dieser Gefahren bewusst. Der Terror war deshalb in seinem System auch durchaus notwendig und rational. Er führte dazu, dass jeder Anflug von Kritik, von Alternative, von Fraktionierung im Keim erstickt wurde und ein allgemeiner Kadavergehorsam gegenüber dem Führer erzwungen und schließlich auch als Glaube an den Führer massenhaft verinnerlicht wurde.

Insoweit damit Erfolge oder zumindest scheinbare Erfolge – die nachholende Entwicklung – erzielt wurden, konnte sich der Stalinsche Terror sogar als notwendig darstellen. Doch als die Phase der ursprünglichen Akkumulation vorbei war – aber erst nach Stalins Tod (1953) etwa seit Ende der 1960er -, und stärker qualitative Elemente (Rationalisierung, Automatisierung, Digitalisierung) und damit verbunden qualifizierte, kreative Arbeit wichtiger wurden, zeigte sich immer deutlicher, dass der von einer Bürokratie beherrschte Staatskapitalismus zu ineffizient war, um im Systemwettkampf mit dem privatkapitalistischen Westen mithalten zu können.

Während im westlichen System die Konkurrenz und das private Gewinnstreben die Stachel der Entwicklung darstellen, sind diese im Staatskapitalismus weitgehend ausgeschaltet. An deren Stelle würde der Sozialismus das Bestreben der Menschen (und deren Strukturen wie Räte, Selbstverwaltung usw.) setzen, um ihr Leben immer weiter zu verbessern. Da aber dieses Bedürfnis sich im Stalinismus nicht frei entfalten konnte, weil die Produzenten und Konsumenten sich nicht ihre eigenen Strukturen schaffen konnten, mit denen sie die Produktionsmittel und die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt hätten bestimmen können, fielen diese „sozialistischen“ Antriebe der Entwicklung weitgehend weg. Während im „normalen“ Kapitalismus die Bürokratie nur ein ausführendes Organ des Kapitals ist, hat sich im Ostblock die Bürokratie selbst die komplette Macht angeeignet.

Trotzki bezeichnete die stalinsche Bürokratie als „Auswuchs“, als „Krebsgeschwür am Leib des Arbeiterstaates“ und daher nicht als Klasse, sondern nur als Kaste, weil sie keine notwendige Funktion in einer nachkapitalistischen Ökonomie hätte. Doch hier irrte Trotzki. Für die spezifische Produktionsweise des Staatskapitalismus – und nur für sie – war die Bürokratie als herrschende (!) Klasse sehr wohl notwendig, ja unverzichtbar. Wie die westliche Bourgeoisie etablierte auch die stalinistische Bürokratie spezifische Mechanismen für die Reproduktion ihrer Klasse, z.T. dieselben, z.T. andere als im Westen.

Für die westliche Bourgeoisie ist es nicht nur möglich, sondern meist sogar vorteilhaft, dass es eine gewisse demokratische Vielfalt gibt. Für den Stalinismus hingegen war das eine tödliche Gefahr. Auch wenn nach Stalins Tod der offene staatspolizeiliche Terror nachließ, änderte sich kaum etwas am Einparteiensystem (auch der „demokratische Block“ war de facto ein solches), an der führenden Rolle der Partei und am Zugriff der Bürokratie auf die Gesellschaft. Daher ist es legitim, den Ostblock, aber auch China oder Kuba, auch nach Stalins Tod als stalinistisch zu bezeichnen. Die Bourgeoisie braucht – außer in besonders tiefen Krisen, im Krieg oder angesichts einer revolutionären Bedrohung – keine solche Zentralisierung und allgemeine staatliche Regulation. Die Wirtschaft wird hier wesentlich vom Markt gesteuert. Im Staatskapitalismus ist der Marktmechanismus deutlich schwächer ausgeprägt (jedoch nicht verschwunden), daher ist hier die zentrale Wirtschaftssteuerung unverzichtbar.

