Hanns Graaf
Deutschland scheint ein Land der Proteste zu werden. Hunderttausende waren gegen die Corona-Lockdowns auf der Straße, Fridays for Future oder „Ende Gelände“ mobilisieren tausende Jugendliche gegen die vermeintlich (!) drohende Klimakatastrophe, die Bewegung „Deutsche Wohnen und Co. enteignen!“ verkörperte sogar die Meinung der Mehrheit der Berliner Bevölkerung, Zehntausende protestierende Bauern legten mit ihren Traktoren den Verkehr lahm, in vielen Städten gibt es Montagsdemos gegen die Ampel. Dazu kommen viele massive Streiks der Gewerkschaften gegen die Folgen der Inflation. Meist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung gibt es seit Jahren auch viele Proteste gegen die Energiewende, v.a. gegen den Bau von Windrädern, hinter denen viele hunderte Basisinitiativen stehen. Angesichts dieser Massenproteste erweisen sich die Aktionen der Klimakleber als reiner politischer Mummenschanz.
Die Jahrzehnte weitgehender Friedhofsruhe in Deutschland sind offenbar vorbei. Noch nie seit 1945 hatte eine Bundesregierung so wenig Rückhalt in der Bevölkerung und ist für Viele ein Haßobjekt. Das hat sich die Ampel durch ihre dummdreiste, das Land in jeder Hinsicht schädigende Politik redlich verdient. Die Welle von Protesten und Streiks sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es derzeit in bestimmten Fragen auch sehr wenig Protest gibt: so etwa gegen die Rüstungs- und Kriegspolitik der Ampel, gegen die sich verschlechternde Wohnsituation oder auch gegen die Inflation, wogegen nur die Gewerkschaften aktiv waren. Wie erklärt sich dieser offenkundige Widerspruch?
Herrschaftstechnik
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es den Herrschenden – d.h. Politik, Medien, Kultur, Wissenschaft, „Zivilgesellschaft“ – seit der Jahrhundertwende gelungen ist, die Bevölkerung sehr stark zu indoktrinieren. Das zeigt sich z.B. in der Coronafrage, in der Klima- und Energiepolitik, beim Genderismus und in der Unterstützung des Ukrainekriegs. Die durch ein moralisierendes Werte-Tralala verbrämte imperialistische Weltpolitik unter Führung der USA erscheint so sehr vielen Menschen als demokratisch und humanistisch. Der SPD-“Verteidigungs“minister Pistorius und sogar die FDP-Kriegstreiberin und Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann belegen vordere Plätze in den Beliebtheitsumfragen. Noch deutlicher wird die starke Dominanz bürgerlicher Ideologie und bürgerlich-kommerzieller Interessen in der Klimafrage. Die Verteuerung und schleichende Zerstörung einer sicheren und billigen Energieversorgung für den angeblichen „Schutz des Klimas“ wird von Millionen als notwendiges Übel hingenommen, ja tw. sogar als noch zu inkonsequent kritisiert. Diese Indoktrination basiert auch auf der fortschreitenden naturwissenschaftlichen Inkompetenz durch schlechte Bildung, durch die „Unterhaltungs“medien und die stärkere Zurichtung von Unis und der Wissenschaft durch Politik, Staat und kommerzielle Interessengruppen.
Krise der Linken
Ein anderer, vielleicht der wichtigste Grund für die ideologische Domestizierung der Gesellschaft ist die Krise der Linken und der Arbeiterbewegung. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus war vielen Linken eine – vermeintliche – Alternative zum Kapitalismus abhanden gekommen. Die Folge war, dass sie sich verstärkt dem links-bürgerlich „grünen“ Reformismus angepasst haben. Ihr ohnehin durch den Reformismus unterminierter Bezug zur Arbeiterklasse und zum Klassenkampf erodierte nun völlig und machte einer „zivilgesellschaftlichen“ Orientierung Platz, die letztlich nichts anderes ist, als auf den Staat und die bürgerliche Demokratie zu vertrauen. Jede grundlegende, revolutionäre Alternative zum Kapitalismus wurde zugunsten bloßer Reformiererei aufgegeben. Die Wandlung der SED über die PDS in die LINKE ist ein markantes Beispiel dafür. Auch die sozialen Protestbewegungen der letzten Jahre waren im Kern links-bürgerliche „bunte“ Bewegungen, die nicht mehr wie früher von Linken initiiert und auf die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften gestützt waren, sondern auf die Mittelschichten, v.a. auf die lohnabhängige Mittelschicht, deren politischer Ausdruck die Grünen, die Anti-AKW-Bewegung oder Fridays for Future sind.
Wenn Sahra Wagenknecht betont, dass die Ampel die wesentliche Ursache dafür ist, dass die AfD so viel Zulauf hat, so hat sie damit recht. Doch sie “vergisst“, dass die reformistische LINKE, in der sie selbst über drei Jahrzehnte führend aktiv war, dabei versagt hat, Widerstand aufzubauen und sich in der Arbeiterklasse zu verankern. Im Gegenteil: die proletarischen Mitglieder und Wähler hat sie fast alle verloren. Viele Projekte der Herrschenden (Coronahysterie, Klima, Energiewende, Gendern usw.) hat die LINKE mitgetragen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen, die an sich nicht rechts und schon gar nicht rechtsradikal sind, sich der AfD zuwenden, anstatt der LINKEN. Die AfD ist die einzige Partei, die wirklich „radikal“ und oppositionell auftritt – oppositionell gegen eine bestimmte bürgerliche Politik, nicht etwa gegen den Kapitalismus an sich. Gerade deshalb, weil sie eben nicht nur mit Fakes und Verschwörerthesen hausieren geht und keineswegs nur populistisch agiert, konnte sie Millionen für sich gewinnen und nicht nur rechts eingestellte Menschen, die es natürlich auch gibt.
Kampagne
Aktuell erleben wir mit den Anti-Rechts-Kundgebungen die wahrscheinlich größte Demonstrationswelle der letzten Jahrzehnte in Deutschland, die tatsächlich Millionen auf die Straße bringt. Dass diese Bewegung aber gerade in einem Moment erfolgt, da massive Streiks und die Proteste der Bauern das Land erschüttern und die Regierung unter Druck setzen, ist alles andere als Zufall. Die Herrschenden – die Ampel-Regierung wie die Unions-Opposition – brauchten ein Ventil, brauchten eine Ablenkung. Da ist ihnen momentan gelungen. So ist es kein Zufall, dass v.a. die Ampel-Parteien und ihnen nahestehende Strukturen zu diesen Aktionen mobilisieren.
Schon der Anlass der Kampagne, die CORRECTIV-“Recherche“ – zeigt die Verlogenheit des Vorgehens. CORRECTIV selbst ist nur eine Karikatur auf seriösen Journalismus. Das Projekt wird von der Regierung und „Thinktanks“ der Bourgeoisie finanziert und agiert in deren Sinn. Das von CORRECTIV „aufgedeckte“ Treffen von rechten Politikern in Potsdam fand bereits im November statt. Man wartete aber erst viele Wochen ab, bis der geeignete Moment für die Veröffentlichung des „Skandals“ gekommen war. Über den Inhalt des Treffens weiß man nichts Genaues, weil man gar nicht dabei war. Die Diskussion einiger Rechter (am zahlreichsten vertreten waren CDU-Mitglieder) über die Migrationsfrage wurde zu einer Bedrohung der Demokratie aufgebauscht und als quasi rechte Generalstabsplanung dargestellt.
Dass Leute wie der Identitäre Martin Sellner oder AfD-Mitglieder nationalistische, Ausländer-feindliche oder rassistische Positionen vertreten, ist weder neu noch überraschend und somit auch kein Anlass für eine plötzliche Skandalisierung, wie sie CORRECTIV betreibt. Auch der Begriff der „Remigration“ ist – verbunden mit verschiedenen inhaltlichen Betonungen – seit Jahren Teil des rechten Diskurses. Was CORRECTIV und die ihm brav folgenden Mainstream-Medien nun konstruieren, ist die These, dass die AfD eine Politik verfolgen würde, die auf die massenhafte Abschiebung von 15-25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die komplette Schließung der Grenzen und die Ablehnung jeglicher Migration hinauslaufen würde. Das ist falsch und demagogisch. Auch hier zeigt sich wieder, dass gerade Jene, die sich am lautesten über Fakenews und Populismus erregen, selbst die übelsten Wahrheitsverdreher und Populisten sind.
Seit Jahren versuchen Politik und Großmedien mit Erfolg, jede Kritik, jeden alternativen Denkansatz, jede Abweichung vom verordneten Mainstream als rechtes Geschwurbel hinzustellen. Neben der unbestreitbaren Wirksamkeit dieser Kampagne wirkt sie aber auch zunehmend als Bumerang, weil immer mehr Menschen die Manipulation durchschauen, ihr Restvertrauen in Staat, Politik und Medien verlieren und sich aktiv zur Wehr setzen.