Die Bourgeoisie herrscht durch ihren Staat, ihre Ideologie(n), durch das System der Lohnarbeit. Ihre verschiedenen Fraktionen stehen in Konkurrenz, kooperieren aber auch miteinander. Staat und Politik dienen dazu, diese Kräfte – und auch verschiedene Klasseninteressen – auszubalancieren. Der Stalinismus kann sich diese „Gewaltenteilung“, dieses Spektrum an Kräften, Ideologien, Medien, Parteien usw. nicht erlauben.

Vergleiche

Der Terror des (deutschen) Faschismus, dessen Staatsstruktur und Herrschaftsmethoden denen Stalins sehr ähnlich waren (worauf Trotzki sehr richtig hinwies), unterschied sich in bestimmten Aspekten aber auch. Gestapo, SA und SS ging es (vom Antisemitismus hier einmal abgesehen) darum, politische Gegner zu bekämpfen. Es gab gegenüber der „normalen“ deutschen Bevölkerung zwar Indoktrinierung und Einschüchterung, aber kaum offenen Terror gegen Jedermann. Fast nie – abgesehen von den rassistisch Diskriminierten – „konstruierte“ man Feinde. Ganz anders unter Stalin. Ihm ging es geradezu darum, ständig Feinde zu schaffen und zu bekämpfen. Die Verhöre von „Volksverrätern“ dienten nicht wie bei der Gestapo dazu, Mitwisser und Unterstützter aufzuspüren. Da die meisten Angeklagten in Stalins Schauprozessen unschuldig waren, ging es gar nicht darum, deren Schuld nachzuweisen oder Hintermänner zu finden; es ging darum, die Verurteilung einigermaßen plausibel zu machen, zu zeigen, was Jedem drohte, wenn er Zweifel oder Kritik äußern sollte, was ihm blühte, wenn er es unterließ, andere zu denunzieren.

Hitlers Staats- und Gewaltapparat rekrutierte sich weitgehend aus und auf der Grundlage des tradierten imperialistischen deutschen Staatsapparats, der für die aggressiven Zwecke des Faschismus nur modifiziert und indoktriniert werden musste. Anders bei Stalin. Er konnte den zaristischen Apparat nicht übernehmen, weil dieser in der Revolution zerschlagen und in Anfängen (!) durch ein Rätesystem ersetzt worden war. Die durch die objektiven Umstände, aber auch durch die falsche Politik der Bolschewiki bedingte Ersetzung des Rätesystems durch einen neuen, wiederum separaten bürokratischen Partei-Staatsapparat schuf die objektive Grundlage für den Stalinismus. Es ist kein Zufall, dass es Brüche, ja scharfe Gegensätze zwischen Bolschewismus und Stalinismus in der Innen-, besonders aber in der Außenpolitik gab. Es gab jedoch kaum Brüche in der Staatsstruktur – seiner Form nach. Die wesentlichen Vorstellungen, wie die Gesellschaft organisiert sein soll (Staatseigentum, führende Rolle der Partei, Unterschätzung der Selbstverwaltung), waren bei Lenin und Stalin ähnlich. Allerdings muss man Lenin zugute halten, dass er dieses Modell – wie er selbst oft betonte diesen „Staatskapitalismus unter Arbeiterkontrolle“ -, als eines für die Übergangsphase ansah und nicht wie Stalin als „Sozialismus“. Lenin (und die Partei zu seiner Zeit) war wesentlich besser als später Stalin in der Lage, die Lage realistisch einzuschätzen und vernünftige Lösungen bzw. Kompromisse anzubahnen. Die Rapallo-Verträge und die NÖP sind Beispiele dafür. Stalin hingegen war zwar ein gewiefter Apparatschik, es fehlten ihm als „Staatsmann“ allerdings Sachverstand, ein weiter geistiger Horizont und auch Anstand, um andere Meinungen anerkennen und verstehen zu wollen. In gewisser Weise verkörperte Stalin die Defizite der russischen revolutionären Bewegung und des Proletariats besonders krass. Diese kamen auch deshalb so stark zur Geltung, weil die Kommunistische Internationale in den 1920ern zunehmend zum Anhängsel der KP der UdSSR wurde, deren Politik oft unkritisch bejubelte, ihre Konzepte sklavisch übernahm und letztlich zum Austragungsort der fraktionellen Kämpfe in der UdSSR wurde – anstatt als Korrektiv zu wirken.