Die AfD wendet sich v.a. gegen die massenhafte Zuwanderung, wie sie seit 2015 stattfindet. Dabei bedient sie sich auch nationalistischer und rassistischer Ressentiments. Doch die Gesamtpolitik der AfD, wie sie in vielen Statements und auch im Programm der AfD zum Ausdruck kommt, hat mit der oben erwähnten millionenfachen „Remigration“ wenig zu tun. Wer glaubt ernsthaft, dass die AfD, wenn sie einmal (mit)regieren würde, 20-25% der Bevölkerung abschieben wollte oder gar könnte?! Die völlig einseitige, übertriebene und letztlich falsche Meinungsmache von CORRECTIV und der hinter ihm stehenden Kreise ist völlig untauglich im Kampf gegen die AfD und ist deren Anhängern nur eine erneute Bestätigung dafür, dass die „Staatsmedien“ lügen und betrügen.
Ideologie und soziale Basis
Die Anti-Rechts-Demonstrationen sind derart zahlreich, dass sie alle Klassen und Schichten umfassen. Besonders stark sind – soweit man das einschätzen kann – allerdings die lohnabhängigen Mittelschichten (nicht zu verwechseln mit dem Kleinbürgertum als kleinen Produktionsmittelbesitzern) vertreten. Die Bewegung zeigt, dass es immer noch eine große Mehrheit der Bevölkerung gibt, die Faschismus, rechte Gewalt, extremen Nationalismus und Autoritarismus ablehnen. Und das ist gut so!
In den Reden, den Aufrufen und angesichts der mobilisierenden Organisationen wird aber auch deutlich, dass diese Haltung oft mit einem klaren Bekenntnis zur kapitalistischen Ordnung und der aktuellen Politik der Ampel wie auch der Unions-Opposition einhergeht. Ein Ja zur „Freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ ist eben auch ein Ja zum rechtlichen Rahmen des Kapitalismus. Ein Ja zur CORRECTIV-Kampagne bedeutet auch Zustimmung zum medialen Agieren der Herrschenden. Die Beteiligung an der Kampagne bedeutet für Viele, wenn auch nicht für Alle, eine Unterstützung der offiziellen Politik: der Klima- und Energiepolitik, der Ukrainepolitik, der Aufrüstung usw. Völlig ignoriert wird auch, dass gerade der Staat, auf den man als antifaschistische setzt, nie effektiv gegen Rechts vorgegangen ist und vorgehen wollte.
Dass das so ist, kann nicht verwundern, wenn man sich anschaut, wer zu den Demonstrationen mobilisiert: die SPD, die Grünen, tw. die Unionsparteien, die Kirchen, die Antifa und viele „zivilgesellschaftliche“ Strukturen. Sie alle unterstützen die herrschende Politik, sie alle haben sich nicht gegen die Kriegs- und Rüstungspolitik der Ampel gewendet oder die ruinöse „Klimapolitik“ kritisiert. So ist es auch kein Zufall, dass Gewerkschafter und Vorstandsvorsitzende von Großunternehmen auf einer Kundgebung vereint sind. Diese klassenübergreifende Volksfrontpolitik ist nicht neu. Immer wieder – meist in sozialen Krisen, wenn die Unzufriedenheit zunimmt – wird das Miteinander von Herrschenden und Beherrschten, von Ausbeutern und Lohnabhängigen gegen die „rechte Gefahr“ zelebriert. Dabei wird nicht nur ausgeblendet, wer die soziale Unzufriedenheit verschuldet, sondern auch, wer sich stets mit Rechten und Faschisten zusammentut, wenn es hart auf hart kommt. Bei aller Berechtigung von „Nie wieder Faschismus!“ wird diese Lehre aus der Geschichte vergessen. Erinnern wir uns: auch große Teile der Linken und der Demokraten unterstützen die These von der „Kollektivschuld DER Deutschen“ an Krieg und Faschismus, die nichts anderes bedeutet, als den faschistischen Teil der bürgerlichen Politik und die Bourgeoisie historisch zu entschulden.
Die Rechten, v.a. die AfD werden zur Bedrohung „der Demokratie“ und „unserer Errungenschaften“ stilisiert. Zweifellos sind die Rechten eine Bedrohung, sie geben – wenn auch nicht in jeder Frage – falsche, reaktionäre Antworten auf die Krise. So wird meist übersehen, dass die AfD einen klar neoliberalen Kurs verfolgt. Die Debatte über das „Rechtssein“, über das „Faschistische“ der AfD trägt so dazu bei, die Hauptfragen, um die es geht, zu verdrängen. So wird die AfD von all diesen „Demokraten“ auch nicht etwa dafür kritisiert, dass sie für die Nato eintritt und den Aufrüstungspaketen zugestimmt hat.