Auch die Politik Maos wies viele Merkmale jener Stalins auf. Doch Mao mobilisierte mitunter die Massen, um seine Ziele umzusetzen und widerstrebende Fraktionen der Bürokratie zu bekämpfen. Das hat Stalin nie getan, er bemühte immer seinen polizeilichen Terrorapparat – gegen die Opposition, gegen die Bevölkerung, gegen den Apparat. Ein Grund dafür war, dass es – anders als in China – in Sowjetrussland anfangs Ansätze eines Rätesystems der Arbeiterklasse gab, die von der Bürokratie erst ausgemerzt werden mussten.

In den nach 1945 neu entstandenen stalinistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa spielte der offene Terror eine geringere Rolle als in Stalins UdSSR. Das lag daran, dass Stalin anfangs ein Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie suchte (die „antifaschistisch-demokratische Ordnung“) und es erst Ende der 1940er einen gefestigten „eigenen“ Staatsapparat in diesen Ländern gab. Bei der Installierung dieses Staatsapparats und der Durchsetzung des Staatskapitalismus wurde jedoch mitunter auch auf terroristische Methoden zurückgegriffen. So etwa bei der Bekämpfung der (allerdings eher schwachen) links-oppositionellen Kräfte, bei der „Zwangsvereinigung“ von Arbeiterparteien (SED, PVAP u.a.) oder bei der Ausschaltung bürgerlicher Kräfte in Staat und Politik. Auch nach Stalins Tod 1953 gab es im Zusammenhang mit Kurs- und Führungswechseln immer wieder Säuberungen, die aber meist nur noch zur Absetzung von Spitzenfunktionären führten, nicht zu deren Eliminierung. Doch auch ohne offenen Terror blieben alle anderen Mechanismen der Machtpolitik der Bürokratie in Kraft.

Die Rolle des Individuums

Es wäre falsch zu glauben, dass die Degeneration der Russischen Revolution in den 1920ern wesentlich auf die Person Stalins zurückzuführen sei. Wir haben gezeigt, dass die Prozesse und Strukturen, auf denen Stalin aufbaute und die er fortführte, auch objektiv bedingt waren. Hätte die Revolution auch woanders gesiegt, v.a. in Deutschland, wäre die soziale und politische Entwicklung in Sowjetrussland anders verlaufen. Auch deshalb legten Lenin, Trotzki und die Bolschewiki so viel Wert auf den weltrevolutionären Prozess, der die Russische Revolution unterstützen, ja deren Sieg überhaupt sicherstellen sollte. Stalin hingegen gab diese Perspektive nach dem Ende der revolutionären Phase 1923 auf – zugunsten der Sicherung des Aufbaus in der UdSSR und eines strategischen Kompromisses mit dem Imperialismus in Gestalt der Volksfrontpolitik.

Unter Historikern, die – von einigen unbelehrbaren Stalinisten abgesehen – fast alle Stalins Terror ablehnen, gibt es verschiedene Erklärungen dafür, warum der Terror so eskalieren und so spezifische Formen annehmen konnte. Eine bezieht sich auf den besonderen Charakter Stalins, sein generelles Misstrauen, seinen Verfolgungswahn und seinen begrenzten geistigen Horizont. Sicher, spielen solche persönlichen Eigenschaften eines Partei- und Staatschefs eine Rolle. Doch weit bedeutender ist, dass Stalin – Trotzki nannte ihn die „bedeutendste Mittelmäßigkeit der Partei“ – als Person genau dem entsprach, was die Bürokratie als Führer brauchte: rücksichtsloses Durchgreifen gegen Kritiker der Bürokratie, Beendigung jeder Diskussion und Zurechtstutzen jeder Theorie und Debatte zur Installation eines ideologischen Dogmas, das „marxistisch verpackt“ ist, jedoch im Kern der Macht der Bürokratie und dem Aufbau des Staatskapitalismus dient. Stalin bildete sozusagen das bürokratische Zentrum. Seine Politik ist ein einziger Zickzack: einerseits übernahm er auf seine Weise bestimmte Konzepte der Linken Opposition, andererseits rottete er sie aus. Einerseits sorgte er für die Industrialisierung, andererseits untergrub er alles, was für den Aufbau des Sozialismus und die internationale Revolution notwendig ist.