Nein, die Hauptgefahr für das Land geht nicht von der AfD aus, sondern von der Regierung. Sie führt Deutschland in den Krieg, sie rüstet auf, sie unterminiert das Energiesystem und treibt damit die Inflation noch höher. Die Ampel ruiniert dieses Land: die Wirtschaft, die sozialen Systeme und die internationalen Beziehungen. Auch die Demokratie wird gerade durch die Ampel und ihre zunehmenden Einschränkungen demokratischer Rechte – natürlich unter dem Slogan der „Rettung der Demokratie“ – immer weiter ausgehöhlt.
Die AfD hingegen regiert nirgends. Selbst dort, wo sie wirklich stark ist – im Osten -, wird sie kaum an die Regierung kommen, weil (Stand heute) keine Partei mit ihr koalieren will. Und selbst wenn sie (mit)regieren sollte: in vielen wichtigen Fragen vertritt sie dieselbe neoliberale Politik wie andere auch. Zudem würde auch die AfD, würde sie regieren, viele ihrer derzeitigen Positionen über Bord werfen und sich den Realitäten – sprich den Verwertungsinteressen des Kapitals – anpassen.
Immer wieder wird der historische Vergleich mit dem Faschismus bemüht. Doch auch hier ist eine Gleichsetzung von AfD und NSDAP irreführend. Die NSDAP nutzte, um das Kleinbürgertum und deklassierte Proletarier zu gewinnen, pseudo-antikapitalistische Formeln und verfügte mit der SA über eine militante Massenbewegung, um die Linke und die Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Von diesen Merkmalen des wirklichen Faschismus sieht man bei der AfD nichts. Faschismus ist eben nicht einfach – wie uns die offiziellen Ideologen Glauben machen wollen – eine rechtere Politik, sondern eine spezifische bürgerliche Politik, die in einer Situation der tiefen sozialen Krise mit Mitteln der Gewalt und der Massenmobilisierung, v.a. gestützt auf die Mittelschichten, das kapitalistische System vor der drohenden Revolution rettet. Die AfD-Politik ist rechter als die anderer Parteien, bewegt sich aber im Rahmen der Demokratie und will und kann diese nicht ignorieren oder gar zerstören. Hinter der AfD steht aktuell v.a. das Kleinbürgertum, aber keine Fraktion des Großkapitals.
Was tun?
Das alles heißt freilich nicht, dass die AfD nur eine „normale“ bürgerliche Partei wäre und so behandelt werden müsste. Sie hat enge Verbindungen zum Milieu der extremen Rechten und auch einen Teil faschistisch orientierter Mitglieder. Deshalb könnte sie ein Faktor für die Entstehung einer wirklichen faschistischen Kraft werden. Der Kampf gegen die AfD ist daher von besonderer Wichtigkeit. Er kann aber nicht Seit an Seit mit jenen Kräften geführt werden, die mit ihrer Politik selbst die Menschen den rechten Demagogen in die Arme treiben.
1933 sollte uns eine doppelte Lehre sein: 1. ist ein Bündnis mit der bürgerlichen „Mitte“ kein Schutzwall gegen den Faschismus; 2. kann der Faschismus nur verhindert werden, wenn die Arbeiterklasse eine antifaschistische Einheitsfront bildet und nicht wie damals SPD und KPD diese mit ihren falschen Konzepten verunmöglichen. Daraus leitet sich auch die Hauptaufgabe ab, um die es heute geht: wir brauchen eine neue antikapitalistische Massenpartei! Diese kann aber nicht einfach aus dem Boden gestapft werden, sie kann nur Ergebnis eines längeren Erneuerungsprozesses der Linken und der Arbeiterbewegung sein. Dazu müssen alle Ansätze und Umbrüche wie z.B. derzeit die Wagenknecht-Partei ausgenutzt werden. Das bedeutet Kampf gegen den Reformismus von Wagenknecht und Co. wie Kampf gegen das Sektierertum der „radikalen Linken“. Nur durch die Anwendung verschiedener Taktiken – Einheitsfrontpolitik, klassenkämpferische Kampagnen (gegen Rüstung, gegen die Ukrainepolitik, gegen die Inflation, gegen die Wohnungsmisere usw.), Entrismus, Formierung oppositioneller Strukturen – kann nach und nach ein Potential aufgebaut werden, das organisatorisch und programmatisch fähig ist, den historischen Niedergang der Linken zu stoppen und umzukehren. Nur eine solche Kraft ist auch in der Lage, den Faschismus zu stoppen und den Menschen eine Alternative zu den rechten Rattenfängern zu bieten.