Eine andere, sehr verbreitete These ist, dass der Stalinismus unvermeidbar und schon in der Revolution selbst angelegt war. Diese Grundthese existiert in zahllosen Varianten. Wir können hier nur auf einige Aspekte und die Methodologie eingehen.

Die Anwendung von administrativer Gewalt (auch jede Gesetzgebung ist eine solche) gerade in einer Revolution und im Bürgerkrieg ist unvermeidbar. Die Revolution bringt zudem nicht die Gewalt in die Geschichte, sondern richtet sich zunächst einmal gegen die schon vorhandene Gewalt des alten Regimes. Doch die revolutionäre Gewalt unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Funktion und ihrer Mittel von der alten Gewalt; diese ist die Gewalt der Mehrheit gegen eine Minderheit, jene die einer Minderheit von Ausbeutern und Unterdrückern gegen die Mehrheit. Historiker, die von einem „Kontinuum der Gewalt“ schon seit 1917 sprechen, „übersehen“, dass die revolutionäre Gewalt letztlich dazu diente, Ausbeutung und Unterdrückung zu überwinden und dem Land einen Entwicklungsschub zu geben. Stalins Terror oder die Gewaltexzesse der Nazis hatten in keiner Hinsicht eine solche fortschrittliche Funktion. Auch Stalins Industrialisierung, die oft als Rechtfertigung des Terrors angeführt wird, hatte nicht nur positive Seiten, sondern war auch mit der Vernichtung und Vergeudung unerhörter produktiver Potentiale verbunden. V.a. unterminierte sie strukturell alles, was für den Aufbau des Sozialismus und nicht nur für eine nachholende Entwicklung notwendig war – eine freie, kreative Atmosphäre und die freie Entfaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Bauernschaft und der Intelligenz, ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten. Das Proletariat, ja die gesamte Gesellschaft war in ein Prokrustesbett eingezwängt.

Es ist richtig, dass es die Anwendung von Gewalt – auch in unbegründeter, exzessiver Form – auch schon unter Lenin gab. Dabei wird aber oft verschwiegen, dass es dazu nur kam, weil die „Demokratien“ des Westens eine militärische Intervention gegen die Bolschewiki durchführten bzw. die innere Opposition unterstützten und sich damit „völkerrechtswidrig“ in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischten. Dieselbe reaktionäre Funktion erfüllten die westlichen sozialdemokratischen Führungen wie die SPD um Ebert, Noske und Co., die die soziale Revolution abwürgten, anstatt den Klassenbrüdern in Russland zu helfen. Es ist einfach nur widerwärtig, wenn heute solche „Demokraten“ und „Humanisten“ gegen die russischen Revolutionäre geifern. Ohne den Bürgerkrieg hätte es das russische Proletariat unendlich leichter gehabt, das Land umzugestalten; es hätte auf die Anwendung von Terror weitgehend verzichten und den Aufstieg der Bürokratie verhindern können.

Geschichtsbild

Viele Historiker verweisen auf eine Kontinuität bzw. die Gleichheit des Terrors unter Lenin und  unter Stalin. Dabei werden aber wesentliche Unterschiede ausgeblendet. 1. zielte Lenins Politik auf den Aufbau des Sozialismus und die internationale Ausweitung der Revolution, während Stalin bewusst eine staatskapitalistische Gesellschaft etablierte und die Ausnutzung revolutionärer Möglichkeiten blockierte (z.B. in Spanien). 2. sah Lenin den Unterschied zwischen der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) und dem „eigentlichen“ Sozialismus/Kommunismus, während Stalin diese Phasen verwischte. 3. vertrat Lenin die Marxsche These vom Absterben des Staates, obwohl er dieses eher als Folge der Entwicklung ansah, nicht oder zu wenig aber auch als deren Grundlage, als permanenten Prozess. Stalin hingegen stellte die unmarxistische These von der Zunahme des Klassenkampfes im Sozialismus auf. 4. verstand Lenin die Anwendung von Gewalt und die Einschränkung von Demokratie als vorübergehende, außerordentliche Maßnahmen, die einer konkreten Klassenkampfsituation geschuldet sind, wohingegen Stalin sie verabsolutierte.

Hinter der Gleichsetzung von Lenin und Stalin verbirgt sich die Behauptung, dass die Russische Revolution und die Politik der Bolschewiki nur zum Stalinschen Terrorregime hätten führen können. Der Kampf verschiedener politischer und sozialer Kräfte wird damit in seiner Bedeutung herabgesetzt. Es ist aber kein Zufall, dass das Regime von Stalin damit begann, die Leninsche „Alte Grade“ und die Linke Opposition zu eliminieren und jede innerparteiliche Demokratie auszumerzen. Auch das Steckenbleiben der Weltrevolution für einige Jahre, was für die Etablierung des Stalinismus wichtig war, wird als Faktor ignoriert. Diese objektivistische Geschichtsbetrachtung unterstellt „lineare“ Entwicklungen, anstatt die Geschichte als historischen Prozess von widerstreitenden politischen und sozialen Faktoren anzusehen. Stattdessen werden die Bedeutung von Ideen und von Personen und deren individuelle Besonderheiten überbetont. Man sieht nur die Figuren, aber nicht das Spielfeld und die Spielregeln.

Schlussfolgerungen

Welche Lehren können aus den bitteren Erfahrungen des Stalinismus gezogen werden?

  • Die rätedemokratische und genossenschaftliche Selbstorganisation des Proletariats und der Massen auf politischem und sozialem (!) Gebiet ist die Basis für den erfolgreichen Klassenkampf wie für den Aufbau des Sozialismus; sie darf und kann nicht durch einen Partei-Staat unterdrückt oder ersetzt werden.
  • Sind Einschränkungen der Demokratie und die Anwendung von Gewalt aufgrund objektiver Bedingungen (Krieg, Bürgerkrieg, Konterrevolution) erforderlich, müssen sie als Notmaßnahmen und nicht als Normalität angesehen werden und möglichst bald minimiert oder beendet werden.
  • Das Absterben des Staates bzw. seine Ersetzung durch Rätedemokratie und Selbstverwaltung ist ein permanenter Prozess, der sich nicht automatisch vollzieht, sondern bewusst gestaltet werden muss.
  • Es muss ein permanenter Kampf gegen Tendenzen der Bürokratisierung, d.h. der „Fremdbestimmung“ und Unterordnung des Proletariats geführt werden.
  • Sicherheitsdienste, Polizei, Milizen usw. müssen der Kontrolle der Räte unterliegen.
  • Die revolutionäre Partei ist nur ein Faktor im revolutionären Prozess, sie darf keine grundsätzliche „Kommandofunktion“ erhalten. Mit der Sicherung der Macht der Klasse (nicht der Partei) tritt ein Paradigmenwechsel ein: die Dominanz der Partei als der politischen Führung in der Revolution wird von der „Dominanz“ des Rätesystems, in dem die Partei nur ein Faktor ist, abgelöst.
  • Grundlage des „gesunden“ Arbeiterstaates sind Rätedemokratie, Selbstverwaltung und genossenschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln – nicht die „staatsrechtliche“ Vorherrschaft der Partei und das Staatseigentum. Eine weitere Grundbedingung ist das Vorantreiben der internationalen Revolution.
  • Der Stalinismus ist ab den 1930ern ein staatskapitalistisches System, dessen Staatspolitik wesentliche Elemente des westlichen Faschismus aufweist. Er ist Ergebnis einer politischen und sozialen (!) Konterrevolution. Er tendiert dazu, sich wieder in einen „normalen“ Privatkapitalismus zu verwandeln, wenn er nicht durch eine soziale Revolution des Proletariats gestützt wird.

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